Schweitzer Fachinformationen
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Biarritz/Fort de Socoa
Jenseits der Festungsanlage präsentierte sich die Biskaya glatt und schimmernd wie ein Aventurinspiegel, in den die Mayol eine schmale, kaum sichtbare Furche zog. Eric Perrain fühlte sich jetzt völlig entspannt. Die Umgebungsreize erreichten ihn abgeschwächt, gefiltert, und der Ruhepuls war bereits auf fünfzehn Schläge pro Minute gefallen. Mit einem raschen Manöver steuerte er den viersitzigen Außenborder an einem kleinen Schwarm Portugiesischer Galeeren vorbei. Der Körper führte all die eingespielten, hundertfach geübten Handlungen aus, während der Geist sich längst in einer anderen Welt befand. In der Lautlosigkeit der Tiefe.
Nach wenigen Minuten hatte er Belhara Perdun erreicht, ein Felsriff im französisch-spanischen Grenzgebiet, zweieinhalb Kilometer vor der baskischen Küste, unweit der historischen Hafenbefestigung Fort de Socoa. An seltenen Tagen mit entsprechender Dünung war die Stelle mit ihren bis zu zwanzig Meter hohen Brechern eine Herausforderung für Big-Wave-Hasardeure, für den Rest des Jahres ein stilles Unterwasserparadies. Er drosselte den Motor und warf den Anker aus. Anschließend streifte er langblättrige Tauchflossen über die Füße, setzte die Brille auf und nahm mehrere tiefe Atemzüge. Er füllte seine Lunge bis zur maximalen Sauerstoffkapazität mit Luft, presste mit Lung Packing noch ein weiteres Drittel darauf und ließ sich ins Wasser gleiten. Augenblicklich setzte der Tauchreflex ein, der allen Lungenatmern das Überleben im anderen Element ermöglicht. Der Herzschlag verlangsamte sich, die Gefäße in den Extremitäten verengten sich, und der Körper konzentrierte sich auf die Versorgung der lebenswichtigen Organe, während der zunehmende Wasserdruck die Lunge auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe komprimierte.
Mit kräftigem Flossenschlag tiefer sinkend, breitete Eric die Arme aus. Die Schwerelosigkeit im endlosen Blau euphorisierte leicht wie nach ein paar Gläsern Sekt. Weit entfernt, unwirklich erschienen Welt und Leben jenseits der Wasseroberfläche. Tiefe Ruhe und ein Gefühl des Angekommenseins, das sich jeder Beschreibung entzog, ließen alles andere verblassen. Zeit spielte keine Rolle, nicht der Hauch eines Bedürfnisses zu atmen. Nur flockiges Plankton, das die herabfallenden Lichtstrahlen reflektierte, ein in zehn Metern Tiefe vorbeihuschender Schwarm Meeräschen .
Das Riff lag bei vierzehn bis achtzehn Metern, der umliegende Meeresboden fiel auf etwa zwanzig Meter ab. Mit weichen, gleichmäßigen Bewegungen glitt Eric an den Felsen entlang, so verschmolzen mit seiner Umgebung, dass sich nicht einmal die bunt schillernden, gierig Krill einsaugenden Lippfische von ihm gestört fühlten. Er hangelte sich noch tiefer hinab, bis er sich schließlich, am Punkt des negativen Auftriebs angekommen, auf dem sandig-steinigen Grund niederließ.
Rote und orangefarbene Lichtanteile waren hier bereits ausgefiltert, das verbliebene Gelb- und Grünspektrum tauchte die Umgebung in gleichmäßig trüben blaugrünen Schein. Kein Bedürfnis zu atmen nach wie vor oder jemals wieder aufzutauchen. Jahrelanges Training bewirkte, dass Eric die Stoffwechselvorgänge in seinem Körper genau kannte. Selbst wenn er unter Wasser das Gefühl für Zeit verlor, brauchte er keine Uhr, um den CO2-Gehalt in seinem Blut exakt genug einzuschätzen und eine Bewusstlosigkeit relativ sicher auszuschließen. Absolute Sicherheit gab es gleichwohl nie, weshalb die erste Regel des Freedivings besagte, sich niemals und unter keinen Umständen allein in die Tiefe zu begeben.
Plötzlich glaubte Eric, eine leichte Strömung hinter sich zu spüren. Er wandte sich um und bemerkte in ein paar Metern Entfernung einen dunklen Schatten, deutlich größer als der Durchschnitt der Riffbewohner. Aufgrund der schnellen, ruckartigen Bewegungen vermutete er zunächst einen Großaugen-Thun, doch Augenblicke später belehrte ihn der vorbeihuschende massige Körper mit seiner breiten, konisch zulaufenden Schnauze eines Besseren. Die Unterseite des etwa zwei Meter langen Fisches, die an den beeindruckenden Kieferbereich anschloss, war schneeweiß. Eric verharrte reglos, während der Weiße ihn mit kleinen schwarzen Knopfaugen argwöhnisch musterte. Er umkreiste ihn, schwamm ein Stück weg, näherte sich dann erneut bis auf Armlänge und schien zu überlegen, mit welch eigenartigem Zeitgenossen er es hier zu tun hatte. Eric war völlig ruhig. Er wusste, dass Begegnungen zwischen Menschen und Haien bei Letzteren in aller Regel von Neugier bestimmt waren. Wenn einer dem anderen nach dem Leben trachtete, so tat das in den allermeisten Fällen der Mensch dem Fisch an und nicht umgekehrt. Folgerichtig entschied der Weiße nach kurzer Zeit, dass das seltsame, auf dem Meeresboden sitzende Wesen Zeitverschwendung war, und zog sich zurück.
Schweren Herzens rief Eric sich ins Bewusstsein, dass das Tier recht hatte. Auch wenn er es anders empfand - er war und blieb ein Lungenatmer, der nicht hierhergehörte. Sein Platz war woanders. Mühsam richtete er sich auf und begann, sich langsam und vorsichtig an den Felsen in Richtung des prismenförmig einfallenden Lichtes emporzuhangeln, um dann das letzte Stück wieder mit kräftigem Flossenschlag aufzusteigen. Dies war der emotional und physisch kraftraubendste Teil der Exkursion, und oft schon hatte er das nahezu unwiderstehliche Bedürfnis empfunden, es nicht zu tun, sondern einfach sitzen zu bleiben, für alle Zeit mit dem Blau zu verschmelzen.
Dann, in etwa zehn Metern Tiefe, trat erneut eine Veränderung ein. Eric konnte zunächst nicht einordnen, was geschehen war, doch er spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Irritiert blinzelte er in das von der sich nähernden Wasseroberfläche einfallende Licht, das nun auch wieder den gelb- und orangefarbenen Wellenbereich einschloss. Es waberte unruhig, flirrte wie eine Luftspiegelung in der Wüste. Automatisch scannte er seinen Körper, um etwaige Anzeichen eines Barotraumas zu erkennen, der bei Tauchern gefürchteten Druckverletzung insbesondere der Lunge, die im Extremfall zu einem lebensgefährlichen Lungenriss führen konnte. Doch bei der geringen Tiefe, die er erreicht hatte, war das äußerst unwahrscheinlich. Dennoch stoppte er den Aufstieg für einen Moment, um ganz sicherzugehen, dass kein Dekompressionsproblem entstand. Er befand sich jetzt bereits über sieben Minuten unter Wasser, und der einsetzende Atemreiz zeigte unmissverständlich an, dass sich der Kohlendioxidgehalt in seinem Blut dem kritischen Bereich näherte. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit bis zum Breath-Holding Breaking Point, dem Punkt, an dem sich der Atemreflex nicht mehr willentlich unterdrücken lässt. Will man keine lebensgefährliche Salzwasseraspiration riskieren, empfiehlt es sich, den Kopf vor diesem Zeitpunkt an der frischen Luft zu haben - so schärften es die Tauchgurus der Côte Basque ihren Adepten ein.
Eric entspannte sich und wollte gerade seinen Aufstieg mit leichtem Flossenschlag fortsetzen, da veränderten sich die Lichtverhältnisse auf einmal derartig drastisch, dass er die Orientierung verlor. Wie ein Bergsteiger im Whiteout war er außerstande, die Wasseroberfläche zu lokalisieren, und nur sein jahrelanges Training und die Routine unzähliger Tauchgänge verhinderten, dass er in Panik geriet. Das Wasser um ihn schien sich von einer Sekunde zur anderen in einen trichterförmigen Strudel verwandelt zu haben, der ihn gleichzeitig verschlang und wieder ausspuckte. Ein Tsunami, fuhr es ihm durch den Kopf, doch im selben Augenblick war ihm klar, wie absurd dieser Gedanke war. Alles um ihn herum schien in Bewegung, doch er selbst verblieb seltsam schwerelos wie im Auge des Hurrikans. Dann glaubte er, ein Surren zu hören, als hätte sich ein Schwarm Bienen in einem Anfall kollektiver Suizidalität ins Wasser gestürzt.
Erics nach wie vor klar arbeitender Verstand analysierte die Situation und kam zu dem Ergebnis, dass er sich höchstwahrscheinlich im Vorstadium eines okulokardialen Reflexes befand. Falls die Tauchbrille nicht akkurat saß und aufs Auge drückte, konnte es jederzeit zu einem spontanen Blackout kommen. Ohne Sicherungstaucher hätte er in diesem Fall keine Chance. Noch immer empfand Eric keine Angst, während er versuchte, sich mit minimalem Kraftaufwand in die Richtung vorzuarbeiten, in der er die Wasseroberfläche vermutete. Und dann, plötzlich, sah er sie. Er konnte nicht sagen, wie viele es waren. Sie bewegten sich, doch nicht aus eigener Kraft. Der Strudel ließ sie in einer fließenden Bewegung vorwärtsgleiten, gleichsam wie ein einziger wabernder Organismus. Sie kamen näher, umringten ihn, und jetzt konnte er die einzelnen Individuen so detailliert erkennen, als stünde er vor einer Glasscheibe im Aquarium de Biarritz. Verwirrt starrte er auf das seltsame Schauspiel, das sich ihm darbot. Nicht so, dachte er. Nicht hier!
Der Atemreiz erzwang mittlerweile sofortiges Auftauchen, doch noch immer konnte Eric die Wasseroberfläche nicht sehen. Er schloss die Augen. Da war keine Schuld, kein Bedauern, vielleicht ein leises Gefühl der Wehmut, aber es bestand kein Zweifel daran, dass alles genau so war, wie es sein sollte, dass er war, wo er sein sollte .
Und dann war es vorbei. So plötzlich und unerklärlich, wie es begonnen hatte. Das Summen verstummte, der Strudel verschwand. Stille.
Eric öffnete die Augen. Der Cyan-Himmel war so nahe, dass er ihn fast greifen konnte, getrennt von ihm nur durch eine kristalline Schicht. Wie hauchdünnes Eis lag die reglose Wasseroberfläche unmittelbar vor ihm. Unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft gab er mit einem letzten Flossenschlag seinem Körper noch...
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