Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1
»Und das ist Ort, wo ich arbeiten.«
Kenan spürte, wie sich sein Brustkorb vor Stolz hob. Sie fuhren mit seinem Fahrrad auf das Firmengelände, sein sechsjähriger Sohn Tan saß auf der Stange vor ihm. Gerade passierten sie das Eingangstor, über das sich in schweren messingbeschlagenen Lettern meterbreit das Firmenlogo spannte: POSER PHARMA.
»Deutsche können sein froh, dass deine baba hierhergekommen.«
Er arbeitete nun schon seit sechs Jahren für diesen Pharmakonzern. Nachdem er 1973 zum ersten Mal deutschen Boden betreten hatte, begleitet von seiner schwangeren Frau Gül, hatte es nur wenige Tage gedauert, bis er die Anstellung als Industriemechaniker bei Poser Pharma bekommen hatte. Doch noch immer war es ein erhabener Moment, wenn er mit seinem klapprigen Herrenrad aus der Nachkriegszeit durch das Tor fuhr.
Tan drehte sich zu ihm um und sah kurz zu ihm auf. »Du hast da was im Bart!« Er kicherte.
Kenan nahm kurz eine Hand vom Fahrradlenker und fuhr sich über den dichten Schnäuzer. Eine weiße Flüssigkeit blieb an seinem Zeigefinger haften. Er leckte dran und schmatzte. »Ayran!«, erklärte er seinem Sohn. »Beste von Welt.«
»Schmier's bloß nicht an meinem neuen Trikot ab.«
Der Junge rutschte auf der Stange ein Stück nach vorn, woraufhin Kenan das Gleichgewicht verlor. Sofort umfasste er die Lenkstange wieder mit beiden Händen und schaffte es mit einem umständlichen Schlenker, in den Tritt zu gelangen.
Sein Blick fiel auf den Rücken des Jungen. Eine riesige schwarze Neun sprang ihm ins Auge. Die Nummer von Dieter Müller, dem Helden seines Sohnes. Ein deutscher Fußballer. Ausgerechnet! Dass er Tan trotzdem dieses sündhaft teure Trikot - fast dreißig Mark hatte es bei Quelle gekostet - gekauft hatte, war ein purer Beweis seiner unendlichen Vaterliebe.
»Du fährst fast so schlecht Fahrrad, wie du Deutsch sprichst!« Tan lachte und umfasste mit seinen kleinen Händen den Lenker.
Kenan fiel in das Lachen ein. Obwohl er es eigentlich gar nicht lustig fand, dass sein Sohn tatsächlich besser als er die Sprache dieses merkwürdigen Landes beherrschte, in dem er und seine Familie seit einigen Jahren wohnten. Und das war ja noch nicht das Schlimmste. Tan weigerte sich mittlerweile sogar, seinem Vater auf Türkisch zu antworten.
Behäbig radelte Kenan die breite Straße entlang, durch die sich werktags die schweren Lastwagen schoben, mit ehrfürchtigen Namen wie Magirus-Deutz, MAN und DAF. Monströse PS-Boliden, deren Motoren die Straßen erbeben ließen. Man mochte von den Deutschen halten, was man wollte, aber vom Autobau, das musste selbst Kenan zugeben, verstanden sie was.
Ohne Vorwarnung sprang Tan vom Rad, was zur Folge hatte, dass Kenan erneut das Gleichgewicht verlor und es gerade noch so schaffte, sich auf dem Sattel zu halten. Der Junge hatte recht. Er war wirklich ein miserabler Fahrradfahrer.
»Was machst du?«, rief er ihm auf Türkisch hinterher. »Komm zurück!«
Doch Tan beachtete ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit galt der zerdrückten Mirinda-Dose, die jemand achtlos neben den Mülleimer geworfen hatte. Mit flinken dünnen Beinen, die in einer viel zu groß wirkenden kurzen Hose steckten, kickte er auf die Dose ein, als wäre sie ein Fußball.
Kenan stieg umständlich ab und lehnte das Fahrrad gegen die Backsteinwand der Firmenhalle. »Lass mich mitspielen!«
Sein Sohn kam mit der zerdrückten Dose am Fuß auf ihn zu, umtänzelte ihn und täuschte Finten vor, auf die Kenan samt und sonders hineinfiel. Er wurde getunnelt, flankiert, ausgetrickst. Von einem Sechsjährigen, der noch dazu ununterbrochen quasselte.
»Müller in der dreiundachtzigsten Minute«, gab Tan einen imaginären Fußballkommentator wieder. »Umringt von drei Jugoslawen stürmt er in den gegnerischen Strafraum, nimmt Anlauf und . Wird er es schaffen? Drei Tore in nur einem Spiel? Den Hattrick? Müller dribbelt, setzt zum Schuss an und . Toooooooor!«
Just in diesem Moment zischte die Mirinda-Dose durch Kenans Beine hindurch. Tan riss die Arme zu einem ausgelassenen Siegestaumel in die Höhe und hüpfte im Kreis.
Kopfschüttelnd bückte Kenan sich, hob die Dose auf und warf sie in den Mülleimer. Wie es sich gehörte. Immerhin das hatte er in Deutschland recht schnell begriffen: Bei Müll neben der Tonne hörte die Freundschaft auf.
»Du und deine Müller«, sagte er kopfschüttelnd. »Nur Glück, dass Deutsche gekommen so weit letzte Jahr in Argentinien! Die könne nix Fußball spielen.«
Der Junge schaute mit empörter Miene zu ihm auf. Die Arme hatte er immer noch erhoben. »Wir sind 76 Vizemeister bei der Europameisterschaft geworden.«
Kenan lachte verächtlich auf. »Die verlieren Finale gegen Tschechoslowakei. Tschechoslowakei! Wenn Türkei mitgespielt, wären geworden wir Europameister.«
»Aber die Türkei hat nicht mal die Qualifikation zur Endrunde geschafft«, besserwisserte sein Sohn.
»Wallah! Zum Glück für Deutschland! Und für Tschechoslowakei. Sonst Türkei Europameister. Und jetzt still, wir sein da.«
Der strubbelige Schopf des Jungen ruckte von rechts nach links. »Woah, ist das alles riesig!« Mit staunendem Blick betrachtete er die hohe Fassade, die sich vor ihm auftürmte. »Und hier arbeitest du also?«
Kenan nickte stolz. »Wieder große Glück für Deutsche. Die können sein froh, dass dein Vater kommen aus Türkei.«
Der Junge sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Warum, Papa?«
»Nicht Papa! Baba!«
»Mama sagt, ich soll mit dir üben, damit du besser Deutsch lernst.«
»Pff! Mama sagen das? Wallah!«
Tan sah sich neugierig um. »Wofür steht das X?« Mit dem Finger deutete er nach oben. Über dem Eingang des Gebäudes stand in großen Druckbuchstaben HALLE X.
»X«, Kenan setzte zu einem verschwörerischen Flüstern an, »heißen >streng geheim<.« Er machte große Augen, weil er hoffte, dass sein Sohn angemessen beeindruckt war.
»Aha. Und was ist hier so streng geheim?«
Kenan winkte ab. »Nicht so viel fragen, mitkommen! Ich dir zeigen alles.«
Während er Tan die Eingangstür aufhielt, vernahm er mit Genugtuung dessen ehrfürchtiges Raunen. Wer war schon dieser Dieter Müller? Drei Tore in einem Spiel. Pah. Das war doch keine Leistung. Das hier war etwas Bemerkenswertes! Er, Kenan Ümnyazici, hatte eine der Fertigungsmaschinen umgebaut. Mit seinen eigenen Händen. Er, ganz allein!
Seinen Sohn vor sich herschiebend, schritt er durch den Korridor und begrüßte die Kollegen, die allesamt blaue Overalls und weiße Schutzhelme trugen.
»Das hier mein Reich.« Kenan klopfte dreimal fest gegen ein dickes Rohr aus gebürstetem Edelstahl, das in einen riesigen Kessel führte.
Tan ließ seinen Blick das Rohr entlangfahren und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihm war anzusehen, dass er beeindruckt war. Seine Augen wurden immer größer. »So viele Rohre und Ventile!«
Kenan nickte stolz. »Chef sagen: >Kenan, meine beste Mann.<«
Tatsächlich war die ganze Halle ein Konstrukt aus ineinanderlaufenden Rohren in allen erdenklichen Größen, die sich scheinbar wirr in alle Richtungen schlängelten und in irgendwelchen Kesseln endeten. Doch Kenan kannte jeden Zentimeter der Anlage in- und auswendig und wusste über die Position jeder einzelnen Schraube Bescheid.
Ein Mann, nur ein paar Zentimeter größer als Tan, legte die Hand auf die Schulter des Jungen. Er hatte einen vollen Schnauzbart, genau wie Kenan, und eine Halbglatze.
»Das hat alles dein Papa gebaut.«
»Das ist Muhamet«, erklärte Kenan seinem Sohn. »Er Gastarbeiter wie ich. Auch aus Türkei. Gute Freund von mir.«
Wie alle anderen Arbeiter in der Halle trug auch Muhamet einen blauen Overall. Doch seiner war ihm viel zu groß und der Helm mehr schmutzig als weiß. Sie begrüßten sich mit einem missglückten Handschlag, über den sie gut gelaunt hinweglachten.
Ein weiterer Blaumannträger gesellte sich zu ihnen.
»Das ist Hans«, erklärte Kenan und bemerkte, dass Tan den dicken Bauch anstarrte, der sich prall gegen den Blaumann drückte.
»Is a guada Tüftla, dei Voda«, meinte Hans glucksend.
Kenan mochte ihn - auch wenn er Deutscher war. Schade war bloß, dass er ihn beim besten Willen nicht verstand. Und so tat er das, was er immer machte, wenn Hans ihm etwas in seinem merkwürdigen bayrischen Dialekt zuwarf. Er lachte verlegen und hoffte, dass er keine Frage überhört hatte.
»Zeigst du deim Bubn de grouse weide Wäid?«
Kenan grinste und machte eine Kopfbewegung zwischen Nicken und Schütteln.
»Und wer ist das?« Der Blick des Jungen löste sich von dem Geflecht aus Stahlrohren. Er hatte eine Frau mit Krücken ins Visier genommen.
Kenan stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte auf Türkisch zu Tan: »Das, askım, mein Schatz, ist Mathilda von Poser, Inhaberin von Poser Pharma.«
»Des is de Chefin«, erklärte Hans, der unmöglich wissen konnte, das Kenan seinem Sohn eben dies gerade mitgeteilt hatte. Für ihn klang es vermutlich wie: Üldürüdenüridimgüdrüdü.
»Und der Mann, mit dem sie sich unterhält«, gab Muhamet in seinem beinahe akzentfreien Deutsch ungefragt Auskunft, »ist Herr Schmieder. Vorarbeiter der Anlage.«
Er zeigte auf einen hochgewachsenen älteren Herrn, der als Einziger in der Halle einen roten Schutzhelm trug.
»Was ist ein Vorarbeiter?«, wollte Tan wissen. Die Männer ergaben sich in missmutigem Schnauben, während sie die Frau musterten, die ein sehr kurzes senffarbenes Minikleid mit farblich passendem Stirnband und hochhackigen Sandalen trug. Kenan hatte sich immer noch nicht...
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