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Rede gehalten am 5. Juni im Stadttheater zu Lübeck aus Anlaß der 700 Jahrfeier der freien und Hansestadt.
»Wie alles war in der Welt entzweit
Fand jeder in Mauern gute Zeit:
Der Ritter duckte sich hinein,
Bauer in Not fand's auch gar fein.
Wo kam die schönste Bildung her,
Und wenn sie nicht vom Bürger wär'?«
GOETHE
Meine lieben Mitbürger!
Wollen Sie mir erlauben, daß ich mich heute dieser Anrede bediene, dieser und keiner anderen? Wenn ich sonst vor Ihnen stand - es geschah ja schon das eine und andere Mal in den letzten Jahren -, so benutzte ich die übliche, sagte »Meine Damen und Herren«. Aber als die ehrenvolle Einladung an mich erging, zu diesem Feste zu Ihnen zu kommen, und ich zu überlegen begann - droben in Arosa, in Decken auf meinem Zauberberg-Balkon, hinter dessen Gitter Berge und Fichtenwald in wenig mailichem Schneegedünste lagen - wie und was ich bei dieser Gelegenheit zu Ihnen reden sollte, da stand mir das Eine zuerst und vor allem fest, daß ich unter so landsmännisch-heimatlich-festlichen Umständen noch niemals vor Ihnen gestanden sei, und daß ich nicht wie sonst überall beginnen, sondern Sie als meine Mitbürger anreden wollte.
Ich gestehe, mehr wußte ich lange nicht und - Sie werden {38}lächeln - viel mehr weiß ich auch heute und jetzt nicht, da ich vor Ihnen stehe und sprechen soll. Mein sogenannter Vortrag, für den einen Titel zu finden schwer war, ist schon enthalten in dieser intimen und herzlichen Anrede; er ist eigentlich nur daraus zu entwickeln; und wenn ich ihm endlich die Überschrift gegeben habe: »Lübeck als geistige Lebensform«, so ist das ein Nottitel, der im Voraus keine Vorstellung gibt von der Vertraulichkeit der Unterhaltung, die ich in dieser Nachmittagsstunde mit Ihnen, meinen Landsleuten, zu pflegen im Begriffe bin. Von Lübeck sollte natürlich die Rede sein, aber Sie haben von mir gewiß keine gelehrte Auseinandersetzung historischer Art erwartet, wie Ihnen dergleichen in diesen Jubiläumstagen wahrscheinlich gedruckt und mündlich vielfach geboten wurde. Persönlicherer Aeußerungen haben Sie sich von mir versehen, besonders, da man Ihnen, glaube ich, angekündigt hat, ich würde »Jugenderinnerungen« an Lübeck zum Besten geben. Aber das ist nicht das richtige Wort. Ich habe mit Jugenderinnerungen in meiner Produktion ja nie gespart und könnte mich hier nur wiederholen. Von Jugenderinnerungen lebt der ganze Roman, der unter meinen Büchern zu Lübeck die unmittelbarsten stofflichen Beziehungen besitzt: »Buddenbrooks«; und Jugenderinnerungen spielen stark in die Künstlernovelle hinein, die, ihm atmosphärisch nächstverwandt, auf ihn folgte, den »Tonio Kröger«. Nicht um direkte und anekdotische Kindheits- und Ursprungsreminiscenzen ist es mir hier und heute zu tun, sondern um Geistigeres und Wesentlicheres, um ein Bekenntnis, abzulegen vor Ihnen, meinen Mitbürgern, ein Bekenntnis zu Lübeck »als Lebensform«. Denn offen gestanden, wenn ich für meinen Vortrag eben diesen Titel wählte: »Lübeck als geistige Lebensform«, so ist die Lebensform und Lebensauswirkung eines Lübeckers gemeint, des Lübeckers, der vor Ihnen spricht, der ein Künstler, ein {39}Schriftsteller, ein Dichter, wenn Sie wollen, geworden und als Künstler, als Schriftsteller ein Lübecker geblieben ist. Insofern allerdings ist das, was ich heute zu geben habe, Autobiographie, Erinnerung: Selbsterinnerung und Selbsterkenntnis, die Sie mir, bitte, nicht als Selbstgefälligkeit auslegen wollen. Vielmehr muß ich hoffen, daß Sie sie mit mir in ihrer Vertraulichkeit als gerechtfertigt empfinden werden durch den Stolz und die Festlichkeit unseres gemeinsamen historischen Gedenkens.
Vielleicht haben manche von Ihnen schon von einem Gelehrten, einem Literaturforscher gehört, der den neuen, merkwürdigen und übrigens sehr deutschen Versuch unternommen hat, eine kritische Ordnung unseres Schrifttums nicht nach Schulen und Richtungen, sondern nach Stämmen, eine landschaftliche Literaturgeschichte also, aufzustellen. Nun denn, wenn ich sagte, daß ich als Künstler Lübecker geblieben sei, so meine ich damit und bin mir dessen bewußt, daß ich im Nadlerschen Sinn das Patrizisch-Städtische, das stammesmäßig Lübeckische oder das allgemein Hanseatische heute, und zwar nicht nur durch den Lübecker Roman »Buddenbrooks«, literarisch-dichterisch darstelle und vertrete, wobei nur zu begreiflich ist, daß meine Landsleute eine solche Repräsentation lange Zeit durchaus nicht anerkennen wollten und viel eher den Eindruck der Mißratenheit und des Verrats, als den der Echtheit und Treue hatten. Sie waren an anderes gewöhnt. Sie hatten ihr Repräsentanten-Denkmal auf dem Platze hier in der Nähe (in Lübeck ist ja alles »in der Nähe«): den thronenden Poeten, zu dessen Füßen der klassizistische Genius mit der gebrochenen Schwinge lehnt, das Standbild dessen, der gesungen hatte:
»Wie steigst, o Lübeck, du herauf
In alter Pracht vor meinen Sinnen,
An des beflaggten Stromes Lauf usw.« -
{40}gesungen, sage ich, in dem pompösen Sinn, in dem heute niemand mehr singt. Ich habe Emanuel von Geibel als Kind noch gesehen, in Travemünde, mit seinem weißen Knebelbart und seinem Plaid über der Schulter, und bin von ihm um meiner Eltern willen sogar freundlich angeredet worden. Als er gestorben war, erzählte man sich, eine alte Frau auf der Straße habe gefragt: »Wer kriegt nu de Stell? Wer ward nu Dichter?« - Nun, meine geehrten Zuhörer, niemand hat »de Stell« bekommen, »de Stell« war mit ihrem Inhaber und seiner alabasternen Form dahingegangen, der Laureatus mit dem klassisch-romantischen »Saitenspiel« konnte keinen Nachfolger haben, das erlaubte die Zeit, die fortschreitende, sich wandelnde Zeit nicht, und was sich nunmehr als literarischer Ausdruck lübeckischen Wesens auszugeben wagte, das war als solcher zunächst wahrhaftig nicht wiederzuerkennen.
Vor allem war es nicht Lyrik mehr und klingendes Hochgefühl, es war psychologische Prosa, es war ein naturalistischer Roman, in seinem literarischen Habitus stark international bestimmt, und statt jenes priesterlichen Schönheitsidealismus, der der guten alten Trave so kleidsam zustatten gekommen war, erzählte er auf teils düstere, teils komische Art von Lebensdingen, von Geburten, Taufen, Hochzeiten und bitteren Sterbefällen, vermischte er pessimistische Metaphysik mit einer satirischen Charakteristik, die im ersten Augenblick, und nicht nur im ersten, als das Gegenteil von Liebe, Sympathie, Verbundenheit wirken mußte, so sehr als das Gegenteil, daß hierzuhause dem viel angeführten Wort von dem Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, nur wenige zu widersprechen wagten.
Vielleicht wagte nicht einmal der junge Autor und Uebeltäter selbst, ihm zu widersprechen. Ihm war es ja, offen gestanden, wirklich nicht um eine Glorifikation Lübecks zu tun gewesen, sondern um den aus allen literarischen Zonen und {41}außerdem von Wagner her beeinflußten Versuch eines Prosa-Epos, in das er die recht unlübeckischen geistigen Erlebnisse einströmen ließ, die seine zwanzig Jahre erschüttert hatten: den musikalischen Pessimismus Schopenhauers, die Verfallspsychologie Nietzsches, und dessen örtlich-stoffliches Teil ihn im Grunde wenig begeisterte. Dieses hatte sich ihm angeboten als das, was er beherrschte, womit er sein ernstes Spiel treiben mochte; es war, wie es in »Dichtung und Wahrheit« heißt, »das Nächstvergangene, das in vermögender Jugendzeit der Genius ihn antrieb, festzuhalten, zu schildern und kühn genug zu günstiger Stunde öffentlich aufzustellen.«
Werde ich Sie langweilen, wenn ich Ihnen ein wenig von der Entstehungsgeschichte des Buches erzähle? Ein paar novellistisch präludierende Versuche waren schon vorangegangen, und die psychologische short story war es, die ich endgültig für mein Genre hielt: ich glaubte nicht, daß ich es je mit einer großen Komposition werde aufnehmen können und wollen. Da geschah es, daß ich in Rom, wo ich damals mit meinem Bruder vorläufig lebte, einen französischen Roman, die »Renée Mauperin« der Brüder Goncourt, las und wieder las, mit einem Entzücken über die Leichtigkeit, Geglücktheit und Präzision dieses in ganz kurzen Kapiteln komponierten Werkes, einer Bewunderung, die produktiv wurde und mich denken ließ, dergleichen müsse doch schließlich auch wohl zu machen sein. Nicht Zola also, wie man vielfach angenommen hat - ich kannte ihn damals gar nicht -, sondern die sehr viel artistischeren Goncourts waren es, die mich in Bewegung setzten, und als weitere Vorbilder boten skandinavische Familienromane sich an, legten sich als Vorbilder darum nahe, weil es ja eine Familiengeschichte, und zwar eine handelsstädtische, der skandinavischen Sphäre schon nahe, war, die mir vorschwebte. Auch dem Umfang nach wurde dann etwas den Büchern Kiellands {42}und Jonas Lies Entsprechendes konzipiert: 250 Seiten, nicht mehr, in 15 Kapiteln, - ich weiß es noch, wie ich sie aufstellte. Und so ging es denn an ein Notizenmachen, ein Entwerfen chronologischer Schemata und genauer Stammbäume, ein Sammeln psychologischer Pointen und gegenständlichen Materials, - ich wußte nicht genug, ich wandte mich mit allerlei geschäftlichen, städtischen, wirtschaftsgeschichtlichen, politischen Fragen nach Lübeck, an einen nun längst verstorbenen Verwandten, einen Vetter meines Vaters, den...
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