Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1. Kapitel
Hannover und Linden, Anfang August 1852
Seit den ersten Anzeichen ihrer Schwangerschaft hatte Sophie in Angst gelebt. Und es war nicht leichter geworden, seit ihr Sohn auf der Welt war. Es kam ihr vor, als stünde sie mit ihm in den Armen in der Mitte eines zugefrorenen Sees auf einer brüchigen Eisdecke.
In jeder wachen Stunde hatte sie damit gerechnet, dass ihr Ehemann vor sie hintreten und sie damit konfrontieren würde, dass er die Wahrheit erkannt hatte. Dass er sie und ihr Kind verfluchen und aus dem Haus werfen würde. Doch die Tage vergingen, ohne dass das Furchtbare geschah. Ernst konnte wenig mit dem Säugling anfangen und beschäftigte sich selten mit ihm. Von Misstrauen war ihm jedoch nichts anzumerken.
Auch ihre Eltern, ihre Schwestern und die Großmutter, die Alexander oft in den Armen hielten, schöpften keinen Verdacht. Niemand betrachtete den Kleinen stirnrunzelnd und merkte an, dass er statt seinem angeblichen Vater viel stärker einem anderen Mann ähnelte.
Sophie hatte sich selbst wohl tausendmal gesagt, dass so eine Ähnlichkeit noch lange nicht zu erkennen sein würde. Dennoch hatte sie in den ersten Wochen täglich danach gesucht. Erst vor Kurzem hatte sie eingesehen, dass ihr Urteil nicht zählte. Sie würde den Mann, den sie liebte, jederzeit in ihrem Sohn erkennen, weil sie wusste, dass er der Vater war. Und deshalb, weil seine Züge ihr so viel vertrauter waren als allen anderen, die mit ihrem kleinen Alex zu tun hatten. Sie glaubte nicht, dass irgendjemand aus ihrer oder Ernsts Familie sich jemals einen Fabrikarbeiter so genau angesehen hatte, dass er ihn aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können - so wie sie es bei Karl gekonnt hätte.
Dennoch blieb die Angst, und nach und nach hatte Sophie verstanden, dass sie von nun an für lange Zeit Teil ihres Lebens sein würde. Sie konnte sich von ihr lähmen lassen und stocksteif in der Mitte des Sees auf dem Eis stehen bleiben. Oder sie bewegte sich behutsam voran, vertraute auf ihr Glück und setzte darauf, dass sie eines Tages wieder sicheres Land erreichen würde.
Zwei Wochen nach Alexanders Taufe lieferte ein Stellmacher einen eigens nach Sophies Wünschen angefertigten kleinen Wagen zur Villa der Draves. Er war einer englischen Neuheit nachgeahmt und ähnelte dem Stubenwagen, den sie, wie die meisten bessergestellten Familien, für ihren Säugling besaß. Mit seinem gut gefederten kleinen Fahrgestell und dem wetterfesten Verdeck eignete er sich jedoch dafür, sich damit im Freien fortzubewegen.
Sophie hatte das kleine Gefährt noch vor ihrer Niederkunft bestellt, als sie sich durch die Schwangerschaft bereits von der aufgezwungenen Enge ihres Bewegungsspielraums zermürbt gefühlt hatte. Die Aussicht, das Kind von Anfang an ohne großen Aufwand mit sich nehmen zu können, auch wenn sie einmal ohne Begleitung ausgehen wollte, hatte sie unwiderstehlich gefunden - obwohl ihre Mutter über ihre sonderbare Idee missbilligend den Kopf geschüttelt hatte. Für Kinder, die schon sitzen konnten, war zwar ein Wägelchen durchaus üblich, liegende Säuglinge wurden hingegen in der Regel auf ihrem Kissen getragen, wenn man mit ihnen ausging. Häufiger ließ man sie zu Hause und stellte sie allenfalls mit ihrem Körbchen oder Stubenwagen in den Garten. Ihre Mutter hielt das für die einzig richtige Art, mit den Kleinen umzugehen. Um ihr das Gegenteil zu beweisen, beschloss Sophie, gleich am Nachmittag die erste Probeausfahrt zu ihrem Elternhaus zu machen und ihre Mutter mit einem Besuch zu überraschen.
Sie hatte allerdings unterschätzt, wie viel Vorbereitung nötig war, um für diesen einfachen, kurzen Nachmittagsbesuch mit dem Säugling gewappnet zu sein, doch irgendwie gelang es ihr mit Unterstützung durch ihr Dienstmädchen, alles Notwendige im Korb des Wagens zu verstauen. Glücklicherweise brauchte ihr fünf Wochen altes Söhnchen noch nicht viel Platz.
Sie wurde rasch zur Attraktion, als sie in der Sommersonne mit dem neuartigen Kinderwagen und einem aufgespannten Sonnenschirm in der Hand losschob. Bekannte und ihr völlig fremde Personen beäugten sie, und einige sprachen sie darauf an, ob diese Art der Fortbewegung für so ein kleines Kind nicht ungeeignet sei. Neugierig spähten sie in den Korb, wo Alexander lag und anfangs noch munter mit den Händchen wedelte, bald jedoch selig schlief. So wurde der Weg von der Drave'schen Villa am Rand von Hannover über die Ihmebrücke zur Brinkhoff'schen Villa am Rande des Nachbarorts Linden fast schon zum Spießrutenlauf. Beinah bereute Sophie ihren Entschluss, doch am Ende entschädigten sie die überraschten Gesichter ihrer Mutter und der Großmutter.
Zu Sophies Bedauern verflog die Freude über ihren Besuch jedoch bald. Großmama war müde und musste sich für ein Schläfchen zurückziehen, und ihre Mutter fand allzu bald zu ihrem derzeitigen Lieblingsthema: die Verfehlungen ihrer erstgeborenen Tochter Dorette gegen ihr Kind und ihren Ehemann. An anderen Tagen hätten Sophies jüngere, noch unverheiratete Schwestern möglicherweise für Ablenkung gesorgt, doch die drei waren noch in der Schule, wo sie für die Aufführung eines Theaterstücks probten.
Der Nachmittag zog sich in die Länge, dennoch konnte Sophie sich nicht aufraffen, sich einfach zu verabschieden. Bis sie sich schließlich eingestand, dass es ihr an diesem Tag noch um etwas anderes gegangen war als nur darum, ihre Mutter und die Großmutter zu sehen. Der Besuch war ein willkommener Anlass gewesen, um allein mit Alexander nach Linden und damit in die Nähe der väterlichen Fabrik zu spazieren.
Nach einem Blick auf die neue Standuhr mit den vergoldeten Schnitzereien erhob sie sich eilig und küsste ihre Mutter auf die Wange.
»Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt so hastig aufbreche, aber mir kam gerade der Einfall, dass ich es noch schaffen könnte, Vater zu überraschen, wenn er aus dem Kontor kommt. Alex und ich werden bei der Fabrik auf ihn warten. Anschließend gehe ich von dort rasch nach Hause.«
Ihre Mutter schlug die Hände zusammen und verdrehte die Augen zur Decke. »Du und deine Einfälle. Du könntest deinen Vater auch hier überraschen, wenn er heimkommt. Dazu müsstest du nicht in die Nähe der grauenhaften Fabrik gehen. Und später könnte dich Heinrich zurück nach Hannover kutschieren. Ich muss sagen, je älter ich werde, desto abstoßender finde ich alles, was mit den Fabriken und ihren ewig qualmenden Schornsteinen zu tun hat. Es werden immer mehr, und sie werden immer größer! Der Rauch dringt ja inzwischen sogar schon bis hier ins Haus, wenn der Wind ungünstig steht. Ich verstehe nicht, warum du dir und dem Kleinen das antun willst. Aber ich weiß schon, jede Gegenrede meinerseits fällt bei dir auf unfruchtbaren Boden.«
Sophie zwang sich zu einem unbeschwerten Lachen. »Du übertreibst, Mutter. Ich schätze deinen Rat. Aber was die Fabrik angeht, sind wir nun einmal unterschiedlicher Ansicht. Ich bin bereit, die Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Und Alex wird später den größten Teil seines Lebens in den Werksgebäuden verbringen, wenn es nach Vater geht. Er darf also ruhig schon einmal einen Blick darauf werfen. Wir werden ja nicht lange bleiben.«
In Wahrheit hatte sie nicht vor, mit Alex auf der Straße zu warten, doch darüber wollte sie mit ihrer Mutter nicht diskutieren müssen. Sie baute darauf, dass die Begeisterung ihres Vaters über den Überraschungsbesuch seines ersten Enkelsohns größer sein würde als sein Unwille über die Störung bei seiner Arbeit und ihre Anwesenheit in der Fabrik.
Den Kinderwagen ließ sie vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes stehen. Sie ging mit Alex auf dem Arm hinein und stellte sich der Welle von Gratulationen und erstaunten Entzückensäußerungen der Angestellten, um sich zu ihrem Vater durchzufragen. Er war mit seinen Ingenieuren in einem Besprechungszimmer, und ein wenig unwohl war Sophie nun doch zumute, weil einer der Bürodiener die Besprechung unterbrechen und ihn zu ihr herausrufen musste. Sie hatte angeboten zu warten, war aber überstimmt worden.
»Herr Brinkhoff, verzeihen Sie bitte die Störung, aber Sie haben Besuch«, sagte der junge Mann, nachdem er angeklopft und den Kopf zur Tür hineingesteckt hatte.
Verlegen rückte sie Alex in ihrer Armbeuge zurecht und richtete sich gerade auf. Ihr Vater kam mit gerunzelter Stirn und finsterer Miene aus dem Zimmer. Doch als er sie sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht.
»Na, das ist nach dem ganzen Ärger heute endlich mal eine schöne Überraschung!« Er öffnete die Tür zum Besprechungszimmer weit und wandte sich kurz den Männern darin zu. »Meine Herren, ich habe das Vergnügen, Ihnen den zukünftigen Lenker des Brinkhoff'schen Imperiums vorzustellen: mein Enkelsohn Alexander. Meine Tochter kennen Sie bereits: Sophie, verehelichte Drave. Komm zu uns herein, mein Schatz, damit die Herren euch Guten Tag sagen können!«
Sophie tauschte höflich Grüße mit den Anwesenden aus, während ihr Vater Alex auf den Arm nahm und herumzeigte. Schließlich trat sie an die Seite ihres Vaters und ließ sich ihren Sohn zurückgeben.
»Kann ich eine Minute mit dir sprechen, Vater?«
Er runzelte die Stirn, ging aber ohne Einwand mit ihr vor die Tür.
»Ist es am Ende doch etwas Schlimmes, was dich hergetrieben hat?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Ich dachte nur, wo ich schon einmal hier bin . Ich wollte doch so gern einmal den Salonwagen sehen, den ihr für König Georg baut. Bisher hatte ich ja keine Gelegenheit dazu. Meinst du, ich kann einen kurzen Blick darauf werfen?«
Ihr Herz klopfte heftig, und sie musste sich Mühe geben,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.