Schweitzer Fachinformationen
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Ein alter Herbst auf der Bühne.
Da ist eine Imaginationslampe, die ein Band um die Gasse und das Haus windet. Die Atome des Tuffsteins haben den Weg von den Höhlen unter der Stadt bis zum Straßenpflaster zurückgelegt und eine Spirale aus Geistern und Spatzen bewacht. Die Hälfte der Fensterscheibe ist Meer. Wasser, das zwischen dem Vulkan und dem Golf in einem Graben hockt. Man sieht die Handelsschiffe mit ihren schwarzen Flanken, das Heck zum Horizont gewandt, den Bug zu den Marktständen am Kai. Die andere Hälfte der Scheibe malt die erstickte Enge der Palazzi und des Straßenpflasters. Dann steigt der Hügel mit den alten Häusern an, Schritt für Schritt gefolgt von der Himmelskappe. Auch unser Haus ist alt, wie die anderen im Vico. Stadtvillen, von Adeligen und Ärzten, zum Schutz vor der Schwindsucht erbaut, um hier frische Luft zu atmen. Ich habe es immer als imaginäres Haus empfunden, das angestrengt über den Grotten des Miradois-Hügels und der Via dei Cristallini schwebt. Wie die anderen, die mir mitsamt der Treppen und Gärten in den Knochen stecken. Dies ist die richtige Zuweisung, damit meine Mutter zuhört, jetzt, da sie tot ist. Dies Wiedergutmachen eines Schadens von einem Lebewesen am anderen. Bis hin zu ihrem Bett. Das aus Tuffstein besteht, mit Spuren von Schlamm, versteinerter Petersilie, Knoblauch und Zwiebeln, Früchten aus Terrakotta, zu ihren Füßen abgestellt. Hilfsmittel, die zu einer erdachten Form der Nahrungsvorsorge zwischen Lebenden und Toten gehörten.
Sie geht die Stufen der Centoscale hinunter, die Augen auf den Boden geheftet. Da sind Schnecken, die am Mauerwerk kleben, und über ihrem Kopf schwebt eine Säule aus niedrigen Wolken. Ich komme sofort zurück, sorgt euch nicht, hat sie zu mir und meinen Geschwistern gesagt, bevor sie ging. Sie wird nicht sofort zurückkommen. Sie muss auf der Spirale der gewundenen Rampe und über die Gassen gehen, sie muss die barfüßige Frau sein, wenn ihr ein Absatz bricht, die Fässchen vor den Kellern streifen, an den Nischen mit Heiligenbildern stehen bleiben, ins Gesichtsfeld der Esel vor den Obstkarren kommen, an den Ecken verlassener Kreuzgänge abbiegen, unter Körben hindurchgehen, die an Balkonen hängen, ihre Fußsohlen den Serpentinen der Gassen anpassen, viele Kreise um die Gräben in den Leisten der Stadt ziehen. Sie muss den Lockrufen der Marktschreier widerstehen, der Lust, ein Huhn zu stehlen, das aus einem Basso weggelaufen ist, der Versuchung, sich etwas aus den vollen Körben zu schnappen, heftig auf eine Beleidigung oder ein schlüpfriges Kompliment zu reagieren, sich auf den Rand des ausgetrockneten Brunnens zu setzen, um auszuruhen und begehrliche Blicke auf die hauchdünnen Unterröcke zu werfen. Sie muss sich in Hitze reden, wenn sie Rabatt fordert, sich in den Schatten unter dem Bogengang stellen, aus einem Fondaco-Gewölbe herauskommen, das den Weg abkürzt, alles Nötige einkaufen, durch einen obszönen Gesang und eine Prozession qualmender Kerzen im Vico dei Cristallini hindurchgehen, keine Miene vor einem Bettler verziehen, der ihr den Weg versperrt, sagen, ich habe nichts, oder nichts sagen, doch mit zusammengebissenen Zähnen fluchen, »stu muorto 'e famme, iesse a fatica«, soll er doch arbeiten gehen, der Hungerleider, und mit der Last der vollen Taschen wieder hinaufsteigen, Sardinen, Kartoffeln, Obst, Zwiebeln, Knoblauch, alles, was ernährt und ihr von Zeit zu Zeit einen Seufzer entlockt, nach oben, zur Steigung hin, die sie noch zurücklegen muss, bevor sie zu Hause ankommt.
Ich gehe hinter ihr her und entdecke nach und nach das Mitleid. Mit mir und mit ihr. Mit diesen Mauern längs der Treppengassen, die Flanken der Berge waren, mit den Rissen, den Gärten, den Nattern, den Felswänden, den Grotten. Meine Mutter geht mit einem geheimnisvollen Schritt. Sie weiß, dass unter den Pflastersteinen die antike Stadt liegt. Den Eingang hat sie mal gesehen, im Basso von Sisina, der Schmugglerin, die im Vico dei Cristallini Nummer 133 wohnt. Ich war auch dabei. Sisina öffnete eine hinter dem Kopfende des Bettes versteckte Tür.
»Schaut, Vincenzì, da ist eine Treppe ... Mir macht die Angst. Nur der Hausbesitzer und die von der Stadtverwaltung sind runtergestiegen. Er sagt, irgendwann fangen sie an zu graben, denn hier unten gibt's viele Höhlen, die reichen bis nach Capodimonte ... Da sind Tote, Vincenzì ...«
Es war ein Loch, bedeckt mit tausendjährigem Staub. An den Wänden im Eingang hielt Sisina alte Nachttöpfe und Besenstiele bereit. Meine Mutter spähte energisch ins Dunkel, aber sie sah keine Knochen und traurige Gräber. Nachdenklich flüsterte sie: »Macht die Tür zu, Donna Sisì, hier kommen die Ratten hoch.«
Doch auf dem Heimweg sprach sie nicht und hielt die Augen öfter als sonst am Boden, auf jeden Lichtschimmer achtend, der durch die Risse zwischen den Pflastersteinen dringen mochte.
Ich malte mir aus, dass Fensterchen, Haustüren, Straßenpflaster, Bögen, Balkone, Marktstände, Waren, Menschenmengen, Dreck, Diebe, Händler, Bassi und Palazzi zusammen mit unseren Fußsohlen das Dach einer unter der Erde versteckten Stadt bildeten.
Das Feuer. Jetzt beobachte ich meine Mutter, die inmitten von Flammen zum Markt hinuntergeht. Die Morgensonne hat sie mit diesem Ring aus Feuer umgeben, und sie ist zu einem Schatten geworden, den ein starkes Licht umrahmt. Vielleicht ist es nicht mal ein irdisches Licht. So sehe ich sie und folge ihr bis zu den Töpfen und Tellern des letzten Marktstandes.
Im Untergrund der Stadt bin ich als kleines Mädchen gewesen, in der vierten Grundschulklasse. Unser Lehrer Nunziata war einer, der gerne den Führer auf Schulausflügen machte. Damals gingen wir in die Hypogäen an der Via Cristallini. Eine Reihe Mädchen, die andere Reihe Jungen. Annarella, meine Banknachbarin, hüpfte fröhlich, als ginge sie über eine ganz normale Straße. Die beiden Cerasuolo, der Abschaum des Vico und der Schule, spuckten auf den Boden und hoben den Mädchen die Röcke. Nunziata, lang und dürr, ging allen voran und spielte uns das große Abenteuer vor. Er fuchtelte mit den Armen, damit das Drama, das er erzählen musste, über unseren Köpfen erhaben und frevelhaft geriet. Ein verzückter Mann mit hagerem Körper, den schlotternden Kleidern des einsamen, schrulligen Lehrers und einem Bauerngesicht, das die dramatischen Züge eines irren Zauberers annahm, wenn er erklärte. Seine kurzen, dünnen Haare waren nach deutscher Art geschoren. Jede Unterrichtsstunde endete mit einer Phantasterei, die den Verdacht weckte, er hätte bis zu diesem Moment bei allem, was er vortrug, gelogen. Als wir zu den Löchern kamen, die er Zimmer nannte, sagte er, wir sollten vorsichtig sein und nichts anfassen.
»Was denn anfassen, Maestro, hier gibt's doch nur Staub!«
»Cerasuò, das ist die Geschichte, verstehst du? Die Geschichte!«
Angiulillo Cerasuolo verstummte, weil der Lehrer den Drohfinger um seine Nase kreisen ließ, und weil er eine besondere Begabung dafür hatte, nach jedem Tadel wieder in ein Schattendasein zurückzukehren. Angiulillo konnte alles Erdenkliche tun, ohne sich erwischen zu lassen. Nunziata blieb vor den in den Tuffstein gehauenen Betten stehen und fing an zu erklären. Er sagte, dass wir hier elf, zwölf Meter unter der Stadt standen, auf einem anderen Boden, und dass alles nach einer großen Überschwemmung begonnen hatte. Der Schlamm war über die Bogengänge, in die Zisternen und Tempel geflossen. Weil alles verschüttet worden war und eines Tages wieder ausgegraben werde, sei eine Art übernatürliches Schicksal entstanden. Wir steckten mittendrin. Man müsse dieses Schicksal akzeptieren und ihm zuhören, als öffnete die Erde das Bewusstsein.
Die heiligen Gegenstände hatten sie in die Wiegen gelegt, die mit Stofffetzen und Strohschichten ausgekleidet waren. Das Dröhnen war von oben gekommen, wie eine Aktivität der Erde, die versinkt. Nunziata kalkulierte ungerührt: Es hatte genug Zeit gegeben. Um den Leichnam des Mädchens im Trauerzug bis zum Grab zu tragen. Der Erdrutsch, der bei jedem Gewitter vom Berghang bei Capodimonte herunterkam, verhielt sich so wie jedes Jahr, wurde langsamer zwischen zwei Felswänden und grollte heftiger, wo er nicht auf Hindernisse und Ebenen stieß.
Nunziata war verrückt. Wir mussten uns das tote Mädchen vorstellen, den Esel, der mit geschlossenen Augen den Weg fand, und die Erde, die Bäume und Tiere mit sich gerissen hatte. Er sagte, der Erdrutsch habe beim Hinabstürzen...
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