Schweitzer Fachinformationen
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Die Sträggele war zurück.
Sie warf ihre roten Haare über die Schulter und liess den Blick zu dem frischen Stroh in der Ecke des Stalles gleiten. Da lag das Kind, das unschuldige kleine Mädchen, die hellblauen Augen geschlossen. Die Sträggele hatte sich Mühe mit ihm gegeben. Das Mädchen war perfekt geworden, wie es so da lag, in seinem weissen Kleidchen und mit den goldfarbenen Locken, die sich um das rosige Gesichtchen kringelten.
Die Sträggele konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit und strich mit der Bürste über das glänzende Fell des Pferdes. Schwarz, so musste es sein. Ihre Stute schnaubte leise, als der Hund in den Stall kam. «Ihr habt ja recht», sagte die Sträggele, «wir müssen los.»
Sie sattelte Korrigan, zäumte die Stute auf und führte sie in die eisig dunkle Nacht hinaus. Feiner Nebel kroch den Boden entlang. Es war still. Einzig der Ruf des Steinkauzes hallte durch das Tal: Ku-i-mit, Ku-i-mit.
Die Sträggele sprach beruhigende Worte zu Korrigan. Auch das Pferd fühlte die Geister, die Dämonen, die sie heute Nacht begleiten würden.
Ihre Tat war grausam, das wusste die Sträggele. Es war nicht ihr erstes Kind. Nein. Sie hatte viele Mädchen in den dunklen Nächten vor Weihnachten aus den warmen Stuben der Eltern geraubt. Doch das war damals gewesen, im finsteren Mittelalter. Heute Nacht war anders.
Die Sträggele lachte leise, ihre Stimme wurde vom kalten Wind emporgetragen.
Es war Heiliger Abend, im 21. Jahrhundert. Die Hexe war zurück.
***
Engel schwebten über ihr. Barbara sass in der hintersten Reihe, ganz aussen, auf der harten Holzbank. Das Gesangbuch lag schwer in ihren Händen. Es bot keinen Trost.
Sie senkte den Blick von der Decke und blickte über die Köpfe der Kirchgänger nach vorne zum Altar. Die weissen Wände und die hohe Decke der Jesuitenkirche waren mit den prächtigsten Stuckaturen und Bildern geschmückt. Eine Herrlichkeit, die heute Nacht nicht ihr Herz erwärmte. Barbara wollte sich auf die Predigt konzentrieren, Erlösung in den Worten Gottes finden. Wie sonst sollte sie diese Weihnachten überstehen?
Weihnachten ohne Rolf.
Acht Wochen. Acht Wochen schon kämpfte sie sich ins Leben zurück. Nach aussen hin funktionierte sie. Als Ermittlerin der Luzerner Polizei hatte sie gelernt, professionell zu handeln. Doch innerlich war sie ein Wrack. Jeden Tag, an dem sie in der Polizeizentrale an der verschlossenen Tür von Rolfs Büro vorbeiging, schrie sie innerlich auf.
Konzentriere dich auf die Messe, mahnte ihre innere Stimme. Barbara lauschte den Worten des Pfarrers: «Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkünde euch grosse Freude .» Er sprach von der Geburt Jesu. Von den Engeln. Wo war Rolfs Schutzengel geblieben, als er ihn gebraucht hatte? Nein, das war nicht fair.
Barbara stand auf und schlich sich aus der Kirche. Sie ertrug Gottes Nähe noch nicht. Da war zu viel Wut, die in ihr brodelte.
Draussen atmete sie die klare, eisige Luft ein. Die Lichter der Stadt vertrieben die Dunkelheit - aber nicht den Schatten auf Barbaras Herzen.
Sie lauschte dem leisen Rauschen der Reuss und ging die paar Schritte über den Jesuitenplatz bis zu den Stufen, die zum pechschwarzen Wasser führten.
Und wohin jetzt? Sie wollte nicht nach Hause.
Barbara seufzte und blickte sich um. Sie war still heute, ihre Stadt. Ausgestorben.
Es war Heiliger Abend.
Den Heiligen Abend verbrachte man mit den Menschen, die man liebte .
Herzlos schrillte Barbaras Handy durch die gottlose Nacht.
«Feiert schön, ihr zwei Racker.» Cem stellte den Meerschweinchen einen Tannenzweig in den Käfig. Dann legte er die Christbaumkugel, die er heute extra im Shoppingcenter gekauft hatte, zusammen mit einem Rüebli, um das er eine Schleife gebunden hatte, in den Käfig neben den Tannenzweig. Die beiden Meerschweinchen quietschten aufgeregt. Cem griff nach seinem Handy. «Und jetzt sagt Cheeeese.» Er schoss ein Foto. Nicht schlecht, grinste er und schickte das Bild an seine Cousine Aygül. Heute Morgen hatte er am Telefon eine lange Diskussion mit Elin geführt, der Jüngsten von Aygül. «Onkel Cem», hatte Elin eifrig erklärt, «Schneeball und Winnetou sind in der Schweiz geboren, also sind sie Christen. Du musst ihnen einen Christbaum basteln und Geschenke machen - und ein Weihnachtsessen kochen.» Sein kleiner Liebling. Nächsten Monat wurde sie schon sechs.
Winnetou quiekte vergnügt und holte Cem aus den Gedanken. Er streichelte das rot gefleckte Meerschweinchen. Die Tiere gehörten Elin. Cem hatte ihnen Asyl geboten, weil Elin allergisch auf die Haare reagierte und Aygül die beiden weggeben musste. Jetzt stand der Käfig schon über ein Jahr in seinem Flur. Aber hätte er gewusst, dass Schneeball und Winnetou keine Moslems waren . «Frohe Weihnachten euch Christen.» Cem schloss die Käfigtür und ging zurück ins Wohnzimmer. Heute war DVD-Abend. Ein einsamer DVD-Abend. Lila war zu ihren Eltern nach Lausanne gefahren, um Weihnachten zu feiern. Auch Kevin und all seine anderen Freunde verbrachten den Abend im Kreise der Familie.
Egal, für Cem war es ein Abend wie jeder andere. Und den wollte er mit dem «Paten» verbringen. Er schob gerade die DVD in den Player, als sein Handy klingelte. Cem warf einen Blick auf das Display. Halb elf. «Hey, Barbara, alles okay?»
«Cem! Du musst sofort zum Männliturm, Nordeingang. Die Sicherheitspolizei ist schon vor Ort, die Ambulanz unterwegs. Ich komme auch gleich.»
«Was ist passiert?», fragte er, während er bereits in den Flur rannte und in seine Jacke schlüpfte.
«Etwas ist dort», sagte Barbara. «Und es sei unheimlich.»
«Unheimlich?»
«So haben es die Kollegen beschrieben.»
«Bin in fünf Minuten beim Turm», sagte Cem und legte auf. Er wohnte in der Luzerner Altstadt, in der Hertensteinstrasse, gleich vor der Museggmauer. Bis zum Männli war es nicht weit. Ein Verbrechen praktisch vor seiner Haustür. Na toll! «Der Pate» musste warten.
Er schnappte sich seine Wollmütze und Handschuhe und rannte hinaus in die dunkle, nebelverschleierte Nacht.
Vor dem Eingang zum Turm wartete ein Kollege in Uniform, in der Hand eine Taschenlampe, die flackerte. Cem ging mit raschen Schritten auf ihn zu und zog seinen Ausweis. «Cem Cengiz, Leib und Leben. Was habt ihr für uns?»
«Na, das ging aber schnell», sagte der Kollege der Sicherheitspolizei. Strebler, las Cem den Namen an dessen Uniform. «Hier.» Strebler zeigte auf den Boden vor dem Eingang. Schwarze Federn lagen im Kreis gestreut auf Kies, in der Mitte eine tote Ratte.
Cem verzog angewidert den Mund. «Wegen einer toten Ratte habt ihr uns aber nicht alarmiert?», fragte er.
«Nein», erklärte Strebler. «Die anderen beiden Kollegen sind oben beim Opfer.»
«War der Turm nicht abgeschlossen?»
«Wurde aufgebrochen.» Strebler zeigte zur Tür, die unterirdisch lag. «Das Schloss ist kaputt. Und sieh dir das an.» Strebler ging ein paar Stufen hinunter und leuchtete mit der Taschenlampe auf die raue Steinwand. In roter Farbe war ein Symbol aufgemalt: ein fünfzackiger Stern in einem Kreis.
«Was bedeutet das?»
«Keine Ahnung. Aber oben ist es noch schlimmer.»
Cem tauchte eine Fingerspitze in die noch feuchte Farbe und roch daran. «Blut?»
«Wir vermuten es.»
Cem blickte hoch. Er sah den Lichtkegel einer Taschenlampe auf dem flachen Dach des Turmes, die das «eiserne Männli» anstrahlte, die Kriegerfigur, die dem Männliturm seinen Namen gab und mit Schwert und Standarte auf einem der beiden Erkertürme thronte.
«Was ist mit dem Opfer?», fragte Cem.
«Ein Engel», sagte Strebler.
Cem reckte das Kinn vor. Hatte er sich verhört? «Ein Engel?»
«Ja. Oben, auf der vierten Ebene.»
«Lebt er denn noch, der Engel?»
«Ja.» Strebler reichte Cem seine Taschenlampe.
Ungläubig betrat Cem den Eingang. Eine steile Wendeltreppe führte hoch zur ersten Ebene auf Bodenhöhe. Hier fehlte die südliche Turmwand, der Turm war zur Stadtseite hin offen. Einzig ein hoher Lattenzaun schützte vor Eindringlingen. Cem rüttelte an der Tür im Zaun. Abgeschlossen. Er schaute sich um. Der Männliturm war ein rechteckiger Bau mit grob verputztem Mauerwerk. Über zwei Wände wand sich eine enge Treppe nach oben. Obwohl Cem gleich vor der Museggmauer wohnte, war er noch nie in einem der neun Türme gewesen, die sich entlang der alten Stadtbefestigung aufreihten.
Der Lichtstrahl von Cems Taschenlampe streifte ein mit Frost überzogenes Spinnennetz. Echt gruselig. Von oben hörte er gedämpfte Stimmen.
In der Ferne bellte ein Hund.
Die Holzstufen knarrten unter seinen Füssen, als er die Treppe erklomm. Die Kälte kroch durch die Jacke bis zu seiner Haut durch. «Ein Engel am Heiligen Abend», flüsterte Cem leise vor sich hin, um die beklemmende Stille zu brechen. Er hörte polternde Schritte über sich auf dem Holzboden und blickte auf. Ein Kollege stand am Treppenabsatz. «Paul?», rief dieser.
«Nein. Cem hier, Leib und Leben.» Sie trafen sich auf der zweiten Ebene. Das Gesicht des Kollegen wirkte angespannt. «Oh, Leib und Leben? Das ging aber schnell. Felix», stellte sich der Polizist vor. «Ist die Ambulanz noch nicht da?»
«Sollte jeden Moment eintreffen», sagte Cem. «Ist der - der Engel schwer verletzt?»
«Komm, ich bring dich hoch zu ihr.» Felix ging vor. «Wir wissen nicht, was der Kleinen fehlt. Sie atmet. Ich vermute, sie wurde betäubt. Als ob sie schlafen würde . Wir bekommen sie nicht wach.»
Ein weiblicher Engel! Cem stellte sich das Wesen bildlich vor, mit langen blonden Haaren, einem...
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