Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Gletscher erhebt sich wie der Rücken eines weißen Bären. Ein Pfad schlängelt sich den Moränenhang hinauf und endet am Rand des Eises. Ich befestige die Steigeisen am Gürtel und betaste den Gletscher. Der Schnee, der in der Nacht gefallen ist, haftet am Eis, man könnte gut darauf gehen. Eine Weile bleibe ich auf der Stelle stehen und lasse die Kälte über mich hinwegströmen, sie steigt von den Füßen her auf und läuft in Schauern am Rückgrat entlang nach oben. Das Klima der Gletscher kann man fast nicht beschreiben, es ist eine sture, von der übrigen Welt losgelöste Kälte, die man erst versteht, wenn man selbst mittendrin ist.
Aus der Ferne betrachtet sieht der Gletscher blütenweiß aus, aber wenn man ihn erklettert, bemerkt man die Kohle und den Ruß auf seiner Oberfläche, all das Schwarze und Schmutzige, und die Illusion wird gebrochen. Außer Kohle und Ruß lagern sich Regenwasser und unterkühltes Wasser, Schneeregen, Hagel und Schnee ab. Der Gletscher kennt sie alle, er formt sich aus ihnen eine neue Schicht. Auch ich kenne diese Schichten gut, denn ich habe sie durchbohrt, habe in ihnen die Menge an Kohlendioxid, den Deuterium- und Methangehalt gemessen. Ich weiß, dass die Schichten allerlei Geräusche machen. Sie heulen, knurren und knallen. Aber jetzt gerade ist der Gletscher still und lässt mich über seine Oberfläche gehen. Er ist seit Hunderttausenden Jahren hier, und manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich über meinen Bohrer und meine Steigeisen amüsiert. Denn so kalt und regungslos er auch ist, so macht es doch den Eindruck, als wäre er lebendig.
Der Gletscher heißt Penny und ist der südlichste der größten Gletscher Kanadas. Penny enthält sechstausend Quadratkilometer Eis, das im Sommer zu schnell schmilzt und in den milden Wintern nicht mehr nachwächst. Ich habe beschlossen, die Wege des Schmelzwassers zu untersuchen, denn im letzten Frühjahr habe ich im Gletscherinneren das Rieseln von Bächen gehört.
Isaac zeigt mir auf der Karte, wo sich Gletschermühlen befinden. Er ist mein Guide auf dem Gletscher, ich kenne ihn seit letztem Jahr. Gestern hat er mich am Flughafen abgeholt. Von dort fuhren wir direkt zu seinem Büro, trafen die nötigen Vorbereitungen, schliefen ein paar Stunden.
Ich nehme den Kompass aus der Tasche und lege ihn auf die Karte. Der rote Pfeil zittert unruhig von links nach rechts.
»Den brauchst du nicht. Hier funktionieren keine Kompasse. Der geografische Nordpol ist zu nah«, sagt Isaac.
Hätte ich eigentlich wissen müssen, denke ich und stecke den Kompass wieder ein.
Wir gehen ein Stück nach Norden und hören von Weitem schon eine Gletschermühle. Sie gibt inmitten der weißen Leere ein leises Heulen von sich. Ich halte kurz an, um ihrem Gesang zu lauschen, dann befestige ich das Seil an meinem Klettergurt und gebe Isaac das andere Ende. Vorsichtig rutsche ich zum Rand der Gletschermühle und blicke in ihren spiralförmigen Rachen. Es fließt kein Wasser darin, nicht jetzt. Ich stelle die sieben gelben Plastikenten, deren Unterseite ich mit dem Datum, Isaacs Kontaktdaten und der Aussicht auf eine Belohnung beschriftet habe, auf den Rand.
Dann lasse ich die erste Ente in die Gletschermühle fallen. Sie rotiert kurz in der blauen Spirale und ist verschwunden.
Das Eis in der Mühle ist so blau, dass es die Farben von Himmel und Meer neu zu definieren scheint.
Eis der gleichen Farbe gibt es in der großen Wand am Westrand des Penny, wo ich Jon zum ersten Mal begegnet bin.
Das ist jetzt ein Jahr und vierzig Tage her. Auch damals forschten wir am Penny. Ich war vor den anderen vom Gletscher herabgestiegen, denn ich ertrug das Gerede der Studierenden nicht mehr, die die Eigenschaften ihrer Outdoorkleidung, die Flugpreise und die Höhe der Gipfel, die sie schon bestiegen hatten, miteinander verglichen. Ich konnte nicht verstehen, warum sie über unbedeutende Dinge redeten und dem Wichtigsten auswichen: den Bewegungen des Eises, dem Anteil von Isotopen, den Strömungen des Schmelzwassers und den Eigenschaften der Kristalle.
Ich stand gerade vor der Eiswand und überlegte mir einen neuen Namen für ihre Farbe, als ich ihn bemerkte, den jungen Mann mit der Kapuze und dem Fernglas.
Ich versuchte zu erraten, worauf er blickte. Vogelstimmen waren keine zu hören, und auf der weißen Decke des Fjords war auch kein Gelbstich von einem Eisbären zu erkennen. Wir waren zu zweit am Rand des Gletschers.
Er stand neben dem Pfad, die Stiefel tief im Schnee, und hielt das Fernglas mit bloßen Händen. Als ich an ihm vorbeiging, setzte er es ab und sah mich an. Ich nickte und ging weiter, kehrte aber nach wenigen Metern zurück.
»Dir ist bestimmt kalt«, sagte ich und reichte ihm meine Fäustlinge.
Er nahm sie, zog sie an und rieb die Handflächen aneinander.
»Danke«, sagte er.
»Besser so?«, fragte ich.
»Besser so. Aber was ist mit dir?«
How about you, sagte er, er sprach Englisch mit skandinavischem Akzent. Er hatte ein prägnantes Gesicht, hohe Wangenknochen und sehr dunkle Augen.
»Ich trage drei übereinander«, antwortete ich.
»Bist du eine von diesen Gletscherforschern?«, wollte er wissen.
Ich nickte.
»Jon«, sagte er und streckte die Hand aus.
Ich ergriff sie, spürte durch meine gestrickten Wollfäustlinge die langen Finger und die Erhebungen der Knöchel.
»Unni.«
»Danke für die Fäustlinge, Unni.«
»Keine Ursache. Was hast du gesehen?«
»Nichts«, antwortete Jon und schaute mich an, kniff in der Helligkeit des Gletschers die Augen zusammen.
»Woher kommst du?«, fragte er.
»Aus Helsinki.«
»Warum hierher? Gibt es in Europa keine Gletscher, die man erforschen kann?«
»Doch, aber nicht solche. Es ist nicht so, dass man alle Gletscher kennt, wenn man einen gesehen hat. Jeder Gletscher benimmt sich auf seine Weise.«
»Du redest von ihnen, als wären sie lebendige Wesen.«
»Sie verhalten sich wie lebendige Wesen.«
»Ja, das tun sie wohl«, stimmte Jon zu. »Zwischen den blauen Wänden dort verläuft ein Weg, den die Jäger hier benutzen. Aber wenn man ihn geht, muss man total leise sein, denn die Gletscher mögen keinen Lärm. Und wenn das Eis böse wird, kann es einen Menschen zermalmen.«
»Ach ja?«, hauchte ich, und in genau diesem Moment stiegen die anderen auf den Pfad herab, auf dem wir standen. Ich schloss mich der Gruppe an, und als ich mich noch einmal umdrehte, hatte Jon bereits wieder das Fernglas vor den Augen und schenkte mir keine Beachtung mehr.
Ich lasse noch sechs Enten in die Mühle fallen, eine nach der anderen. Dann ziehe ich die Fäustlinge aus und fahre mit den Fingern übers Eis. Je niedriger die Temperatur und je höher der Druck, umso schöneres Eis entsteht. Aber wenn das Eis schmilzt und wieder gefriert, wachsen die Eiskristalle, und ihre Struktur verändert sich. Die Zacken verlieren ihre Schärfe, die Farbe wird dunkler, und die Kristalle saugen immer mehr Wärme auf.
Das Gleiche geschieht mit dem Schnee. Der frisch vom Himmel gefallene Schneekristall ist schön, dekorativ, detailliert. Der von der Sonne erwärmte Kristall hingegen ist wie ein aus Ton geformter Stern, den schwitzende Handflächen platt geklopft haben.
Ist Schmelzen identisch mit Kaputtgehen?, frage ich mich. Oder ist es nur eine Metamorphose?
Ich nehme das Heft aus dem Rucksack und vergewissere mich, ob ich alle Informationen aufgeschrieben habe. Die übrig gebliebenen Enten setze ich in eine kleine Dose, dann schließe ich den Rucksack, stehe auf und gebe Isaac das Zeichen, dass wir weitergehen können.
Isaac und ich steigen erst vom Gletscher ab, als der Abend schon weit fortgeschritten ist. Jenseits der Bucht glänzt noch immer die Sonne am Himmel, vor uns liegt die schneegefleckte Tundra, die sich weiter weg in ein von gelben Strahlen durchstochenes Meer verwandelt.
Am Horizont schimmern scharfkantige Berge. Ich frage mich, wie weit entfernt sie sein mögen. An Orten, an denen es keine Bäume und keine Gebäude gibt, kann man Entfernungen schwer einschätzen. Selbst wenn ich einen ganzen Tag durch die Tundra auf die Berge zuginge, würde es so aussehen, als blieben sie auf der Stelle, nah und fern zugleich. Ich bezeichne diese Entfernungsverzerrung als Trugbild des weiten Landes. Mir fiel es schon vor langer Zeit auf. Als Kind hatte ich die Angewohnheit, morgens aufs Fjäll zu gehen und auf den Fluss hinabzuschauen, in dem das Wasser in hohem Tempo floss und die Sandinseln mit der Strömung ihre Form änderten. Der Fluss war immer nah, unabhängig davon, wie weit ich aufs Fjäll hinaufstieg, in meiner Welt war er überall zu sehen und zu hören.
Isaac geht still neben mir her. Er trägt einen dunkelblauen Thermo-Overall und ein Gewehr auf dem Rücken. Ich frage mich, ob die Waffe geladen ist. Vermutlich tragen die Guides geladene Waffen, ich selbst lade die Waffe erst, wenn ich einen Eisbären am Horizont oder Spuren im Schnee entdecke.
Wir gehen ein kurzes Stück an einer blauen Eiswand entlang. Die Motorschlitten warten an einem schmalen Pass auf uns. Wie eckige Tiere kauern sie sich am Rand des Gletschers zusammen.
Wir laden unsere Sachen auf, Isaac achtet darauf, dass das Gewehr ganz oben liegt. Beim dritten Versuch springt der Motor an, und ich folge Isaac in die nach Zweitaktöl und schmelzendem Eis riechende weiße Unendlichkeit.
Die Hütte hockt still am östlichen Rand des...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.