Schweitzer Fachinformationen
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Alexandra lächelte und nickte der Palliativkrankenschwester Sally freundlich zu, bevor sie auf Zehenspitzen in Omas und Opas Wohnzimmer schlich. Sie nahm einen kaum merklichen holzigen Geruch wahr, der ihr zwar bekannt vorkam, den sie aber nicht zuordnen konnte.
Opa lag in einem Krankenhausbett. Als sie gestern Abend nach Hause gekommen war, hatte Alexandra den hageren Mann mit dem eingefallenen Gesicht kaum wiedererkannt. Das rhythmische Fauchen der Sauerstoffmaschine und das Piepen des Herzmonitors erfüllten den Raum und übertönten beinahe das Ticken der Standuhr aus Mahagoniholz.
Alexandra verbrachte ihre Tage damit, auf Wände aus Monitoren zu starren und nach der kleinsten Abweichung Ausschau zu halten, die ihr den Anstoß geben würde, in Shanghai Gold einzukaufen, um es anschließend in London wieder zu verkaufen. Sie verbrachte achtzehn Stunden am Tag im Licht der Leuchtstoffröhren, suchte nach Unregelmäßigkeiten, spielte mit Zahlen. Aber hier war kein Blick auf den piependen Bildschirm notwendig, um zu wissen, dass die Zeit ihres geliebten Opas abgelaufen war. Sie war nun seit zwölf Stunden zu Hause, doch er war noch nicht zu Bewusstsein gekommen.
Ihr lief ein Schauder über den Rücken. War sie womöglich zu spät gekommen?
Alexandra ließ sich in den alten pfauenblauen Lehnstuhl sinken und strich mit den Fingern über die rauen Stellen auf den Armlehnen. Die Füllung ragte bereits aus dem fadenscheinigen Samt, und die Federn waren durchgesessen. Sie erschauderte erneut und musste niesen - das war wieder einmal typisch für sie, dass sie sich auf dem Flug eine Erkältung eingefangen hatte. Sie schmiegte ihre Wange an eines der Kissen. Sie hatte so viele Stunden in diesem Stuhl verbracht. Zuerst auf Omas oder Opas Schoß, während die beiden ihr Fabeln von Äsop und Märchen der Gebrüder Grimm vorlasen, und dann - als Teenager - mit einem Schulbuch, um Algebra und Algorithmen zu pauken.
Das Haus selbst war ein edwardianischer Backsteinbau, der sich hinter einem mit blassrosaroten Rosen überwucherten Lattenzaun versteckte. Blauregen wand sich die Verandasäulen empor und hing von dem verschnörkelten Gusseisenrahmen, doch seine Blüten waren bereits verblasst. Omas Wohnzimmer mit dem großen Erkerfenster, das auf ihren geliebten Garten hinausführte, hatte in all den Jahren nichts von seiner Grandezza verloren, obwohl die Farbe von den graublau gestrichenen Wänden und den Fußbodenleisten abblätterte und die cremefarbene Deckenrosette dringend nachgebessert werden musste. Die deckenhohen Regale an der gegenüberliegenden Wand waren bis oben hin mit Büchern über Kräuter, chinesische Medizin, Geschichte und Fotografie vollgestopft. Dazwischen drängten sich allerdings auch Biografien bekannter Politiker, britische Thriller - wie etwa le Carré oder Forsyth - und fünf Jahrzehnte der französischen Vogue.
Alexandra dachte an ihre übereilte Abreise aus London zurück und schluckte die Tränen hinunter. Bereits wenige Stunden nachdem Oma angerufen hatte, hatte sie die Tür ihrer Wohnung in der Sloane Street hinter sich geschlossen und war kurz darauf in ein Flugzeug nach Melbourne gestiegen. Opas Krebs war zurückgekehrt und hatte auf andere Organe, die Knochen und auch das Blut übergegriffen. Die Stimme ihrer Großmutter hatte nicht mehr so beherrscht wie früher geklungen, sondern vielmehr traurig und resigniert.
Als Alexandra vierundzwanzig Stunden später durch den Zoll in die Ankunftshalle getreten war, hatten Oma und ihre Freundin Nina bereits auf sie gewartet. Sie standen Schulter an Schulter, die eine dunkel und dürr, die andere blond und mollig. Alexandra versank in der Umarmung der beiden Frauen. Sie genoss den Duft nach Gardenien, den Omas straffer Haarknoten verströmte, und atmete den Geruch nach geröstetem Knoblauch und geräuchertem Paprika ein, der Ninas Küsse seit jeher begleitete.
»Danke, dass du so schnell gekommen bist. Ich weiß, dass der Umzug .« Omas Stimme zitterte ungewöhnlich.
»Ach!« Alexandra beugte sich nach unten und drückte ihre Wange an die ihrer Großmutter, wobei sie beinahe über ihren Koffer gestolpert wäre. »Opa . ist er noch .?«
Ihre Großmutter tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch trocken und nickte. »Er wartet.«
Nina legte sanft eine Hand auf Alexandras Schulter. »Dein Opa ist noch bei Bewusstsein. Gerade mal so. Er hat nach dir gefragt. Komm! Ich nehme deine Taschen!«
Nina nahm Alexandra den Trolley ab und legte dabei eine erstaunliche Energie an den Tag, wenn man bedachte, dass sie bereits über neunzig Jahre alt war.
Alexandra hakte sich bei ihrer Großmutter unter und fragte leise: »Und du, Oma? Wie geht es dir? Es muss sehr schwer für dich sein.«
»Es geht mir gut, mein Liebling. Und jetzt sogar noch besser, weil du wieder hier bist«, erwiderte Oma.
Alexandras Smartphone vibrierte in ihrer Gesäßtasche, und sie rutschte ein Stück zur Seite, um es herauszuholen. Noch eine Nachricht von Hugo: Ruf mich zurück. Es tut mir leid!
Sie löschte die Nachricht, widerstand jedoch dem Drang, die Nummer ihres Ex ein für alle Mal zu blockieren. Sie hatte zwar nicht vor, ihm zu verzeihen, aber es gab dennoch einen kleinen Teil in ihr, der ihn noch nicht vollkommen aus ihrem Leben streichen wollte. Sie war Expertin darin, Risiken zu analysieren und Ergebnisse vorauszusagen, aber sie hatte übersehen, wie verwundbar ihr eigenes Herz war.
Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
Sie schob das Telefon zurück in die Gesäßtasche, ohne auch nur einen Blick auf die Kurse bei Bloomberg zu werfen. Der Markt konnte warten.
Sie erhob sich, verschränkte ihre Finger mit Opas Fingern und drückte sie sanft, als könnte sie ihm so etwas von ihrer Lebensenergie schicken. Oma hätte wohl behauptet, dass sie ihr Qi kanalisierte. Alexandra grinste. Vielleicht fiel der Apfel doch nicht so weit vom Stamm.
»Li . Sophia?«, fragte Opa keuchend, und Alexandra ging neben ihm in die Hocke. Er streckte die Hand aus und versuchte, den Jadeanhänger um ihren Hals zu berühren. Sie erschauderte und räusperte sich.
Ihr Blick wanderte zu dem Foto ihrer Eltern auf dem Kaminsims. Sie selbst war als kleines Mädchen mit glänzend schwarzen Haaren in einem karmesinroten Overall und einem gestreiften Rollkragenpullover zu sehen, das grinsend auf den Knien seiner Mutter saß und fröhlich in die Hände klatschte. Alexandras Vater Joseph - ein großer, blonder und breitschultriger Mann - stand neben Sophia und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Alexandras Mutter trug ein blaues Sommerkleid, und ein Träger war ihr über die gebräunte Schulter gerutscht. Der Jadeanhänger ruhte direkt über ihrem Dekolleté, sie sah lachend zu Joseph hoch und blickte ihm dabei tief in die blauen Augen.
Alexandras Magen zog sich zusammen, und sie versuchte, sich an diese innige Liebe zu erinnern. Das Foto war das einzige Andenken an ihre Eltern.
Opa hatte selten über Sophia gesprochen, und Oma hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt, wenn sie von »dem größten Geschenk« erzählte. Von dem klugen Kind, das sie in China adoptiert hatten. Und das sie genauso vergöttert hatten wie später Alexandra.
Opa richtete sich mühsam auf und versuchte, einen besseren Blick auf ihr Gesicht zu erlangen.
»Li?«, fragte er noch einmal.
»Opa, ich bin's. Alexandra«, erwiderte sie und strich mit dem Daumen über seine Hand, die furchtbar knochig geworden war. Seine Muskeln waren mit der Zeit immer mehr verkümmert und mit ihnen auch seine Energie und sein Gedächtnis. Alexandra hatte ihre Großeltern noch nie von einer Frau namens Li sprechen hören.
»Oh.« Er ließ seinen Kopf in das Kissen zurücksinken und lächelte schwach. Im nächsten Moment wirkte er verwirrt. »Der Job in Shanghai?«, fragte er leise.
Alexandra zögerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. War er wieder ganz bei Sinnen? »Shanghai kann warten«, erwiderte sie schließlich, während sie den Infusionsschlauch ein wenig beiseiteschob, um sich zu ihm aufs Bett zu setzen. Sie konnte ihm ja schwer sagen, dass sie ihren Umzug nach China verschoben hatte, um so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen, bevor er .
Sie blinzelte die Tränen fort.
»Shanghai wartet auf niemanden.« Opa tätschelte ihre Hand, und ein Kichern stieg aus seiner Brust empor, das kurz darauf allerdings in einen starken Hustenanfall überging. »Du solltest .« Noch mehr Husten. »Li. Aber du wirst sie nicht finden . Du siehst aus wie sie, weißt du?«
Alexandra fragte sich, wen er wohl meinte. Sprach er von ihrer Mutter? Ihr Herz wurde schwer. Ihre Großmutter hatte sie gewarnt, dass Opa mittlerweile sehr verwirrt war. Er hatte offenbar vergessen, dass ihre Eltern schon lange tot waren. Sie starben bei einem Autounfall, nur wenige Wochen nachdem das Foto auf dem Kaminsims entstanden war. Alexandra war von einem Sanitäter aus dem Wrack gezogen worden. Ihr Hinterkopf war vollkommen gespalten gewesen. Sie fuhr mit den Fingern über die glatte Narbe in ihrem Nacken, die sich unter ihren langen Haaren versteckte. Manchmal brannte sie, wenn sie sie berührte - doch meistens spürte sie gar nichts.
Mit Tränen in den Augen sah sie zu dem Kristallkronleuchter an der Decke hoch und beobachtete die vielen kleinen Regenbögen, die das Licht auf die Decke und die Wände zauberte. Dieses graublaue Zimmer war ihr Zuhause. Ihre Großeltern waren ihr Anker. Und nun würde sie ihren Opa verlieren. Sie...
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