Schweitzer Fachinformationen
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BEAUTY MBALI
14. Juni 1976
Transkei, Südafrika
Meine Tochter schwebt in Gefahr.
Dieser Gedanke schießt mir beim Erwachen als Erstes durch den Kopf und treibt mich dazu, mich schnell anzuziehen. Es sind noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang, und in unserer Hütte ist es pechschwarz. Normalerweise kann ich mich im Raum umherbewegen, ohne in der Dunkelheit über die Schlafmatten der Jungs zu stolpern, aber jetzt brauche ich Licht, um zu Ende zu packen.
Das Kratzen des Streichholzes über die Reibfläche der Lion-Schachtel ist in der Stille deutlich vernehmbar, und mein Schatten steigt auf wie ein Gebet, als ich die Kerze anzünde und sie neben meinen Koffer auf den Boden stelle. Der vertraute Schwefelgeruch, der für mich eng mit dem Tagesanbruch verknüpft ist, hat jetzt etwas Unheilverkündendes. Ich atme durch den Mund, damit ich den Dunst der Angst nicht riechen muss.
Ich bewege mich so leise wie möglich, doch hier gibt es nichts, was die Geräusche meiner Bewegungen schlucken könnte. Unsere Hütten sind rund und vollkommen offen innerhalb der Außenmauern aus Lehm. Es gibt keine Zimmerdecken, die auf unsere Köpfe drücken und die Kuppeldächer von den Böden aus gestampftem Kuhdung trennen. Keine Trennwände, die den gemeinsamen Wohnraum in verschiedene Zimmer aufteilen. Unsere Unterkünfte sind so offen, wie die Welt einst war, als es keinerlei Wände oder Dächer gab außer jenen, die unmittelbaren Schutz gewährten. Privatsphäre ist kein Konzept, das mein Volk versteht oder wünscht; wir sind Zeugen des Lebens der anderen und finden es tröstlich, dass unser eigenes Leben wahrgenommen wird. Welches Geschenk könnte größer sein, als jemandem zu sagen: Ich sehe dich, ich höre dich, du bist nicht allein?
Deswegen sind nun auch meine beiden Söhne erwacht, egal wie sehr ich mich bemüht habe, leise zu sein. Khwezi sieht zu, wie ich meine Schilfmatte aufrolle, und das reflektierte Licht der Kerzenflamme brennt in seinen Augen. Er ist dreizehn Jahre alt und mein jüngstes Kind. Er kann sich nicht an den Tag vor zehn Jahren erinnern, als sein Vater zu den Goldminen in Johannesburg aufgebrochen ist, und auch nicht an die Qual der Monate zuvor, in der die große Trockenheit herrschte. Er erinnert sich nicht daran, wie die Schultern des einst stolzen Mannes allmählich hinuntersanken, während er mitansehen musste, wie seine Familie und sein Vieh starben. Aber Khwezi ist jetzt alt genug, um Angst davor zu haben, ein weiteres Familienmitglied an die hungrige Stadt zu verlieren.
Ich lächle ihm beruhigend zu, aber er erwidert mein Lächeln nicht. Sein schmales Gesicht blickt ernst, als er gedankenverloren die glänzend kahle Stelle über seinem Ohr reibt. Das fleckige rosafarbene Gewebe in der Form eines Akazienbaums stammt daher, dass er vor langer Zeit in ein offenes Feuer gefallen ist. Es gibt einen Grund dafür, warum Gott die Narbe an einer Stelle platziert hat, die Khwezi nicht sehen kann, ich als Mutter aber stets gezwungen bin, von oben anzuschauen. Sie ist eine Erinnerung daran, dass die Ahnen mir eine zweite Chance mit ihm gegeben haben, eine, die ich bei meinem erstgeborenen Sohn nicht hatte, den ich nicht vor dem Unheil habe schützen können. Ich kann nicht noch eines meiner Kinder im Stich lassen.
»Mama«, flüstert Luxolo, dessen Matte gegenüber der seines jüngeren Bruders liegt. Er hat die graue Decke um sich gewickelt wie ein Leichentuch, um sich vor der Morgenkühle zu schützen.
»Ja, mein Sohn?«
»Lass mich mit dir gehen.« Darum bittet er mich schon seit gestern, als der Brief meines Bruders angekommen ist.
Der knittrige gelbe Umschlag mit meinem Namen, Beauty Mbali, hat vom Wohnort meines Bruders Andile in Zondi, einem Viertel mitten in Soweto, einen weiten Kreis beschrieben, ehe er mich erreichte.
Unser Dorf ist so klein, dass es nicht mit offiziellem Namen auf der Landkarte der Transkei verzeichnet ist, und daher wird die Post nicht direkt in die ländliche Umgebung der Gebirgsausläufer in unserem schwarzen Homeland geliefert. Nachdem mein Bruder den Brief aufgegeben hatte, brachte ihn die Post aus dem Township Soweto auf sandigen Straßen voller Schlaglöcher nach Johannesburg, im Herzen Südafrikas, und dann in Richtung Süden auf der zentralen Autobahn aus Transvaal hinaus über den Fluss Vaal und in den Orange Free State hinein.
Von dort aus reiste er weiter nach Süden über die nebelverhangenen Drakensberge und dann im Zickzack hinunter über Haarnadelkurven bis nach Pietermaritzburg. Danach bog er ab in die verzweigten, vernachlässigten Seitenstraßen, die ihn offiziell zur Post von Umtata beförderten, der Hauptstadt der Transkei.
Doch seine Reise war noch nicht vollendet, da der Umschlag immer noch persönlich von der Frau des Postbeamten an den schottischen Missionar in Qunu übergeben werden musste - über eine Entfernung von dreißig Kilometern hinweg, für die ich sechs Stunden brauchen würde, die die weiße Frau im Auto ihres Mannes aber in nur vierzig Minuten zurücklegt - und dann wiederum weiter von der schwarzen Putzfrau des Missionars zu dem indischen Spaza Shop-Besitzer. Die letzte Etappe der Reise wurde von Jama zurückgelegt, einem neunjährigen Hirtenjungen, der die drei Kilometer über staubige Pfade bis zu meinem Klassenzimmer rannte, um ihn mir stolz zu überreichen.
Ich weiß nicht, wie lange der Brief brauchte, um die fast neunhundert Kilometer von dem schwarzen Township zum schwarzen Homeland zurückzulegen und seine Warnung zu überbringen. Der Poststempel ist verwischt, und Andile hat den Brief in seiner Eile nicht datiert. Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.
»Mama, nimm mich mit«, fleht Luxolo erneut. Doch es ist nur sein Wunsch, sich als Mann im Haus zu beweisen, der ihn dazu treibt, meine bereits getroffene Entscheidung in Frage zu stellen. Aus keinem anderen Grund würde er es riskieren, sich mir gegenüber respektlos zu zeigen. Luxolo ist erst fünfzehn, hat aber die Pflichten eines erwachsenen Mannes in unserem Haushalt übernommen. Er ist überzeugt, dass der Schutz der Frauen ebenso in seine Verantwortung fällt wie das Beaufsichtigen der Rinder, die unsere Lebensgrundlage bilden. Indem er mich auf der Reise begleitete, würde er seine Schwester vor Unglück beschützen und sicherstellen, dass wir beide heil und gesund zurückkehrten.
»Das Dorf braucht dich. Ich gehe Nomsa holen und bringe sie nach Hause.« Ich drehe mich von ihm weg, damit er die Sorge in meinen Augen nicht erkennt und ich seinen verletzten Stolz nicht mitansehen muss.
Meine Bibel ist das letzte meiner Besitztümer, das ich einpacke. Ihr schwarzer Ledereinband ist von den vielen Stunden, die ich sie in den Händen gehalten habe, abgenutzt. Ich stecke den Brief meines Bruders zum Schutz zwischen ihre hoffnungsdünnen Seiten, obwohl ich bereits die besorgniserregenden Stellen auswendig gelernt habe.
Du musst sofort kommen, Schwester. Deine Tochter ist in größter Gefahr, und ich fürchte um ihr Leben. Ich kann ihre Sicherheit hier nicht garantieren. Wer weiß, was passiert, wenn sie hierbleibt.
Mit einem Blinzeln verscheuche ich die Vision von Andile, wie er verkrampft diesen Brief an mich gekritzelt und dabei die Tinte mit der linken Hand quer über die soeben geschriebenen Wörter verteilt hat wie die Asche eines Veld-Feuers. Dabei steigt auch wieder die Erinnerung an meine Mutter auf, die ihn aus ihrem Aberglauben heraus jedes Mal mit einem Zweig auf die Finger schlug, wenn er mit der falschen Hand nach etwas griff. Doch wie sehr sie ihn auch quälte, sie konnte ihm die Linkshändigkeit ebenso wenig austreiben wie mir meinen Wissensdurst und Ehrgeiz. Und ebenso wenig konnte ich gegen Nomsas Entschlossenheit ankommen.
Nachdem ich mir ein Tuch um den Kopf gebunden habe, schlüpfe ich in meine Schuhe. Sie sind genauso unnachgiebig und unbequem wie die westlichen Sitten, die mich zum Tragen dieser Uniform zwingen. Hier in meinem Homeland gehe ich immer barfuß, und auch im Klassenzimmer, in dem ich unterrichte, stehen meine Fußsohlen in direkter Verbindung mit dem Fußboden aus Dung. Doch wenn ich mich hinaus in das Territorium des weißen Mannes wage, muss ich die Kleidung des weißen Mannes tragen.
Ich öffne den Reißverschluss meines perlenbestickten Geldbeutels und zähle die gefalteten Scheine darin. Es reicht gerade für die Taxen und Busse auf meinem Weg nach Norden. Die Fahrtkosten für die Rückreise werde ich mir von meinem Bruder leihen müssen, Schulden, die wir uns kaum leisten können. Ich stecke die Geldbörse in meinen BH, eine weitere einengende westliche Erfindung, und bitte Gott in einem stillen Gebet, dass ich nicht beraubt werde. Ich bin eine schwarze Frau, die alleine reist, und eine schwarze Frau ist immer die leichteste Beute in der Nahrungskette der Opfer.
Ein Hahn kräht in der Ferne. Es wird Zeit. Ich breite die Arme für meine Söhne aus, und sie erheben sich schweigend von ihren Matten, um sich umarmen zu lassen. Ich drücke sie fest und würde sie am liebsten nicht mehr loslassen. Es gibt so vieles, was ich ihnen gerne sagen würde, weise Worte und triviale Ermahnungen, möchte sie aber nicht mit einem langen Abschied belasten. Es ist leichter, so zu tun, als begäbe ich mich auf eine kurze Reise und kehrte vor Einbruch der Nacht zurück. Es ist außerdem wichtig für Luxolo, ihm zu verstehen zu geben, dass ich felsenfest davon überzeugt bin, dass er sich während meiner Abwesenheit gut um seinen Bruder und das Vieh kümmern wird, und ich möchte sein Bemühen nicht durch Ermahnungen zur Vorsicht und Wachsamkeit anzweifeln. Er weiß, was er zu tun hat, und wird alles...
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