Schweitzer Fachinformationen
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Der Ruf der Lotosblume
Nelumbo nucifera
Sanfter, blumiger Duft Bei Stimmungsumschwüngen, überraschenden Nachrichten Wirkung: angstlösend, beruhigend, aufhellend
»Noch bevor das kommende Jahr rund ist, wird dein Herz brennen!«
Eine Flamme flackerte zwischen Fräulein Christines Fingern auf und verlieh ihrem Gesicht einen goldenen Schein. Irritiert starrte ich mit ihr in das Licht, das sich das Zündholz entlangfraß. Sie runzelte mit so düsterem Ausdruck die Stirn, als könnte sie tatsächlich in die Zukunft blicken, nun aber nichts Gutes mehr darin entdecken.
Mit ihren rostfarbenen Wangen, den Flecken auf dem Nasenrücken, die das Brillengestell hinterließ, und ihrem hervorquellenden Hals wirkte sie auf mich nicht wie eine echte Wahrsagerin. Doch was wusste ich schon darüber? Vergleichsmöglichkeiten hatte ich keine, Tante Mirelle war die Einzige in unserer Familie, die sich für Spiritismus interessierte.
Der Blick der Seherin jedoch war der einer Kennerin gewesen. Kaum hatte ich wenige Minuten zuvor ihre eisige Küche betreten, war er unauffällig an mir hoch- und wieder heruntergeklettert. Weiblich, schien sie zu denken, und recht jung, alt genug jedoch, um schon verzweifelt zu sein; dunkles, wild gelocktes Haar, das ich nur mit Mühe unter den Hut gestopft hatte, dazu ein schmaler grauer Rock und ein Wollmantel, der bessere Tage gesehen hatte. Auf Wohlstand ließ mein Äußeres nicht schließen, auf Armut aber auch nicht. Meine Finger, die in meinen besten und einzigen Handschuhen steckten, umklammerten zudem etwas, das mich eindeutig als berufstätig auswies: eine lederne Schultasche. Der Rest war einfach. Lehrerin, schien sie zu folgern. Ergo unverheiratet. Ergo auf der Suche nach einem Mann.
»Lichterloh wird dein Herz brennen, wie dieses Zündholz hier«, schloss sie.
»Tatsächlich?«, murmelte ich und gab mir nicht einmal Mühe, interessiert zu klingen.
Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und schnippte das Zündholz ins Feuer. Das Huhn, das eine Weile leblos in ihrer linken Hand gehangen hatte, begann grell zu gackern. Ich zuckte zusammen. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Ha, schien sie zu denken. Du willst mir weismachen, du brauchst keinen Mann? Du musst mir nichts vorgaukeln, Kind. Eine Frau bleibt eine Frau. Und jede will einen Mann!
Ich spürte ein wütendes Prickeln in mir aufsteigen. Doch bevor ich den Mund öffnen konnte, fiel mein Blick auf das Fenster, gegen das Schneeregen klatschte. Von den Scheiben rannen gräulich verfärbte Tropfen herab. Wenn es im Klassenzimmer behaglich warm sein sollte, bevor meine Schülerinnen eintrafen, musste ich los, und zwar rasch.
»Könnte weiße Weihnachten geben«, gab Fräulein Christine von sich. Ihre Stimme klang wie ein rostiges Knirschen. »Wenn das Wetter endlich macht, was es soll.«
»Ich würde dann gern .«
»Verrücktes Jahr, 1913, was? Neuschnee im Mai, Herbst im Sommer, Aprilwetter im November. Immerhin jetzt scheint's kalt zu werden, wie's kalt sein soll. Heiligabend mit Schnee, das wär doch was.«
»Gut, dann .«
Die Seherin hielt das Huhn in die Höhe, das eben noch neben seinen Kameradinnen im Hof gegackert hatte.
»Lebendig oder tot?«
Ein schlechtes Gewissen stieg in mir auf. Doch eine kräftige Suppe heute Abend war genau das Richtige bei diesem Wetter.
Sie schlenkerte das Tier. »Also was?«
»Tot«, murmelte ich und griff nach meiner Geldbörse.
Ein Knacken ertönte. Wieder zuckte ich zusammen und wandte den Kopf ab.
»Vier Uhr«, sagte sie. »Freitag. Dass deine Tante ja pünktlich ist. Ich hab nicht viel Zeit.«
Ich musste mich überwinden, den ruck, zuck in Papier eingeschlagenen und noch warmen Vogel entgegenzunehmen. Hergekommen war ich, um eine Verabredung für Tante Mirelle auszumachen. Verlassen würde ich die beengte, kalte Wohnung zu meiner Überraschung nun nicht nur mit einem Termin für Mirelle, sondern auch einem Huhn sowie der Aussicht, mit meinen fünfundzwanzig Jahren doch noch unter die Haube zu kommen. Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, in mich hineinzuschnauben, und zählte das Geld in Fräulein Christines ausgestreckte Hand.
Auf der Straße umfing mich kühle Morgenluft. Ich atmete tief ein, presste das Huhn und meine Tasche an mich und rutschte mehr, als dass ich lief, über die mit Laub bedeckten Gehsteige.
Zwei Wochen vor Heiligabend schien sich der Herbst tatsächlich zu verabschieden. Nebel verschluckte jeden Laut, Passanten tauchten so plötzlich auf, wie sie wieder in den Wolkenfetzen verschwanden. Die Automobile hatten ihr Tempo auf den mit Frost überzogenen Straßen gedrosselt, Omnibusse und Straßenbahnen ebenso. Eine ungewohnte Stille beherrschte Berlin. Die Stadt, die nie fertig wurde, wo ständig gebuddelt, gehämmert und gebrüllt wurde und über der sonst eine immerwährende Geräuschkulisse aus Motorenknattern, dem Rauschen der Hochbahn und Quietschen der Straßenbahnen lag, wagte eine Pause, und niemand protestierte.
Schon hatte ich die Untergrundstation erreicht und drängte mich in den Zug, der mich raus aus der Stadt nach Charlottenburg bringen sollte. Während ich meinen Blick über die Fahrgäste wandern ließ und mal an einer hervorstechenden Nase hängen blieb, dann an einem wagenradgroßen Hut, den seine Besitzerin so fest umklammert hielt, als wollte sie ihn sich bis zu ihren Schultern ziehen, fragte ich mich, ob Tante Mirelle und die Seherin unter einer Decke steckten. Immerhin wünschte sich Tante kaum etwas mehr, als dass meine drei Jahre ältere Schwester und ich endlich unter die Haube kämen. In allen erdenklichen Sprachen hatte sie schon gezetert, geschrien und um Gottes Beistand gefleht. Aber weder er noch wir ließen uns erweichen. Ich liebte meinen Beruf viel zu sehr, um ihn für einen Ehemann aufgeben zu wollen. Und Adele . Nun, Adele sammelte Verehrer zwar wie andere Leute Briefmarken, sich binden jedoch wollte sie nicht.
Genauer betrachtet machte der Gedanke natürlich nicht viel her. Fräulein Christine war eine Betrügerin, nichts weiter. Niemals hätte Tante es fertiggebracht, ohne meine Hilfe zu ihr zu gelangen. Was hätte es auch genutzt? Nur weil mir jemand etwas Dummes prophezeite, würde es noch lange nicht geschehen.
Zufrieden mit dieser Erkenntnis, schloss ich die Augen und genoss die einschläfernde Ruhe im Abteil. Der Tag würde anstrengend genug werden. Eine kleine Pause früh um halb sieben hatte ich mir verdient.
In der Zweizimmerwohnung im ersten Stock eines Charlottenburger Mietshauses, in der die Irmgard-Solf-Schule untergebracht war, empfing mich feuchte Kälte. Wie angenehm wäre es, jetzt wie an einer Knabenschule den Schuldiener zu begrüßen, der die Öfen schon geheizt und die Stühle auf den Boden gestellt hätte! Doch noch war in unserem Lyzeum einfach alles vorläufig, die Frage der Finanzierung ebenso wie der Lehrplan und die Zahl der im kommenden Schuljahr aufzunehmenden Schülerinnen. Sowie das Gebäude, in dem meine Kollegin Fräulein Feltner, die Mädchen und ich uns aber gut eingelebt hatten.
Hut und Mantel behielt ich an, während ich die Tür hinter mir schloss und den schmalen Gang zur Küche entlanglief. Es war stockdunkel, doch ich kannte jeden Riss im Holzboden und jedes Mäuseloch und lächelte nur still in mich hinein, als mich der gekrümmte Fingerknochen des menschlichen Skeletts streifte, das Fräulein Feltner und ich hinter dem schweren Samtvorhang verborgen hielten. Ich hatte es vor Kurzem in einem Kaufhaus entdeckt und für den Naturkundeunterricht mitgebracht, den ich im nächsten Schuljahr einführen wollte. Direktor Knollinger, der ausschließlich zu Festlichkeiten hier erschien, war am Nikolaustag fast ohnmächtig geworden. Es handle sich schließlich um einen unbekleideten Mann, hatte er gezischt und den sofortigen Abtransport angeordnet. Glücklicherweise würde er voraussichtlich erst Ostern wieder hier auftauchen. Bis es so weit war, hatte ich mir längst ein besseres Versteck für das Knochengerüst überlegt.
Ein paar Schritte noch und ich stand in der Küche, in der nicht nur der Herd, ein Tisch mit aufeinandergestapelten Stühlen und ein Schrank mit Geschirr Platz fanden, sondern auch sämtliches Zeichenmaterial sowie die Matten für den Turnunterricht. Ich drehte die Gaslampe auf und griff nach dem Kohleeimer. Meine Finger waren trotz der Handschuhe rot, die Haut rissig, doch immerhin nicht mehr so klamm, dass mir die Schaufel mit den Briketts abgerutscht wäre. Vorsichtig ließ ich Kohle in die Ofenöffnung klackern, stopfte Papier darunter und ratschte an einem Zündholz. Wieder kamen mir Fräulein Christines Worte in den Sinn, und ich pustete eine Spur zu heftig die Flamme aus, verschloss die Ofentür und trat ans Fenster. Hellblaue Schlieren zeigten sich am Himmel. Hinter mir knisterten die Zeitungen im Ofen, eine erste Ahnung von Wärme schlich heran. Ungelenk versuchte ich, die Knöpfe meines Mantels zu öffnen, als aus dem Treppenhaus Getrappel erklang. Wenig später ertönte die Klingel.
»Guten Morgen, Fräulein Wallenstein«, flüsterte Marga, das Gesicht rund und bleich wie der Vollmond.
Hastig zog ich sie herein, trieb sie in die Küche und goss ihr einen Becher dampfender Milch ein. Sie schloss die Augen, während sie in langsamen Schlucken trank, klopfte sich warm und fragte, nachdem sie den Becher wieder abgestellt hatte: »Los?«
»Los!«
Wir waren ein eingespieltes Team. Konzentriert reihte sie 25 Tassen nebeneinander und füllte bei jedem Klingeln eine...
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