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EINS
Die Kriminalrichterin führte Lila auf der Abschussliste. Ihr Blick war finster, als sie zu Beginn des Beweisverfahrens ihre Fragen an die Angeklagte stellte.
Cem Cengiz hatte hinten im Gerichtssaal Platz genommen und blickte in die Gesichter der drei Kriminalrichter, vor denen Lila sass, um ihre Aussage zu machen. Hinter ihr sassen links der Verteidiger und rechts die Staatsanwältin Eva Roos Cengiz. So weit hätte es nie kommen dürfen, dachte Cem, dass seine Frau seine Ex-Freundin vor Gericht anklagte. Dies war Staatsanwalt Felders Fall gewesen. Dummerweise hatte er letzte Woche einen Autounfall gehabt und lag mit gebrochenen Beinen im Spital. Ob sie wollte oder nicht, Eva hatte übernehmen müssen. Cem steckte in der Zwickmühle. Ganz gleich, auf welche Seite er sich stellte, es war die falsche.
«Erzählen Sie uns von vorne mit Ihren Worten, wie Sie den Jungen Sambou aus dem Flüchtlingslager in Lampedusa geschmuggelt haben», forderte die Kriminalrichterin.
Cem konnte Lila nur von hinten sehen, sie sass aufrecht auf ihrem Stuhl, den Kopf erhoben. «Bon, comme vous voulez. Ich habe Sambou nicht aus dem Flüchtlingslager geschmuggelt, ich habe ihn vor Menschenhändlern gerettet, welche die Lager nach unbegleiteten Minderjährigen durchsuchen, um sie für ihre eigenen Zwecke zu versklaven. Die Lager befinden sich im tiefsten Süden Italiens. Dort herrschen teilweise chaotische Zustände. Was denken Sie, wer von diesem Chaos profitiert? Wir wissen alle, wer die wahre Macht im Süden Italiens besitzt.»
«Dieses Problem wird hier vor Gericht nicht verhandelt», erklärte die Richterin. «In den Auffanglagern gibt es zahlreiche minderjährige Flüchtlinge. Weshalb haben Sie ausgerechnet Sambou in die Schweiz geschleust?»
«Er kennt ein Geheimnis. Er hat Informationen über einen russischen Menschenhändlerring, hinter dem die Luzerner Staatsanwaltschaft seit über einem Jahr her ist.» Lila drehte sich auf ihrem Stuhl um und schaute Eva an. «Ist es nicht so, Frau Staatsanwältin? Wie geht es Ihrer Hand?»
Mensch, Lila! Cem biss sich auf die Lippen und umklammerte seinen Sitz. Bald würde er aufspringen und sich zwischen die beiden Frauen stellen müssen.
Eva antwortete erstaunlich ruhig. «Aus Ihrer langen Strafakte geht hervor, dass Sie in Extremsituationen überreagieren.» Energisch griff Eva nach einem Papier. «Sie haben Ihrem ehemaligen Zuhälter und Lebensgefährten die . Wie soll ich es ausdrücken .?»
Nicht, dachte Cem. Musste Eva die alte Geschichte ausgraben? Lila war für diese Tat lange genug eingesessen.
«Sagen Sie, wie es ist, Frau Staatsanwältin. Ich habe dem Arschloch die Eier herausgeschnitten, weil er mein ungeborenes Baby in meinem Bauch getötet hatte. Er hat die Strafe verdient, ich habe meine abgesessen, und heute bin ich hier, weil ich Ihnen helfen will. Sambou kennt ein Geheimnis über Viktor Romanowitsch Kasakow.»
«Ich störe Ihre intime Plauderei ungern», mischte sich der Gerichtspräsident ein, «aber wir verhandeln heute nicht über Persönliches oder Vergangenes.»
«Oh, excusez-moi, Monsieur le Président. Kommt nicht wieder vor.»
Cem konnte es nicht sehen, als Lila den Kopf über ihre Schulter drehte, aber er wusste, dass sie dem Richter ein bezauberndes Lächeln schenkte. Ja, das konnte sie. Darin war und blieb sie ein Profi. Auch mit ihren sechsundzwanzig Jahren war Lila der kindliche Typ Frau geblieben, zart und verführerisch, eine Lolita, der sich die Männer schwer entziehen konnten, was das gespielt strenge Räuspern des Richters bestätigte. «Bitte, Frau Kollegin Kriminalrichterin, fahren Sie mit der Befragung der Angeklagten fort.»
Bevor sich Lila wieder nach vorne umdrehte, warf sie Cem einen intensiven Blick zu. War sie wütend? Verunsichert? Enttäuscht? Lila war eine Herausforderung, gezeichnet von ihrer tragischen Vergangenheit als Prostituierte und Tänzerin in einem Nachtclub, misshandelt von ihrem Ex. Vertrauen war für sie ein schwieriges Wort. Aber sie war auch eine Kämpferin, die für ihre Überzeugung einstand, egal, welche Konsequenzen ihr Handeln zur Folge hatte. Ganz anders Eva. Behütet auf dem Bauernhof ihrer Eltern aufgewachsen, hatte sie studiert und sich bis zur Staatsanwältin hochgearbeitet, was als alleinerziehende Mutter eine Herausforderung war.
Die Kriminalrichterin fuhr fort, gänzlich unbeeindruckt von Lilas Charme. «Erzählen Sie uns, wie Sie mit Sambou in die Schweiz gereist sind.»
Cem stand auf, auch wenn er von den Richtern einen strafenden Blick erhielt, weil das Verlassen des Saals während einer Verhandlung nicht gestattet war. Er hatte genug gehört. Der Fall war kompliziert. Lila machte ihn kompliziert. Und Sambou. Der malische Junge sprach nicht. Seit er in der Schweiz war, schwieg er. Das half Lila nicht weiter - und auch nicht Eva. Es machte ihr Angst. Der Name Viktor Romanowitsch Kasakow war Evas grösster Alptraum. Zu Recht.
***
Sie trat aus dem Gerichtsgebäude. Es war Mittag, die Sonne stand hoch über dem See und lockte die Luzerner nach draussen. Der Sommer begann dieses Jahr schon Ende Mai. Eva zog die Jacke ihres Kostüms aus. Darunter trug sie eine zarte lilafarbene Seidenbluse. Unglückliche Farbwahl. Lila! Die Frau trieb sie in den Wahnsinn. Sie bezirzte mit ihrem süssen Lächeln den Richter. Wie hatte Cem nur .
«Hey, Küçügüm!» Cem stand lässig an einen Baum gelehnt vor dem Gebäude in der Nähe der Werft, tippte zur Begrüssung an die Schiebermütze und grinste dabei wie ein frecher Schuljunge.
«Ich bin die Frau Staatsanwältin, nicht dein kleines Mädchen.»
«Na dann, schicke Man-dolos, Frau Staatsanwältin.»
Sie blieb stehen und zog die extrahohen Pumps aus. Der Asphalt unter ihren nackten Füssen war heiss. Rasch trat sie in den Schatten der Linde und schwang die High Heels vor Cems Gesicht hin und her. «Diese hier, mein Lieber, sind keine Manolos, sondern echte Christian Louboutins. Zolle ihnen den nötigen Respekt.»
«Dieser Christian ist mir egal. Mir gefallen deine nackten Füsse wesentlich besser.» Er zeigte auf ihre lackierten Fussnägel. «Sexy Farbe. Kirschrot?»
«Fast. Aber werde nicht zum Fussfetischisten.»
«Niemals würde ich dich bloss auf die Füsse reduzieren. Ich bin ein Eva-Fetischist.» Er nahm sie in die Arme und küsste sie.
Zu gerne hätte sie sich nach diesem Morgen fallen lassen. Eva seufzte und schob ihn sanft von sich weg. «Nicht hier. Die Pressegeier lauern.»
Cem hob die linke Hand und zeigte auf den Ehering. «Frau Staatsanwältin, hier hat alles seine gesetzliche Richtigkeit. Wir sind verheiratet, ist Ihnen dieser Punkt entgangen? Und küssen in der Öffentlichkeit verstösst nicht gegen das Sittengesetz - als Bulle muss ich das wissen. Meine Ehefrau zu küssen ist demnach eine legale Handlung - und meine Pflicht als schweizerisch-türkischer Ehegatte.»
«Ist das so?» Sie strich ihm über den kurzen Bart, den er jetzt trug. Stand ihm gut, machte ihn männlicher und nahm ihm sein Teddybär-Image, auf welches Lila beharrte. Zu oft nannte sie ihn «mon nounours», wenn sie sich trafen. Eva fühlte diese miese Eifersucht in sich keimen, dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sie zu ignorieren.
Cem verzog schelmisch den Mund. «Meine bezaubernde Frau zu verwöhnen ist das oberste Gebot von Cem Cengiz, Familienmensch aus Leidenschaft. Deshalb gibt es jetzt Lunch.» Er hob einen Papiersack hoch, der neben ihm stand.
«Du raspelst Süssholz», sagte Eva.
«Gar nicht.»
«Nervös?»
«Ich? Niemals.»
«Du willst wissen, wie es lief?»
«Nein.»
«Du willst wissen, ob der Zickenkrieg ausgeartet ist? Wie lange warst du dabei?»
«Bis zur Kastration, danach hatte ich genug.»
«Du solltest dir ein dickeres Fell zulegen.»
Cem liess sein Dauergrinsen fallen. «Wie kannst du dabei ruhig bleiben?»
Eva genoss das Spiel. Cem aufzuziehen war zu ihrer neuen Leidenschaft geworden. Sie wandte sich ab und marschierte energisch Richtung Ufschötti, die Louboutins herausfordernd in der Hand schwingend.
«Luder», hörte sie Cem leise hinter sich murren. Er folgte ihr.
Sie drehte den Kopf zu ihm um. «Du solltest nicht so starren.»
«Und Sie sollten nicht so hinreissend aussehen, Frau Staatsanwältin.»
Am See setzten sie sich auf einen grossen Stein am Sandstrand. Privatsphäre war Luxus. Arbeitende, Schüler und Studenten assen heute ihren Lunch draussen.
«Lila fordert mich heraus», sagte Eva.
«Wie geht es ihr?»
«Ha! Das ist es, was dich interessiert? Sie ist die Böse, schon vergessen? Sie steht vor Gericht, weil sie gegen das Gesetz verstossen hat.»
«Sie hat einem Jungen das Leben gerettet.»
«Sie hat ein Kind mitgenommen.» Sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Es endete meist im Streit.
Cem schwieg, nahm die Tüte und holte eine Lunchbox hervor. «Caesar Salad mit extra Parmesan. Selbst gemacht.»
Sie griff danach. «Du bist ein Schatz. Ich will nicht streiten.»
«Dito.» Er zog ein Käsesandwich aus der Tüte. «Das ist dein Fall, ich sollte mich nicht einmischen. Du tust das Richtige, ich vertraue dir. Aber was ist mit Sambou? Schweigt er nach wie vor?»
«Ja. Wenn er nicht spricht, kann ich Lila nicht entlasten.»
«Glaubst du ihr?»
Eva streckte die Beine aus. Der Bleistiftrock reichte ihr bis zu den Knien. Die warme Sonne auf ihren Füssen war eine Wohltat. «Ich weiss es nicht. Lila ist schwierig. Ihr Leben war schwierig, traumatisch. Bei solchen...
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