Schweitzer Fachinformationen
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TAG 2
Donnerstag, 24. November
Kalle wollte morgens immer O'boy trinken. Annika war davon nicht besonders begeistert, denn der Kakao jagte seinen Blutzuckerspiegel in die Höhe, so dass der Junge erst völlig aufgedreht und dann gereizt war. Sie hatten einen Kompromiss geschlossen: Er bekam O'boy, wenn er dazu Rühreier mit Speck aß, also Fett und Proteine mit niedrigem glykämischem Index. Mit Ellen brauchte Annika keine Frühstücksverhandlungen zu führen, sie liebte den sahnigen griechischen Joghurt mit Himbeeren und Walnüssen.
»Können wir am Sonntag zum Hockey gehen?«, fragte Kalle. »Es ist Derby: Djurgården gegen AIK.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Annika. »Diese Derbymatches sind immer so brutal. Die Fans von Black Army werfen Kracher aufs Eis, und die Iron Stoves reagieren mit Bengalischem Feuer. Nein danke.«
Ellen machte große Augen und hielt auf halbem Weg zum Mund mit dem Joghurtlöffel inne.
»Warum tun die das denn?«
»Die sind eben Fans«, sagte Kalle. »Sie lieben ihre Mannschaft.«
Annika sah Kalle warnend an.
»Liebe?«, sagte sie. »Zeigt man die Liebe zu einer Mannschaft, indem man die Spieler mit Feuerwerkskörpern bewirft?«
Kalle zuckte mit den Schultern.
»Mir tun die Fans leid«, sagte Annika. »Was für ein langweiliges Leben die haben müssen. Stell dir vor, sie haben nichts anderes gefunden, wofür sie sich begeistern können, nicht in der Schule oder bei der Arbeit, können sich nicht für einen anderen Menschen oder eine politische Vereinigung begeistern. Stattdessen lieben sie Hockey. Das ist doch tragisch.«
Kalle verschlang den letzten Rest Rührei und leerte seinen Becher mit O'boy.
»Ich bin jedenfalls Djurgården-Fan«, sagte er.
»Und ich halte zu Hälleforsnäs«, erwiderte Annika.
»Ich auch«, sagte Ellen.
Sie hatten den ganzen Morgen noch nicht nach ihrem Papa gefragt. Sie fand es nicht nötig, ihn jetzt zu erwähnen - was sollte sie auch sagen? Die Kinder putzten sich die Zähne und zogen sich an, ohne dass Annika sie daran erinnern musste.
Ausnahmsweise machten sie sich rechtzeitig auf den Weg.
Es war wieder milder geworden. Die Wolkendecke war dick und farblos. Es roch nach Feuchtigkeit und Abgasen. Der Schnee auf den Straßen sah aus wie Braunkohle.
Die American International Primary School of Stockholm lag auf dem Weg zur Zeitung, gleich hinter dem Kungsholmer Gymnasium. Sie begleitete die beiden bis zum schmiedeeisernen Zaun an der Straße, umarmte Ellen hastig und sah die Kinder durch die massive Eichentür verschwinden. Sie blieb stehen und spürte, wie Jungen und Mädchen und Mütter und Väter in einem beständigen, mächtigen Strom an ihr vorüber durch das Tor rauschten. Sicher gab es auch hier und da eine harte Hand und ein gereiztes Wort, vor allem aber gab es Liebe, Toleranz und Geduld, Stolz und unendliches Wohlwollen. Sie blieb, bis der Fluss versiegte und ihre Zehen kalt wurden.
Es war eine gute Schule, auch wenn ein Großteil des Unterrichts auf Englisch abgehalten wurde.
Es war wahrlich nicht ihre Idee gewesen, die beiden auf diese Schule zu schicken. Als sie alle nach Hause zurückkamen, hatte Thomas darauf bestanden, dass die Kinder weiterhin auf Englisch unterrichtet wurden. Etwas, woran sie ausgemachte Zweifel hatte. Die Kinder waren Schweden, und sie würden in Schweden leben, warum sollte man die Sache so verkomplizieren? Sie konnte seine Stimme über den Bürgersteig hallen hören:
»Wieso denn verkomplizieren? Sie lernen ja im Muttersprachenunterricht Schwedisch. Was ist das für eine tolle Gelegenheit, zweisprachig aufzuwachsen! Ermögliche ihnen doch, sich den Vorsprung zu erhalten, den sie sich verschafft haben.«
Sie hatte nachgegeben, allerdings nicht wegen der phantastischen Internationalisierung der Kinder (ehrlich gesagt, war ihr das völlig egal), sondern wegen ihrer Erfahrungen mit den gewöhnlichen, städtischen Otto-Normalverbraucher-Schulen. Kalle hatte vor allem ziemlich unter den verzogenen kleinen Monstern von Klassenkameraden gelitten, die ihren unbändigen Geltungsdrang gerne auf Kosten von anderen auslebten, am liebsten von jemandem wie Kalle, der sich nicht in den Vordergrund drängte.
Der Gedanke traf sie wie ein Schlag auf den Kopf: Was sollte sie tun, wenn Thomas nicht zurückkam?
Sie musste sich an einer Hauswand abstützen und sich darauf konzentrieren, regelmäßig zu atmen.
Sollte sie die Kinder weiter auf diese Schule schicken, wie Thomas es wollte, oder sollte sie eine andere Entscheidung treffen? Sollte sie sein Andenken ehren und die Jugend der Kinder von seinem Entschluss prägen lassen? Es läge in ihrer Verantwortung. Sie wäre die einzige Erziehungsberechtigte. Hier ging es um ihr Leben und das der Kinder .
Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand und schloss die Augen.
Als sie die Eingangshalle der Zeitung betrat, wusste sie nicht, wie sie dorthin gekommen war. Rechts von ihr schaukelte der Empfangstresen wie ein Schiff im Nebel, auf wundersame Weise gelang es ihr, von irgendwo den Hausausweis hervorzuholen, und sie segelte auf einer Sturzwelle vorüber.
Berit war noch nicht eingetroffen.
Die Redaktion war noch da, eine Tatsache, die Annika mit einer Art beruhigender Sanftmut erfüllte. Es roch nach Papierstaub, Verlängerungskabeln und angebranntem Kaffee.
Sie packte ihren Laptop aus, loggte sich ins Netzwerk ein, öffnete Facebook und landete mitten in Eva-Britts Hymne über »Warten auf Godot«. Sie hörte die Telefonate der Kollegen, Nachrichtenjingles und das Rauschen der Lüftung. Sie schob den Rechner zur Seite und nahm sich die aktuelle Papierausgabe der Zeitung vom Nachbartisch.
ANGEGRIFFEN - HARRIET VON DER EIGENEN HAND BEDROHT
Das Foto einer fetten Frau in einem Krankenhausbett, die sich im Gesicht kratzte und offenbar vor Schmerzen schrie, dominierte die Titelseite. Es hieß, sie leide am Alien Hand Syndrome.
Fast war es tröstlich. Ihr Mann war zwar im nordöstlichen Kenia verschwunden, aber sie wurde wenigstens nicht von der eigenen rechten Hand angegriffen. Junge Mütter wurden zwar ermordet - aber sie hatte wenigstens einen Job.
Gehorsam blätterten ihre Hände schnell den Nachrichtenteil durch.
Nicht eine Zeile über die ermordete Mutter in der Nähe der Kita in Axelsberg.
Sie ließ die Zeitung ins Altpapier segeln, ging hinüber zu den Auflageanalysten und borgte sich deren Exemplar der Morgenzeitung (okay, sie klaute es). Im Stockholm-Teil unter der Rubrik »Kurz und knapp« fand sie eine Notiz über eine Leiche, die in einem Waldstück in Hägersten gefunden worden war. Kein Verbrechen, keine Kita, kein Mensch. Eine Leiche. Gefunden. In einem Waldstück.
Die Morgenzeitung erlitt dasselbe Schicksal wie das Abendblatt, dann zog Annika ihren Rechner wieder zu sich heran und ging auf Blogsuche.
Von Zurückhaltung, ethischem Anspruch oder möglicherweise nur vom Desinteresse, das die etablierten Medien der ermordeten jungen Frau entgegenbrachten, war im Netz nichts zu spüren. Die Spekulationen darüber, was der toten Frau hinter der Kita widerfahren sein könnte, füllten mehrere Seiten. Die meisten Theorien wurden wie unumstößliche Fakten dargestellt. Selbstverständlich wurde der Frau - streckenweise in richtig herzergreifendem Stil - auch ein Name zugeschrieben, und nicht nur einer. Sie hatte vier verschiedene Identitäten.
Entweder war es Karin, Linnea, Simone oder Hannelore, die zu Tode gekommen war, man hatte die Wahl. Die meisten Opfer hatten entweder zu viele oder gar keine Kinder, aber ein Blogger, »Das schöne Leben in Mälarhöjden«, beklagte in einem durchgängig mit Schreibfehlern gespickten Beitrag das Schicksal des kleinen Wilhelm. Ungefähr in derselben Tonlage, die Anne Snapphane gestern angeschlagen hatte, als es um die bevorstehende Vaterlosigkeit von Annikas Kindern ging.
»Linnea Sendman war immer so nett, obwohl man ihr angesehen hat, das die Scheidung sie zimmlich mittgenommen hat.«
Das könnte etwas sein, wenn sie überhaupt Sendman hieß. Gut möglich, dass auch der Name falsch geschrieben war.
Annika suchte weiter nach Linnea Sendman, fand Facebook- und LinkedIn-Seiten, Ergebnisse vom Schwimmverein Järfella Nationella und die Gymnasiumsanwärter dieses Herbstes und - Bingo!
Sie beugte sich näher an den Bildschirm heran. Ein Beitrag von Viveca Hernandez, die ihr Blog wahrhaftig auf Blogspot.abendblatt.se, also einem Server der Zeitung, führte.
»Als Linnea Evert bei der Polizei anzeigte, haben sie die Sache sehr ernst genommen. Er waren so viele Vergehen über einen sehr langen Zeitraum, dass sie ihn wegen Frauenfriedensbruchs anklagen wollten. Haben sie aber nicht. Evert machte weiter wie bisher, rief rund um die Uhr bei Linnea an, trat die Tür ein und brüllte rum, dass es nur so durchs Treppenhaus schallte. Nach einer Woche hat Linnea dann beim Staatsanwalt angerufen und gefragt, warum sie ihn nicht einbuchteten, sie habe ihn doch angezeigt, und da sagte der Staatsanwalt, dass alle Vergehen verjährt seien. Häusliche Gewalt und Nötigung und sexuelle Misshandlung, wie von ihr angezeigt, hätten eine Verjährungsfrist von zwei...
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