Eins
Manchmal muss man das Messer ziehen. Das ist nichts Gutes. Ich mache das nicht gern. Aber manchmal muss man einfach ein Messer in die Hand nehmen und klarmachen, auf wen das spitze Ende zeigt.
»Hier kannst du mich rauslassen«, sagte ich, ehe das Messer ins Spiel kam. Es war keine Frage. Männer unterstellen immer, dass Aussagen wie diese Fragen sind.
»Das ist eine Geisterstadt«, sagte er. Ich wusste nicht, wie er hieß. Er war so nett gewesen, mich mitzunehmen, als ich mitten im Nirgendwo von Iowa am Straßenrand gestanden hatte, aber er war nicht so nett, mich dort rauszulassen, wo ich hinwollte.
»Das passt schon«, sagte ich. »Setz mich einfach ab.«
»Da gibt's doch bestimmt eine bessere Stelle. Ein Walmart oder so. Da lass ich dich raus.«
»Lass mich hier raus.«
»Ich kann dich doch nicht einfach mitten im Nichts absetzen, nicht ganz allein. Das ist nicht sicher.« Er sagte das ohne eine Spur von Ironie und verriegelte die Türen.
In diesem Moment kam das Messer ins Spiel. Ich ließ es aus meiner Jeanstasche gleiten und klappte es auf. Wenn man ein Messer zieht, dann heißt es alles oder nichts. Entweder kam ich aus dieser Misere raus, oder alles würde noch sehr viel schlimmer werden.
»Herrgott«, sagte er und fuhr rechts ran.
Ich entriegelte meine Tür, schnappte meine Sachen und sprang auf den Kies, noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war.
»Blöde Schlampe.«
Ich zeigte ihm den Mittelfinger, als er losfuhr, aber zumindest fuhr er los. Am schlimmsten war, dass er vermutlich wirklich glaubte, dass er auf mich aufpasste. Dass er ein netter Kerl war. Ich hoffte, dass ihm was Schlimmes zustieß, und zwar bald.
Seit zehn Jahren musste ich mich mit so einer Scheiße von Autofahrern abgeben. Es nervte. Verdammt, mit 28 war ich echt zu alt für den Mist. Vor zehn Jahren hatte ich mit den Fahrern noch über alles Mögliche geredet und es genossen. Ich mochte die Netten, weil sie so freundlich waren, und ich mochte die Verrückten, weil sie die besten Geschichten erzählten. Okay, ich hasste die rassistischen Arschlöcher, aber durch die blieb ich am Puls dieses rassistischen Scheißlandes. Aber ein Jahrzehnt ist verdammt lang und was auch immer ich mal am Trampen gefunden haben mochte, war lange verblasst. Nichtsdestotrotz brachte es mich dahin, wo ich hinwollte.
Das Ortsschild am Stadtrand war übermalt worden. Keine Ahnung, was da früher gestanden hatte, aber jetzt hieß es in sauberer Schablonenschrift: FREEDOM, IOWA. GEMEINDEFREI. Eine ganze Stadt, verlassen von einer toten Wirtschaft und besiedelt von Hausbesetzern, Aktivisten und Anarchisten.
Es war der letzte Ort, an dem Clay gelebt hatte, der letzte Ort, an dem er Zeit verbracht hatte, ehe er sich auf den Weg nach Westen gemacht und sich die Kehle aufgeschlitzt hatte. Keine Warnsignale, keine Hilferufe.
Ich hatte viele Fragen. Wenn es Antworten gab, fand ich sie vielleicht in Freedom, Iowa.
Ich schulterte meinen Rucksack und schloss den Bauchgurt. Der Rucksack hatte Clay gehört. Seinen Abschiedsbrief hatte ich zusammengefaltet in der kleinsten Tasche verstaut. Eine zweispurige Straße führte vom Highway ab und in die Stadt hinein. Sie war mit blassem, vielfach ausgebessertem Asphalt gepflastert und von hohen Bäumen gesäumt. Ich folgte mit lockerem Schritt der doppelten Seitenlinie.
Nach etwa 100 Metern und ein paar Kurven, wo die Bäume dicht genug standen, um die gesamte Straße in Schatten zu tauchen, entdeckte ich vor mir im Straßengraben einen Hirsch, der an etwas auf dem Boden zupfte.
Das Tier war dunkelrot. Blutrot. Mir war nicht klar gewesen, dass Hirsche so eine Farbe haben können.
Ich wechselte die Straßenseite, um ihn nicht aufzuscheuchen, musste ihn aber immerzu anstarren. Vor ihm auf dem Boden lag ein totes Kaninchen, den Bauch nach oben, den Brustkorb aufgerissen. Da sah der Hirsch auf und blickte mich an. Von seinem roten Maul tropfte das Blut.
An seiner rechten Kopfseite trug er ein vollständiges Geweih. An der linken Seite zwei.
»Heilige Scheiße«, sagte ich.
Ich ging weiter, denn was sollte ich auch sonst tun? Der Hirsch sah mir nach, bis ich um die nächste Kurve gebogen war, und ich spürte seinen Blick auf meinem Rücken. Die einzigen Geräusche, die die Luft durchschnitten, kamen von Vögeln und dem schwachen Rauschen eines nahen Flusses. Im Wald blühten Wildblumen.
Nach einer Viertelmeile verließ ich den Wald und entdeckte die Stadt am anderen Ufer des schmalen, träge dahinfließenden Flusses. Etwa 50 Häuser waren entlang einer sich windenden Straße in den Berg gebaut. Am Straßenrand und in den Einfahrten standen ein paar alte Autos, aber ich konnte nicht erkennen, ob sie noch in Benutzung oder für immer hier geparkt waren. Über den Fluss spannte sich eine zweispurige Brücke. Wenn Clay über diesen Ort gesprochen hatte, hatte es wie das Paradies geklungen.
Ich ging bis zur Mitte der Brücke und hielt dort an, um über das Geländer auf das Wasser zehn Meter unter mir zu schauen, das sich seinen Weg über die Felsen bahnte. Am anderen Ende der Brücke lag eine verbarrikadierte Tankstelle. Sie war mit Graffitis bedeckt, die mindestens so gut waren wie alles, was ich in Oakland gesehen hatte. Noch eine Viertelmeile weiter den Berg hinauf standen die ersten Häuser. Die meisten waren zugewuchert und bei vielen waren die Dächer eingestürzt, andere wirkten noch halbwegs in Schuss.
Ich betrat die Stadt, entdeckte aber keinerlei Lebenszeichen. Keinen Rauch, keine Lichter, keine Bewegung. Niemand war auf der Straße unterwegs oder saß auf einer der Veranden. Vielleicht waren sie alle abgehauen, genau wie Clay. Vielleicht war das Wasser hier genauso vergiftet wie in halb Mittelamerika und durch Erscheinungen wie diesen abgefuckten Mutantenhirsch mit seinen drei Geweihen hatten alle gemerkt, dass es hier nicht mehr sicher war.
Die ersten fünf oder sechs Häuser, an denen ich vorbeikam, waren Split-Levels: Ihre versetzten Ebenen waren in den Berg gebaut. Statuen aus Schrott bevölkerten einen Vorgarten - ein Hirsch mit drei Geweihen zwischen anderen Wald- und Farmtieren. Selbst die Statue schien mich mit ihren Blicken zu durchbohren und das verdammte Teil hatte nicht mal Augen.
Das nächste Haus war frei stehend, ein altes Gebäude im Kolonialstil. Es war schön mit seiner dunkel gestrichenen hölzernen Wandverkleidung. Das runde Mansardenfenster wirkte wie ein Auge, das einen sehnsüchtigen Blick über den Fluss und Iowa gleiten ließ. Ich stieg die Zementstufen zu einer hölzernen Terrasse an der Seite des Hauses hinauf und spähte durch die Schiebetür hinein. Aber drinnen war es dunkler als draußen und ich erkannte nur mein eigenes, kurz geschnittenes Haar, das sich im Glas spiegelte. Ich setzte mich auf einen der Terrassenstühle, lehnte mich zurück und grübelte über die leere Stadt und das mir immer wieder entgleitende Glück.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich finden sollte, was ich suchte. Ich war hergekommen, um in Bewegung zu bleiben. Ohne Bewegung war alles sinnlos. Ohne Bewegung wäre ich vermutlich so tot wie Clay.
Ich lehnte mich weiter zurück, legte meine Füße auf den Tisch und blickte über die Stadt. Für heute sollte das mein Königreich sein, entschied ich, ehe ich morgen erneut aufbrach. Ich hatte noch Konserven für mindestens drei Mahlzeiten und für den Notfall steckte irgendwo in meiner Tasche noch ein Glas Erdnussbutter, das mich für Tage am Leben erhalten konnte. Ich packte mein Handy und die Kopfhörer aus, startete die Black-Metal-Playlist und döste ein.
Die kurzen, episodenhaften Träume, die ich habe, wenn ich nachmittags schlafe, gefallen mir am besten. An jenem Tag war ich ein kleiner Kobold, der auf einem brontosaurierartigen Vieh ritt. Ich hatte mich in einen Menschenjungen verliebt und fürchtete, er könnte herausfinden, dass ich ein Kobold war.
Manchmal, wenn ich wach bin, bin ich glücklich, aber niemals so glücklich wie im Traum. Wenn ich wach bin, verspüre ich immer diese Nostalgie, das Gefühl, etwas zu vermissen, an das ich mich erinnere, was ich aber nicht greifen kann. Dann bemerke ich mit einer unerträglichen Plötzlichkeit, dass ich während all dieser Augenblicke in meinem Leben viel präsenter hätte sein müssen, dass ich mir die Zeit hätte nehmen und sagen sollen: »Scheiße, Mann, das hier ist mein Leben und es ist manchmal so verdammt großartig.« Wenn ich träume, dann schwimme ich einfach im Glück und der Intensität und Allgegenwärtigkeit des Lebens.
Später am Nachmittag hörte ich ein Rascheln und öffnete halb die Augen. Auf dem Geländer vor mir saß ein Kaninchen und säuberte seine Pfoten. Schläfrig beobachtete ich es. Es drehte sich zu mir und ich sah, dass seine Brust eine einzige offene Wunde war. Sein Brustkorb und die Organe fehlten. Es roch nach Tod und Blut, obwohl ich sonst in meinen Träumen eigentlich nicht viel rieche. Dann hoppelte es davon und ich nahm an, dass es nur ein Albtraum gewesen war, und schlief wieder ein.
»Nimm deine Füße vom Tisch.«
»Was?« Ich schreckte hoch und riss mir die Kopfhörer aus den Ohren.
»Ich mag keine dreckigen Schuhe auf dem Tisch«, sagte er.
Ich stellte meine Füße auf die Terrasse und wandte mich um. Ein schlaksiger, attraktiver Kerl sah mich an. Eine braune Faust war in seine Hüfte gestützt und ein merkwürdiges Lächeln zierte sein Gesicht. Er trug ein Septum-Piercing. Die eine Seite seines Kopfes war rasiert und seine restlichen Haare kringelten sich in dicken schwarzen Locken. Er trug ein...