Schweitzer Fachinformationen
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Da, auf dem Gipfel eines Berges im Taurusgebirge, stand er, der alte Schäfer Vartabed, dessen Schafherden mit ihrer Wolle schon drei Generationen eingekleidet hatten. Deutlich hoben sich die Umrisse seiner hohen Gestalt vom Himmel ab. Ruhig stand er da und ungebeugt. In sein ernstes, ausdrucksstarkes Gesicht hatte das Alter bereits tiefe Furchen gezogen, aber seine Hände hielten den Hirtenstab ganz entspannt; er legte Wert darauf, sich nicht darauf zu stützen.
Nach Osten und Norden erstreckten sich die weiten Ebenen von Mamuret-ul-Aziz. Hier und da ragten Hochplateaus aus den Hügeln des Vorgebirges hervor. Seit 2500 Jahren schon hatten andere Schäfer vor dem alten Vartabed hier von diesem Berg aus im Frühling beobachtet, wie die Ebenen und Hochplateaus des Mamuret-ul-Aziz grün wurden, aber nur wenige hatten wohl je erlebt, dass die Kräuter und Sträucher so zeitig wie in diesem Jahr zu sprießen begannen. Darin hätte der alte Vartabed das Anzeichen einer vielversprechenden Saison sehen und die Nachricht, wie es so seine Art war, freudig seinen Schafen vermitteln können. Aber er war beunruhigt. Eine seltsame Vorahnung hatte ihn in der Nacht befallen, die er selbst nach Tagesanbruch nicht mehr von sich abschütteln konnte. Jetzt hielt er Ausschau nicht nach den Landstrichen mit dem langersehnten Grün, das bald das Blöken seiner Schafe verstummen lassen würde, sondern weit hinaus nach Norden, wo sich das blaue Band des Euphrat im Dunst der Morgendämmerung verlor. Was seine alten Augen dort suchten, wusste er selbst nicht; aber von dorther schien Gefahr zu drohen.
Plötzlich drang aus dem Tal der schleppende, eintönige Ruf zum Dritten Gebet nach oben zum alten Vartabed, die Aufforderung an gläubige Muslime, das Licht des neuen Tages zu begrüßen. Das riss den Schäfer aus seinen Grübeleien.
»Ja, das war es, das Zeichen! Die Gefahr könnte aus dem Norden kommen, und was immer es sei, es würde sich zuerst in der Stadt manifestieren.«
Der Schäfer schaute ins Tal hinunter, auf die Dächer und die sich dazwischen windenden engen Straßen. Ein Minarett schimmerte auf, als der Muezzin gerade zum zweiten Mal seinen Ruf anstimmte. Vartabed ließ seinen Blick über die Stadt streifen bis hin zu den von den ersten Sonnenstrahlen umspielten Trümmern aus rotbraunem und grauem Gestein, den Ruinen der Burg, die Tschemsch2, ein armenischer König, in alten Zeiten erbauen ließ. Eine herzzerreißende Traurigkeit überkam ihn: Das Minarett stand unversehrt da, die Königsburg aber war zerfallen. Es gab zwei Arten von Gebeten in der Stadt, deshalb würde es Ärger geben.
Der alte Mann rammte den Schäferstab aufrecht in den Boden - ein Zeichen für seine Schafe, dass er dorthin zurückkehren werde - und folgte dann einem Pfad abwärts zu den niedrigeren Hängen, wo die Häuser der Stadt begannen. Mit festen, gleichmäßigen Schritten, ungewöhnlich angesichts seines hohen Alters, ging er zielstrebig durch die Stadt bis zu den Straßen mit den ansehnlichen Villen der Wohlhabenden. Dort bog er kurz ab und ging an einem öffentlichen Park entlang zur Villa des Bankiers Mardigian. In diesem Haus war der Schäfer jederzeit willkommen, hatte er doch schon für drei ihrer Familienoberhäupter die Herden gehütet.
Eine Hausangestellte öffnete das Eingangstor der Mauer an der Straße und ließ ihn in den inneren Garten eintreten. Als sie das Tor hinter ihm schloss, fragte er: »Ist der Hausherr noch zu Hause oder ist er schon so früh geschäftlich unterwegs?«
»Du solltest dich schämen, so etwas zu fragen!«, antwortete die Frau, unverblümt wie sie war. »Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist? Wie kommst du auf die Idee, dass der Herr heute seinen Bankgeschäften nachgehen könnte?«
Der alte Mann schaute sie erstaunt an. Sie sah nun, dass er es wirklich vergessen hatte, und sagte in milderem Ton: »Heute ist Ostersonntag, Vartabed.«
Er ließ sich die Ermahnung gefallen, wusste aber seine Würde gleich wiederherzustellen: »Wenn du einmal so viele Tage gelebt hast wie der alte Vartabed, wirst du vielleicht gern mehr als einen aus deinem Gedächtnis löschen - möglicherweise einen, der bald kommt, noch lieber als alle davor.«
Die Frau hatte für das belehrende Geschwätz alter Leute nichts übrig und führte die versteckte Warnung des Alten vor drohendem Unheil einfach auf schlechte Laune zurück. Ihre spitze Erwiderung fand kein Gehör mehr, schweigend ging der Schäfer durch den Garten zum Haus und trat ein.
Das Haus der Mardigians entsprach den typischen modernen Villen wohlhabender Armenier. Den breiten Eingang erreichte man vom Garten her über eine schöne Treppe aus weißem Marmor, und die geräumige Eingangshalle war mit großen Platten aus dem gleichen Stein gefliest. Von außen wirkte das Gebäude eher düster, vielleicht zum Schutz vor dem bisweilen rauen Klima, das Innere aber zeugte von behaglichem Luxus und Wohlstand. Aufgrund der Hanglage des Hauses waren die Zimmer versetzt übereinander angelegt, wobei das Flachdach des unteren als Vorgartenterrasse des jeweils oberen diente.
In der Empfangshalle, die der alte Vartabed betrat, befand sich ein großer gekachelter Kamin, von dem aus nach links und rechts ein niedriger Divan an drei Wänden des Raumes entlanglief, gepolstert mit handgewebten heimischen armenischen Teppichen. Darauf lagen handbestickte seidene Kissen. Der Marmorboden war mit dicken Teppichen belegt, Tekke genannt, von Persern oder Kurden gewebt und auf eine Filzunterlage aufgenäht. Über dem Kamin hing ein kostbares Madonnenbild, an den Wänden links und rechts ein Gemälde eines berühmten armenischen Landschaftsmalers und ein Bild von Peniers, das einen niederländischen Hafen darstellte. In einer Ecke des Raumes stand ein Klavier, daneben eine Stehlampe. Trotz der vorherrschenden orientalischen Farbenfreude wirkte der Saal geschmackvoll und dezent.
Der Schäfer stand wartend mitten im Raum, bis sein Arbeitgeber eintrat und ihn festlich begrüßte: »Christus ist auferstanden von den Toten, mein guter Vartabed!« Diesen Ostergruß haben die Armenier seit den Anfängen des Christentums beibehalten. »Gepriesen sei Christi Auferstehung!«, erwiderte der alte Mann dem Brauch entsprechend. Dann sprach er mit großem Ernst, der seinem Gesprächspartner nicht entging, vom Grund seines Kommens. Es war die Vision, die er in der Nacht gehabt hatte.
»Unser Heiliger Gregor3 erschien mir, während ich schlief, und presste seine Hand kräftig auf mich. >Wach auf, alter Vartabed, wach auf! Deine Schafe sind in Gefahr, obwohl Gott sie besonders liebt. Wach auf und rette sie!< Das sagte der gute Heilige zu mir. Schnell stand ich auf, aber kaum hatte ich die Augen ganz geöffnet, war die Vision vorbei. Ich eilte zum Pferch, aber ich störte nur, denn die Herde schlief ganz friedlich. Doch ich konnte nicht wieder einschlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, stand wieder unser Heiliger vor mir, als wolle er mich wegen meiner Untätigkeit zurechtweisen. In der Morgendämmerung brachte ich meine Herde auf die Hügel, und da erinnerte ich mich an etwas .«
Hier hielt der Schäfer inne. Er hatte schnell gesprochen und war etwas außer Atem. Sein Arbeitgeber hatte ihm mit großer Aufmerksamkeit, die man einem so alten vertrauenswürdigen Menschen schuldig ist, zugehört, aber nicht ohne einen Anflug von Schmunzeln in seinem ansonsten unbeweglichen Gesicht. »Wie schade, Vartabed, dass du so unruhig geschlafen hast. Heute Morgen solltest du mehr als an anderen Tagen ganz von Freude erfüllt sein. Erzähle mir jetzt, woran du dich im Morgengrauen erinnert hast, und lösche es dann aus deinem Gedächtnis!«
»Manche Sachen, Herr, können weder Sie noch ich aus dem Gedächtnis tilgen. Ich erinnerte mich, wie mir schon einmal unser Heiliger im Schlaf erschienen war, um mich vor einer Gefahr zu warnen. Damals schenkte ich dem keine Beachtung, denn ich war noch jung und leichtsinnig. Auch waren es damals gute Zeiten in Armenien, es herrschten Frieden und Wohlstand. Aber am selben Tag kam von Norden her die Massenvernichtung. Das war vor zwanzig Jahren.«
Jetzt erschrak sein Gegenüber, es schauderte ihn, und er wurde blass. Vor zwanzig Jahren, da wurden Hunderttausende seiner Landsleute von Abdul Hamid4 ermordet! Wortlos ging der Bankier zum Fenster, zog die Vorhänge auf und blickte in den Garten.
Herr Mardigian entsprach genau dem Typ des erfolgreichen modernen Armeniers. Er lächelte selten, aber seine Stimme und sein Blick waren sanft und gütig - an einem solchen Ostermorgen hätte er auch gut über die Boulevards in Europa oder Amerika spazieren können, ohne aufzufallen. Als er vom Fenster zurückkam, hätte nur ein enger Vertrauter dieses unerklärliche, unfassbare Etwas in seinem Gesicht oder in seinem Verhalten entdecken können, das ein Volk, dessen Schicksal es von Anfang an war, ständig unterdrückt und verfolgt zu werden, unwillkürlich prägt.
»Was vor zwanzig Jahren geschah, mein lieber Vartabed, kann nie wieder passieren. Wir Armenier haben nichts getan, um den Zorn unseres Herrenvolkes, der Türken, auf uns zu ziehen. Wir haben ganz im Gegenteil bewiesen, dass wir diesem Staat dienen. Unsere jungen Männer wurden zum Großen Krieg eingezogen, der jetzt die Welt verwüstet. Sie haben hintangestellt, dass ihre Sympathien auf Seiten der Feinde des Sultans liegen, und lassen aus freien Stücken ihr Leben im Kampf um eine verhasste Sache, nur um den Türken weder Anlass noch Entschuldigung zu liefern, womöglich ihre Wut an unserem Volk auszulassen. Vor weniger...
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