Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nun ist der Herbst da, und der Sommer wird nicht zurückkehren; niemals werde ich ihn wiedersehen .
Das Meer ist grau und still, und ein feiner, trauriger Regen geht hernieder. Als ich das heute morgen sah, habe ich vom Sommer Abschied genommen und den Herbst begrüßt, meinen vierzigsten Herbst, der nun wirklich unerbittlich heraufgezogen ist. Und unerbittlich wird er jenen Tag bringen, dessen Datum ich manchmal leise vor mich hin spreche, mit einem Gefühl von Andacht und stillem Grauen .
Ich bin mit der kleinen Asuncion ein wenig spazieren gegangen. Sie ist eine gute Begleiterin, die schweigt und manchmal nur groß und liebevoll die Augen zu mir emporschlägt.
Wir sind den Strandweg nach Kronshafen gegangen, aber wir sind rechtzeitig wieder umgekehrt, bevor wir noch mehr als einen oder zwei Menschen getroffen hatten.
Während wir zurückschritten, freute ich mich über den Anblick meines Hauses. Wie gut ich es mir gewählt habe! Schlicht und grau blickt es von dem Hügel, dessen Gras nun welk und feucht und dessen Weg aufgeweicht ist, über das graue Meer hinaus. Auf der Rückseite führt die Chaussee vorbei, und dahinter sind Felder. Aber darauf achte ich nicht; ich achte nur auf das Meer.
Dieses einsame Haus auf dem Hügel am Meere unter dem grauen Himmel ist wie ein düsteres, geheimnisvolles Märchen; und so will ich es haben in meinem letzten Herbst. Heute nachmittag aber, als ich am Fenster meines Arbeitszimmers saß, war ein Wagen da, der Vorräte brachte, der alte Franz half beim Auspacken, und es gab Geräusch und verschiedene Stimmen. Ich kann nicht sagen, wie mich das störte. Ich zitterte vor Mißbilligung: Ich habe befohlen, daß dergleichen nur frühmorgens geschehen soll, wenn ich schlafe. Der alte Franz sagte nur: - Zu Befehl, Herr Graf. Aber er sah mich mit seinen entzündeten Augen ängstlich und zweifelnd an.
Wie könnte er mich verstehen? Er weiß es ja nicht. Ich will nicht, daß Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühre. Ich ängstige mich davor, daß der Tod etwas Bürgerliches und Gewöhnliches an sich haben könnte. Es soll um mich her fremdartig und seltsam sein an jenem großen, ernsten, rätselhaften Tage - am zwölften Oktober .
Während der letzten Tage bin ich nicht ausgegangen, sondern habe die meiste Zeit auf der Chaiselongue zugebracht. Ich konnte auch nicht viel lesen, weil dabei alle Nerven mich quälten. Ich habe einfach stillgelegen und in den unermüdlichen, langsamen Regen hinausgeblickt.
Asuncion kam oft, und einmal brachte sie mir Blumen, ein paar dürre und nasse Pflanzen, die sie am Strande gefunden. Als ich das Kind zum Danke küßte, weinte es, weil ich »krank« sei. Wie unsäglich schmerzlich mich ihre zärtliche und wehmütige Liebe berührte!
Ich habe lange in meinem Arbeitszimmer am Fenster gesessen, und Asuncion saß auf meinen Knieen. Wir haben auf das graue und weite Meer hinausgeblickt, und hinter uns in dem großen Gemach mit der hohen, weißen Thür und den steiflehnigen Möbeln herrschte tiefe Stille. Und während ich langsam das weiche Haar des Kindes streichelte, das schwarz und schlicht auf ihre zarten Schultern hinabfließt, habe ich zurückgedacht in meinem wirren, bunten Leben; ich habe an meine Jugend gedacht, die still war und behütet, an meine Wanderungen durch die ganze Welt und an die kurze, lichte Zeit meines Glückes.
Erinnerst du dich des anmutigen und flammend zärtlichen Geschöpfes unter dem Sammethimmel von Lissabon? Es sind zwölf Jahre, daß sie dir das Kind schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um deinen Hals lag.
Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder sind sie und nachdenklicher. Vor allem aber hat sie ihren Mund, diesen unendlich weichen und doch ein wenig herb geschnittenen Mund, der am schönsten ist, wenn er schweigt und nur ganz leise lächelt.
Meine kleine Asuncion! wenn du wüßtest, daß ich dich werde verlassen müssen. Weintest du, weil ich »krank« sei? Ach, was hat das damit zu thun! Was hat das mit dem zwölften Oktober zu thun! .
Tage, an denen ich zurückdenken kann und in Erinnerungen mich verlieren, sind selten. Wie viele Jahre sind es, daß ich nur vorwärts zu denken vermag, nur zu warten auf diesen großen und schauerlichen Tag, auf den zwölften Oktober meines vierzigsten Lebensjahres!
Wie es sein wird, wie es nur sein wird! Ich fürchte mich nicht, aber mich dünkt, daß er qualvoll langsam herankommt, dieser zwölfte Oktober.
Der alte Doktor Gudehus kam von Kronshafen, er kam zu Wagen den Chausseeweg gefahren und nahm das zweite Frühstück mit Asuncion und mir.
»Es ist nötig«, sagte er und aß ein halbes Huhn, »daß Sie sich Bewegung machen, Herr Graf, viel Bewegung in frischer Luft. Nicht lesen! Nicht denken! Nicht grübeln! Ich halte Sie nämlich für einen Philosophen, he, he!«
Nun, ich habe die Achseln gezuckt und ihm herzlich für seine Bemühungen gedankt. Auch für die kleine Asuncion gab er Ratschläge und betrachtete sie mit seinem gezwungenen und verlegenen Lächeln. Er hat meine Brom-Dosis erhöhen müssen; vielleicht, daß ich nun ein wenig mehr schlafen kann.
Der letzte September! Nun ist es nicht lange mehr. Es ist drei Uhr nachmittags, und ich habe mir ausgerechnet, wie viele Minuten noch fehlen bis zum Beginn des zwölften Oktobers. Es sind 8460.
Ich habe nicht schlafen können heute nacht, denn es ist Wind aufgekommen, und das Meer und der Regen rauscht. Ich habe gelegen und die Zeit vorbeischwinden lassen. Denken und grübeln? Ach nein! Doktor Gudehus hält mich für einen Philosophen, aber mein Kopf ist sehr schwach, und ich kann nur denken: Der Tod, der Tod!
Ich bin tief ergriffen, und in meine Bewegung mischt sich ein Gefühl von Triumph. Manchmal, wenn ich daran dachte, und man mich zweifelnd und ängstlich ansah, habe ich gesehen, daß man mich für wahnsinnig hielt, und ich habe mich selbst mit Argwohn geprüft. Ach nein! ich bin nicht wahnsinnig.
Ich las heute die Geschichte jenes Kaisers Friedrich, dem man prophezeite, er werde »sub flore« sterben. Nun, er mied die Städte Florenz und Florentinum, einst aber kam er dennoch nach Florentinum: und er starb. - Warum starb er?
Eine Prophezeiung ist an sich unbeträchtlich; es kommt darauf an, ob sie Macht über einen gewinnt. Thut sie aber das, so ist sie schon bewiesen, und sie wird in Erfüllung gehen. - Wie? Und ist eine Prophezeiung, die in mir selbst aufsteht und stark wird, nicht wertvoller als eine, die von außen käme? Und ist die unerschütterliche Kenntnis des Zeitpunktes, an dem man sterben wird, zweifelhafter als die des Ortes?
Oh, es ist eine stete Verbindung zwischen dem Menschen und dem Tode! Du kannst mit deinem Willen und deiner Überzeugung an seiner Sphäre saugen, du kannst ihn herbeiziehen, daß er zu dir tritt, zu der Stunde, an die du glaubst .
Oftmals, wenn meine Gedanken sich wie graue Gewässer vor mir ausbreiten, die mir unendlich scheinen, weil sie umnebelt sind, sehe ich etwas wie den Zusammenhang der Dinge und glaube die Nichtigkeit der Begriffe zu erkennen.
Was ist Selbstmord? Der freiwillige Tod? Aber niemand stirbt unfreiwillig. Das Aufgeben des Lebens und die Hingabe an den Tod geschieht ohne Unterschied aus Schwäche, und diese Schwäche ist stets die Folge einer Krankheit des Körpers oder der Seele, oder beider. Man stirbt nicht, bevor man einverstanden damit ist .
Bin ich einverstanden? Ich muß es wohl sein, denn ich glaube, daß ich wahnsinnig werden könnte, wenn ich am zwölften Oktober nicht stürbe .
Ich denke unaufhörlich daran, und es beschäftigt mich ganz und gar. - Ich sinne darüber, wann und woher mein Wissen mir gekommen ist, ich vermag es nicht zu sagen! Ich wußte mit neunzehn oder zwanzig Jahren, daß ich mit vierzig sterben müßte, und irgend eines Tages, als ich mich eindringlich fragte, an welchem Tage es geschehen werde, da wußte ich auch den Tag!
Und nun ist er so nahe herangekommen, so nahe, daß ich den kalten Atem des Todes zu verspüren meine.
Der Wind hat sich verstärkt, die See braust, und der Regen trommelt auf dem Dache. Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, sondern bin in meinem Wettermantel hinunter an den Strand gegangen und habe mich dort auf einen Stein gesetzt.
Hinter mir war in Dunkelheit und Regen der Hügel mit dem grauen Haus, in dem die kleine Asuncion schlief, meine kleine Asuncion! Und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.