Schweitzer Fachinformationen
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In diesem Buch werde ich über die Gesellschaft schreiben, ein Begriff, der häufig zu hören ist und doch - oder gerade deshalb - schwer greifbar bleibt. Aus der politischen Sphäre heraus wird der Begriff meist dann bemüht, wenn man Ansprüche stellen will, den Zusammenhalt einfordert (wie zuletzt bei Corona oder der Energiekrise). Intellektuelle und mediale Kreise scharen um den Begriff hingegen häufig ihre Diagnose- und Bedrohungsszenarien von Empörungsgesellschaft bis Therapiegesellschaft. Schon vor zehn Jahren etwa bemühte sich der Philosoph Peter Sloterdijk um »die Gesellschaft«, natürlich unter der Fragestellung, ob sie denn zerbreche oder was sie überhaupt sei. Krisenszenarien, Bedrohungserzählungen, Auflösungsängste begleiten das Reden über Gesellschaft im öffentlichen Raum; die Abstraktion zu konkretisieren, sie zu präzisieren, fällt hingegen schwer - natürlich auch mir.
Ich werde über Begriffe schreiben, mit denen wir über Gesellschaft sprechen, mit denen wir Prozesse beschreiben, sie vielleicht auslösen oder aufhalten möchten. Doch bevor ich dies tun kann, möchte ich einen Begriff über alle anderen Begriffe setzen: das Sehen. Er ließe sich durch das Hören ergänzen, das Erfassen der Welt und der Ereignisse in ihr mit den Sinnen - ich meine jedoch allen voran das Sehen. Wie betrachten wir und sind wir uns dessen bewusst, wie sehr sich das Erfassen der Welt, in der wir leben, verändert hat?
In einer Ausstellung über den britischen Schriftsteller und Maler John Berger, der sich viel mit dem Sehen in der Kunst beschäftigte, wurde mir deutlich, dass wir zu wenig darüber nachdenken, wie die Zeit, in der wir leben, die Medien, die wir konsumieren, die Art, wie wir betrachten, den Gegenstand vor uns verändern. »Ways of Seeing« war eine Dokumentarreihe der BBC, die sich mich der europäischen Malerei beschäftigte. John Berger steht in diesen Videos, die noch heute auf YouTube zu finden sind, wie ein Peter Lustig der britischen Intellektuellen vor seinem erwachsenen Publikum und versucht, das Mysterium des Sehens im Zeitalter der Reproduktion so zu erklären, dass ihm jeder folgen kann. Er redet dabei über die Kunstwerke der europäischen Malerei seit dem 14. Jahrhundert bis zu ihrem Ende im 19. Jahrhundert. Er betont, dass sich nicht so sehr die Kunst verändert habe, sondern ihre Betrachter. Die Menschen der heutigen Zeit sehen Kunstwerke ganz anders als alle Menschen vor uns, die nur den gegenwärtigen Moment mit dem Kunstobjekt in einem einzigen Raum hatten. Was erzählt uns das über unsere Lebensbedingungen heute und über uns selbst, fragt er.
Was John Berger in diesen Dokumentationen und in seinen Büchern geleistet hat, müssen wir für unsere Betrachtungen von Gesellschaft noch übersetzen. Bleiben wir jedoch zunächst bei John Berger und den Kunstwerken: Sehen ist für ihn kein natürlicher Akt, den Menschen spontan vollbringen, vielmehr sind es Gewohnheiten und Konventionen, die unser Sehen und unseren Blick auf Bilder in einer gewissen Weise einstellen, als wäre unser Auge die Kamera, die von den Sehgewohnheiten ihrer Zeit eingestellt wird. Er beschreibt die europäische Malerei als einzigartig dahingehend, dass die Perspektive sich immer auf das Auge des Betrachters fokussiert. Wie das Licht eines Leuchtturms, sagte er, nur fiele Perspektive nicht aus dem Leuchtturm, sondern all das Licht fiele in den Betrachter. Das menschliche Auge, der Betrachter, wird durch eine Perspektive zum Ausgangspunkt von Wirklichkeit. Die Welt, die wir betrachten, bewegt sich mit dem Betrachter, will sagen, wir sehen nur das unmittelbar vor uns Seiende und: Der Mensch und sein betrachtendes Auge konnten zu einer bestimmten Zeit nur an einem einzigen Ort sein.
Mit der Entstehung der Kamera verändert sich all das. Der Mensch konnte nicht mehr nur das sehen, was unmittelbar vor ihm lag, die Vielfalt der Perspektiven ließ sich auch nicht mehr nur auf einen einzigen Betrachter zuschneiden, die Realität fächerte sich auf, die Kameras bildeten nur einen Teil davon ab, die Dimension dieser Wirklichkeit wurde nicht zuletzt bedrohlich. Den Einzelnen und sein Auge als Fluchtpunkt zu setzen, wurde immer schwieriger, am leichtesten lässt sich das anhand von Picassos Kubismus zeigen. Das Objekt ist nicht mehr nur eine Frau, sondern je nachdem, von wo aus betrachtet wird, zeigt sich diese Frau anders. So sprengt auch die Kamera die Art, wie wir Realität beschreiben, abbilden und verstehen.
Kamera: Ich bin das Kinoauge. Ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige dir die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes . Das bin ich, die Maschine, die in den chaotischen Momenten manövriert . Mein Weg führt zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So erkläre ich auf eine neue Weise die dir unbekannte Welt .
(Manifest von Dziga Vertov, russischer Filmregisseur)
John Berger zeigt uns, dass die menschliche Art zu sehen sich für immer verändert hat, sie verändert selbst rückwirkend die Malerei von früher, weil wir sie anders betrachten müssen aufgrund unserer neuen Sehgewohnheiten. Ein Bild an der Wand und das menschliche Auge können zu einem bestimmten Zeitpunkt nur an einem bestimmten Ort sein. Die Kamera hingegen fängt dieses Bild ein, sie reproduziert es und macht es verfügbar, meist auch in anderen Größen und Ausführungen.
Warum erzähle ich das? Ich würde diese Herangehensweise gerne aus der Welt der Malerei in die Art, wie wir Gesellschaft betrachten, übertragen. Viele von Bergers Beobachtungen des Gegenständlichen treffen auch für unsere Betrachtungen von Gesellschaft zu, und es hilft uns, die Radikalität und Unübersichtlichkeit unserer Zeit zu verstehen, wenn wir uns das zu Beginn dieses Buches einmal vor Augen führen. Analog zum Gemälde bei John Berger ist Gesellschaft das Bild, das der Einzelne betrachtet. Er ist natürlich auch Teil von ihr und gestaltet sie, aber bleiben wir beim Betrachten, beim Erfassen der Welt, die den Einzelnen umgibt und wie sich das verändert hat, indem wir uns auf das Gedankenspiel dieser Analogie einlassen.
Die Art, wie der Einzelne auf diese Gesellschaft blickt, ist mit dem Betrachter eines Kunstwerks vergleichbar: Alles, was auf Bildern zu sehen war, fiel in den Betrachter wie das Licht eines Leuchtturms, sagte Berger, die Perspektive war eindeutig, es war die Perspektive der europäischen Malerei. Die meisten Menschen betrachten die Ereignisse, die sie umgeben, auf dieselbe Weise, als wäre alles auf sie zugeschnitten. Vor der Erfindung der Kamera - und insbesondere der Medien und Sozialen Medien - war diese Gesellschaft das Unmittelbare, so wie Berger beschrieb, dass Bild und Betrachter früher in einem Raum standen und nur dort sich ihre Realität formte, bis die Kamera ins Spiel kam. Plötzlich sah der Betrachter entlegene Perspektiven aus entlegenen Teilen der Welt.
Wer heute über Gesellschaft nachdenkt, der steht eben nicht mehr nur vor der eigenen Stadt, dem alltäglichen Miteinander mit den Menschen, die den Alltag ausmachen, in einem eng umfassten Raum, sondern auch hier öffnet sich durch die Kamera der Blick in andere Räume, in eine Vielheit von Perspektiven. »Ich befreie mich heute und für immer aus der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin ständig in Bewegung. Ich nähere mich Objekten und entferne mich von ihnen«, schrieb der russische Filmregisseur Dziga Vertov. Die Mobilität des Auges der anderen erreicht jeden Einzelnen heute über Nachrichten, digitale Medien und vor allem Soziale Medien, die sich der Kontrolle eines Kurators zunehmend entziehen, wie zuletzt beim grauenhaften Einsatz von Bildern in Sozialen Medien durch die Hamas nach dem 7. Oktober zu sehen war. Was Gesellschaft ist, entscheidet sich nicht mehr im räumlichen Erleben des Einzelnen, der in einer unmittelbaren Umgebung steht, es entscheidet sich auch durch die Bilder, die zu ihm transportiert werden, kuratiert oder nicht. Die Kamera bringt eine Vielheit an Perspektiven, sie ist inzwischen einer der entscheidenden Wege, wie die meisten von uns die Welt betrachten. Das Gezeigte ist dabei längst nicht mehr auf bestimmte Betrachter genau zugeschnitten, die Kameras repräsentieren konstant die Welt, in der wir leben, und auch die Mobiltelefone zeigen sie uns ohne Filter.
Die Art und Weise, wie wir Gesellschaft betrachten, hat sich dadurch grundlegend verändert, wie John Berger in seiner Dokuserie dies für die Betrachtungsweise von Kunstwerken beschrieb. Die Produktion von Kunstwerken ist angesichts der medialen Veränderungen eine andere, so ist es auch mit der Produktion des Gesellschaftsbegriffs. Wie der Einzelne die Gesellschaft betrachtet, hängt von den Bildern ab, die er konsumiert hat, von den Perspektiven auf die Realität, die ihm Kameras erschlossen haben. Gerade in Zeiten des Smartphones, in denen diese Bilder unkuratiert den Betrachter erreichen, spielt diese Dimension der Welterfahrung eine zentrale Rolle. Wir reden längst nicht mehr über eine Wirklichkeit, in welcher der Einzelne die Realität wahrnimmt, wenn er sein Haus verlässt und auf die Straße geht, ins Gemeinde- oder Kulturzentrum, sondern darüber, wie sich seine Wirklichkeit über die Kamerabilder der anderen zusammensetzt. »Gesellschaft« und was für sie gehalten wird kuratieren inzwischen auch die Algorithmen in den Sozialen Medien, und...
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