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Zwei der drei sind gestorben, seit ich Oxford verlassen habe, und das bringt mich auf den abergläubischen Gedanken, dass sie vielleicht gewartet haben, bis ich kam und meine Zeit dort zubrachte, um mir Gelegenheit zu geben, sie kennenzulernen und jetzt von ihnen sprechen zu können. Es mag daher sein, dass ich - im selben Aberglauben - gezwungen bin, von ihnen zu sprechen. Sie starben erst, als mein Umgang mit ihnen aufhörte. Wäre ich weiter in ihrem Leben und in Oxford geblieben (wäre ich weiter tagtäglich in ihrem Leben geblieben), dann würden sie womöglich noch leben. Dieser Gedanke ist nicht nur abergläubisch, sondern auch eitel. Aber wenn ich von ihnen spreche, muss ich auch von mir sprechen und von meinem Aufenthalt in der Stadt Oxford. Obwohl der, der spricht, nicht der Gleiche ist, der dort war. Er scheint es zu sein, aber er ist es nicht. Wenn ich mich selbst ich nenne oder einen Namen benutze, der mich seit meiner Geburt begleitet hat und durch den sich einige an mich erinnern werden, oder wenn ich Dinge erzähle, die mit Dingen übereinstimmen, die andere mir zuschreiben würden, oder wenn ich die Wohnung, die vorher und nachher andere bewohnten, ich jedoch zwei Jahre bewohnte, als meine Wohnung bezeichne, dann geschieht dies nur, weil ich lieber in der ersten Person spreche, und nicht, weil ich glaube, jemand bleibe allein kraft des Erinnerungsvermögens in verschiedenen Zeiten und Räumen dieselbe Person. Wer hier erzählt, was er sah und erlebte, ist nicht der, der es sah und erlebte, aber auch nicht seine Fortsetzung, sein Schatten, sein Erbe oder sein Usurpator.
Meine Wohnung erstreckte sich über drei Stockwerke und war pyramidenförmig, und ich verbrachte viel Zeit in ihr, da meine Verpflichtungen in der Stadt Oxford so gut wie bedeutungslos oder inexistent waren. Tatsächlich ist Oxford eine der Städte der Welt, in der am wenigsten gearbeitet wird; die Tatsache, dazusein, ist dort sehr viel entscheidender als die Tatsache, etwas zu tun oder gar zu handeln. In Oxford zu sein erfordert ein solches Maß an Konzentration und Geduld und der Kampf gegen die natürliche geistige Lethargie eine derartige Anstrengung, dass es unangemessen wäre, von seinen Bewohnern überdies auch noch Aktivität zu verlangen, vor allem in der Öffentlichkeit, obwohl einige Kollegen sich stets im Eilschritt von einem Ort zum anderen zu bewegen pflegten, um den Eindruck ständiger Zeitnot und äußersten Beschäftigtseins in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden zu erwecken, die indes in allergrößter Ruhe und Gelassenheit abgelaufen waren oder ablaufen würden, bildeten sie doch einen Teil des Daseins und nicht des Tuns und auch nicht des Handelns. So war Cromer-Blake, und so war der Inquisitor, auch der Schlächter und The Ripper genannt, dessen wahrer Name Alec Dewar lautete.
Wer sich jedoch der ganzen vorgetäuschten Betriebsamkeit entzog und dem statischen oder stabilen Charakter des Ortes Gestalt und Ausdruck verlieh, war Will, der alte Pförtner des Gebäudes (der pompös und lateinisch genannten Institutio Tayloriana), in dem ich in Ruhe und Gelassenheit zu arbeiten pflegte. Noch nie habe ich einen so reinen Blick gesehen (schon gar nicht in meiner Heimatstadt Madrid, wo reine Blicke nicht existieren) wie bei diesem kleinen, zierlichen Mann von fast neunzig Jahren, der unveränderlich mit einer Art Blaumann bekleidet war und dem man gestattete, viele Vormittage in seiner gläsernen Pförtnerloge zu sitzen und die eintretenden Professoren zu grüßen. Will wusste nicht genau, an welchem Tag er lebte, und so geschah es - ohne dass jemand das Datum seiner Wahl hätte voraussehen oder gar wissen können, durch was es bestimmt wurde -, dass er es jeden Morgen in ein anderes Jahr verlegte und nach seinem Willen, oder besser gesagt wahrscheinlich ohne seinen Willen, in der Zeit vor- und zurückreiste. Es gab Tage, an denen er sich weniger seinem Glauben nach als tatsächlich im Jahr 1947 oder 1914 oder 1935 oder 1960 oder 1926 oder in irgendeinem anderen Jahr seines sehr langen Lebens befand. Bisweilen konnte man an einem leichten Ausdruck von Furcht erkennen, dass Will sich gerade in einem schlechten Jahr eingerichtet hatte (er war ein zu reines Wesen, um die Sorge zu kennen, fehlte ihm doch jede Vorausschau in die Zukunft, die stets mit diesem Gefühl verbunden ist), aber dieser Ausdruck ging nie so weit, dass er seinen vertrauensvollen und heiteren Blick verdüstert hätte. Man konnte vermuten, dass ein Morgen des Jahres 1940 für ihn von der Angst vor den Bombardierungen der vorangehenden oder der kommenden Nacht beherrscht war und dass ein Morgen des Jahres 1916 ihn in leichte Niedergeschlagenheit versetzte wegen der schlechten Nachrichten, die von der Offensive an der Somme kamen, und dass er an einem Morgen des Jahres 1930 ohne einen Penny in der Tasche erwacht war, mit dem tastenden, schüchternen Blick dessen, der sich etwas borgen muss und noch nicht weiß, bei wem. An anderen Tagen war die fast unmerkliche Gedämpftheit seines gewaltigen Lächelns oder des Glanzes seines herzlichen Blickes völlig unentzifferbar - nicht einmal mittels phantasiereicher Vermutungen -, weil sie zweifellos durch Kummer und Verdruss seines Privatlebens bedingt war, das keinen Studenten oder Professor je interessiert haben dürfte. Bei diesen ständigen Reisen durch seine Existenz war für die anderen fast alles unergründlich (wie bei Porträts aus vergangenen Jahrhunderten oder einer vorgestern aufgenommenen Fotografie). Wie konnten wir wissen, an welchem trübseligen Tag seiner zahlreichen Tage Will lebte, wenn wir sahen, dass er uns statt mit dem freudigen Gesicht der fröhlichen oder auch neutralen Tage nur mit einem halben Lächeln begrüßte? Wie sollte man wissen, welchen melancholischen Abschnitt seines endlosen Lebensweges er gerade durchlief, wenn er beim Gutentagsagen nicht mit kindlicher Gebärde die Hand hob? Jene senkrecht erhobene Hand, die dir die Überzeugung vermittelte, dass es in jener ungastlichen Stadt jemanden gab, der sich wirklich freute, dich zu sehen, obwohl dieser Jemand nicht wusste, wer du warst, oder, besser gesagt, dich jeden Morgen für einen anderen hielt als am Tag zuvor. Nur einmal erfuhr ich dank Cromer-Blake, in welchem Augenblick seines gleichförmigen Lebens, das sich so viele Stunden hinter den Scheiben seiner Pförtnerloge abgespielt hatte, Will sich gerade befand. Cromer-Blake wartete an der Tür des Gebäudes, bis ich kam, und mahnte mich: »Sag was zu Will, ein paar tröstende Worte. Es scheint, er lebt heute den Tag im Jahr 1962, als seine Frau starb, und es würde ihn sehr schmerzen, wenn jemand von uns vorbeiginge, als wüsste er nicht Bescheid. Er ist sehr traurig, aber seine angeborene gute Laune erlaubt ihm, seine heutige Rolle gerade so weit auszuleben, dass er sein Lächeln nicht völlig verloren hat. Also bis zu einem gewissen Grad ist er auch entzückt.« Und dann, den Blick nicht mehr auf mich gerichtet, setzte Cromer-Blake hinzu, während er sich über das vorzeitig ergraute Haar strich: »Hoffen wir, dass er nicht auf den Gedanken kommt, täglich bei diesem Datum zu bleiben: Dann müssten wir die Schwelle jeden Morgen mit einer Beileidsbezeugung auf den Lippen überschreiten.«
Will trug eine schwarze Krawatte zu dem weißen Hemd unter dem Blaumann, und seine wasserhellen Augen wirkten noch durchsichtiger und flüssiger als gewöhnlich, vielleicht weil er eine Nacht in Tränen und im Anblick des Sterbens verbracht hatte. Ich ging bis zur Tür der Pförtnerloge, die offen stand, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ich spürte seine Knochen. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte.
»Guten Tag, Will, auch wenn es für Sie ein schlechter Tag ist. Ich habe es gerade erfahren, es tut mir sehr leid, was kann ich Ihnen sagen?«
Will lächelte sanftmütig, und einmal mehr leuchtete sein rosiges Gesicht auf, das so rosig war, dass es völlig glatt wirkte. Er legte seine Hand auf meine und gab mir ein paar kraftlose Klapse, als sei er es, der mich tröstete. Cromer-Blake, mit seinem Talar über der Schulter, beobachtete uns (Cromer-Blake trug seinen Talar immer über der Schulter und beobachtete immer).
»Danke, Mr. Trevor. Es stimmt, was Sie gesagt haben, der Tag könnte nicht schlimmer für mich sein. Sie ist gestern Nacht gestorben, wissen Sie? Heute früh. Sie war schon einige Zeit etwas krank, aber nicht sehr. Heute früh bin ich aufgewacht, und sie lag im Sterben. Sie ist sofort gestorben, ohne Vorwarnung, ganz plötzlich, vielleicht wollte sie mich nicht wecken. Ich sagte ihr, sie solle warten, aber sie konnte nicht. Sie hat mir nicht mal Zeit gelassen, aufzustehen.« Will verstummte einen Augenblick und fragte: »Wie steht mir die Krawatte, Mr. Trevor? Normalerweise trage ich ja keine.« Dann lächelte er und fügte hinzu: »Aber sie hatte ein gutes Leben, glaube ich wenigstens, und kurz war es auch nicht. Sie müssen wissen, sie war fünf Jahre älter als ich. Fünf Jahre hatte sie mir voraus, jetzt kann ich es ja sagen. Jetzt werde ich der Ältere sein, vielleicht. Ich werde weiter meinen Geburtstag feiern, und vielleicht werde ich älter, als sie je gewesen ist.« Er fingerte an seiner Krawatte herum. »Und außerdem: Auch wenn der Tag schlecht für mich ist, so gibt es doch keinen Grund, Ihnen nicht einen Guten Tag zu wünschen. Guten Tag, Mr. Trevor.«
Die Hand erhob sich von der meinen - von seiner eigenen Schulter - nicht so luftig wie andere Male, aber sie erhob sich doch zu ihrem senkrechten Gruß.
An jenem Morgen befanden wir uns im Jahr 1962, und deshalb war ich Mr. Trevor. Hätte Will sich in den dreißiger Jahren eingerichtet, dann wäre ich Dr. Nott gewesen, und wäre er in den fünfziger Jahren gewesen, dann hätte er...
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