Schweitzer Fachinformationen
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Es fing beim Zubettbringen an. So eine Distanziertheit. So etwas Kühles.
Martin und Rachel deckten den Jungen zu, wie jeden Abend, beugten sich zu ihm runter und gaben ihm einen Kuss.
»Bitte lasst das«, sagte er und drehte sich zur Wand.
Sie nahmen es als Neckerei, warfen sich auf sein Bett und kitzelten ihn.
Der Junge machte sich ganz steif und ließ es über sich ergehen, dann blaffte er: »Ich mag das wirklich nicht!«
»Jonah?«, fragte Martin und setzte sich auf.
»Ihr sollt mich nicht mehr ins Bett bringen. Ich bin kein Baby. Ihr habt doch Lester. Kuschelt mit dem.«
»Aber, Schätzchen«, erwiderte Rachel. »Wir sagen dir doch nur gute Nacht. Und du magst doch Küsschen, oder? Magst du nicht geküsst und gedrückt werden? Du Dummerchen.«
Jonah versteckte sich unter der Decke. Klassisches Schmollen. Nur dass es eigentlich nicht seine Art war, zu schmollen oder sich zu verstecken. Er war ein zurückhaltender Junge, der die Wutanfälle und die emotionalen Entgleisungen anderer Kinder normalerweise mit nüchternem Interesse beobachtete und wie eine seltsame Form von Straßentheater bestaunte.
Martin versuchte, diesen zugedeckten Klumpen Mensch, der sein Sohn war, zu kitzeln. Er wusste nicht, welchen Teil von Jonah er berührte. Er griff einfach mit einer steifen Hand nach ihm und hoffte, ihm ein Lachen zu entlocken, irgendein freudiges Geräusch. Früher hatte das gut funktioniert. Einmal mit dem Finger reingepiekt, schon hatte das Kind hemmungslos gekichert. Aber Jonah sagte nichts und bewegte sich nicht.
»Wir haben dich einfach so lieb. Weißt du?«, sagte Martin. »Deshalb wollen wir es dir gern zeigen. Das ist ein schönes Gefühl.«
»Für mich nicht. Ich habe dieses Gefühl nicht.«
»Welches? Was meinst du?«
Verwirrt setzten sie sich zu ihm und versuchten, ihm den Rücken zu reiben, aber er war ganz an den Rand des Bettes gerutscht und drückte sich fast gegen die Wand.
»Ich hab euch nicht lieb«, sagte Jonah.
»Ach komm«, sagte Martin. »Du bist bloß müde. Sag doch nicht so was. Ruh dich erst mal aus.«
»Ihr habt mir immer beigebracht, ich soll die Wahrheit sagen, und jetzt sage ich die Wahrheit. Ich. Habe. Euch. Nicht. Lieb.«
So etwas kam vor. Kinder testeten ihre Bindungen aus. Sie versuchten, einen wegzustoßen, nur um zu sehen, wie weit sie gehen konnten, bevor sie einen wirklich verloren. Als Elternteil steckte man den Hieb ein und schärfte das Messer sogar noch einmal, bevor man es den kleinen Satansbraten gab, die damit sofort auf einen losgingen. Hatte Martin zumindest gehört.
Sie blieben an Jonahs Bett, sagten ihm immer wieder, er hätte einen langen Tag gehabt - dabei war es ein stinknormaler Tag gewesen - und am nächsten Morgen würde es ihm besser gehen.
Martin kam sich vor wie ein Roboter, während er all das sagte. All das dachte. Sie konnten nichts weiter tun, als den Jungen einfach schlafen zu lassen, damit sich alles wieder einrenkte.
Unten räumten sie schweigend die Küche auf. Rachel war beunruhigt oder auch nicht, er wusste es nicht genau und fragte auch lieber nicht nach. In gewisser Weise fand Martin das Ganze faszinierend. Wenn er Jonah wäre, zehn Jahre alt, nicht auf den Kopf gefallen und gerade dabei, die Welt zu erschnuppern und seinen eigenen Standpunkt zu finden, wäre es vielleicht lohnenswert, diesen Bereich einmal auszutesten. Die weichen, warmen, dummen Versorger abschütteln, die einen unablässig mit Möglichkeiten umgarnten und einem jeden Wunsch von den Augen ablasen. Guter Schachzug, Jonah, aber fällt dir nach so einer starken Eröffnung auch noch mehr ein? Wie weiter?
Im Laufe der nächsten Wochen blieb Jonah bei seiner Erklärung und bewegte sich durch ihr Leben wie ein Kriegsgefangener, der die strikte Weisung hatte, nicht zu sprechen. Er duldete die Anwesenheit seiner Eltern und rang sich morgens, wenn er zur Schule ging, gerade mal ein Tschüss ab. Sobald er nach Hause kam, räumte er seine Jacke und seine Schuhe weg und erledigte unaufgefordert seine Hausaufgaben. Zwischendurch nahm er sich etwas zu essen. Er griff nach einem Glas und füllte es am Wasserhahn. Wenn er fertig gegessen hatte, stellte er sein Geschirr in die Spülmaschine. Martin, der nachmittags von zu Hause aus arbeitete, beobachtete all das beeindruckt, aber auch mit Sorge. Immer wieder bot er ihm Hilfe an, aber Jonah lehnte dankend ab, er komme allein zurecht. Zur Schlafenszeit wirbelten Martin und Rachel umso mehr um Lester herum, der sich mit seinen sechs Jahren wieder wie ein Baby benahm und die zusätzliche Aufmerksamkeit förmlich aufsog. Jonah bestand darauf, ohne Küsschen und ohne Umarmung gute Nacht zu sagen. Jeden Abend um acht Uhr machte er die Tür hinter sich zu und verschwand.
Wenn Martin oder Rachel seinen Blick erhaschten, lächelte er sie an. Aber es war ein künstliches Lächeln, so viel stand fest. War ein Junge in seinem Alter zu so etwas in der Lage?
»Aber klar«, sagte Rachel. »Meinst du, er weiß nicht, wie man etwas vorspielt?«
»Doch, natürlich weiß er das. Aber das hier ist schon was anderes, überleg doch mal. Dass er so tun muss, als würde er sich freuen, uns zu sehen. Also, erstens, was hat er überhaupt? Und zweitens, das wirkt einfach so . erwachsen. Auf die denkbar schlimmste Art. Ein falsches Lächeln. So was setzt man als Werkzeug gegenüber Fremden ein.«
»Ich weiß nicht. Er ist zehn. Er hat soziale Fähigkeiten. Er kann seine Gefühle verbergen. So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht.«
Martin sah seine Frau an.
»Okay, du meinst also, es ist alles in Ordnung?«
»Ich meine, vielleicht entwickelt er sich einfach weiter, und das gefällt dir nicht.«
»Aber dir schon, oder was? Willst du das damit sagen? Dass dir das gefällt?«
Er war laut geworden. Er hatte sich nur ganz kurz nicht im Griff gehabt, und wie jedes verfickte Mal war das Gespräch damit sofort beendet. Rachel hob die Hand, und weg war sie. »Ich spreche nicht mit dir, wenn du so bist«, hörte er sie aus dem Nebenzimmer sagen.
Okay, dachte er. Dann halt nicht. Reden wir eben ein andermal, wenn ich nicht so bin, also nie.
Jonah, so stellte sich heraus, legte dieses Verhalten nur seinen Eltern gegenüber an den Tag. Eine vorsichtige Nachfrage bei seiner Lehrerin ergab nichts. In der Schule lief alles bestens; er wirkte nicht zurückgezogen, hatte erfolgreich ein Teamprojekt über die Antarktis geleitet, rannte in den Pausen herum und spielte. Rannte herum und spielte? Über was für ein Tier sprachen sie hier? Jonah sei allseits beliebt, lautete das Urteil, und dann kam noch irgendein Bullshit von wegen, wie fröhlich er wirkte. »Wirkte«, ja, genau. Wirkte! Wenn man ein Idiot war, der den Jungen nicht kannte, und keinen blassen Schimmer von menschlichem Verhalten hatte.
Zu Hause kümmerte sich Jonah geradezu rührend um seinen Bruder, las ihm vor, spielte mit ihm und ließ Lester sogar auf seinen Rücken klettern, um mit ihm durchs Haus zu reiten, was früher, als Jonah an Lester nur ein theoretisches Interesse gezeigt hatte, alles ziemlich verboten gewesen war. Lester war hin und weg. Er hatte plötzlich einen neuen Freund, den älteren Bruder, den er anbetete und der ihm früher kaum Beachtung geschenkt hatte. Das Leben war schön. Aber Martin kam es wie eine kalkulierte Zurschaustellung vor. Indem er sich seinem Bruder gegenüber so betont liebevoll verhielt, schien Jonah zu sagen, »Da, schaut her, was ihr nicht mehr bekommt. Seht ihr? Das kriegt ihr nicht mehr. Fickt euch.«
Martin nahm es zu persönlich, das wusste er. Vielleicht weil es was Persönliches war.
Als Jonah eines Abends sein Essen nicht anrührte, fragten sie ihn, ob er irgendetwas anderes wolle, und weil er nicht antwortete, eigentlich seit ein paar Wochen nicht, oder höchstens in Einwortsätzen, knapp und förmlich, warfen Martin und Rachel ihre Prinzipien über Bord, die goldenen Elternregeln, an die sie sich immer gehalten hatten, und versuchten es mit Bestechung. Sie lockten ihn mit Eiscreme und dann mit diesen Monstrositäten, die heutzutage als Lutscher durchgingen, Tierfiguren mit Gesichtern oder -hüten, die Jonah früher mehr oder weniger willenlos gemacht hatten. Als Jonah weiterhin schwieg und irgendwie blutleer wirkte, bot Martin seinem Sohn Marshmallows an. Jetzt sofort könne er welche haben. Wenn er nur verdammt noch mal den Mund aufmachte.
»Du bedrängst ihn aber auch immer so«, sagte Rachel später zu ihm. »Da bleibt ihm ja keine Luft zum Atmen.«
»Du meinst also, er ist so still, weil ich mir wünsche, dass er spricht?«
»Hilfreich ist es sicher nicht.«
»Während dein Ansatz ja wahnsinnig gut funktioniert.«
»Mein Ansatz? Du meinst, dass ich seine Mutter bin? Ihn so liebe, wie er ist? Aufpasse, dass ihm nichts passiert? Ja, wirklich wahnsinnig gut.«
Er drehte sich um und schloss die Augen, während Rachel das Leselicht an ihr Buch klippte.
Wie es aussah, würden sie diese Sache schweigend aushandeln.
Nun ja. Sie hatten ihr eigenes Eheversprechen niedergeschrieben und einander »größtmögliche Ehrlichkeit« geschworen. Wobei sie nicht konkret formuliert hatten, dass sie strengstmöglich die Fehltritte des jeweils anderen überwachen und wie Faktenchecker den kleinsten Fehler des anderen benennen würden, vielleicht in dem Glauben, dass ihre Ehe nur dann gedieh, wenn sie sämtliche persönlichen Verfehlungen und Missetaten an der Wurzel packten. Auf diese Mission hatten sie sich stillschweigend begeben.
Als Martin am Morgen aufstand, saß Jonah...
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