III
Über San Francisco, wo wir ein Kinderpaar, unseren jüngsten Sohn, den Musiker, und seine anmutige Schweizer Frau besuchten und das Himmelsblau der Augen meines Lieblingsenkels, des kleinen Frido, eines bezaubernden Kindes, mich wieder einmal entzückte, kehrten wir vor Mitte Dezember nach Hause zurück, und sogleich nahm ich die Arbeit am Segenskapitel wieder auf, nach dessen Abschluß nur Jaakobs Tod und Bestattung, der Gewaltige Zug von Ägypten nach Kanaan noch zu schildern war. Das Jahr 1943 war erst einige Tage alt, als ich die letzten Zeilen des vierten Joseph-Romans und damit des Gesamtwerkes niederschrieb. Ein mir merkwürdiger, aber gewiß nicht übermütiger Tag, dieser 4. Januar. Das große Erzählwerk, das mich durch all diese Jahre des Exils, die Einheit meines Lebens gewährleistend, begleitet hatte, war zustandegebracht, war abgetan, und ich war bürdelos, - ein fragwürdig-leichter Zustand für einen, der seit frühen Tagen, den Tagen der Buddenbrooks, unter einer weithin zu tragenden Bürde gelebt hat und ohne solche kaum recht zu leben weiß.
Antonio Borgese und seine Frau, unsere Elisabeth, waren bei uns, und im Familienkreis las ich am selben Abend die beiden Schlußkapitel vor. Der Eindruck war tröstlich. Man trank Champagner. Bruno Frank, vom Ereignis des Tages unterrichtet, rief an zur Gratulation mit freundschaftlich bewegter Stimme. Warum ich »leidend, kummervoll, quälend erregt und müde« war in den nächsten Tagen, weiß Gott allein, dessen Wissen, auch über ihn selbst, wir so viel anheimgeben müssen. Vielleicht trugen der herrschende Föhnsturm und solche Nachrichten zu meiner Verfassung bei, wie daß die Nazis in idiotischer Grausamkeit, trotz schwedischer Intervention, darauf bestanden, die dreiundachtzigjährige Witwe Max Liebermanns nach Polen zu deportieren. Sie nahm Gift statt dessen . Dabei stießen russische Corps gegen Rostow vor, die Vertreibung der Deutschen aus dem Kaukasus war nahezu vollendet, und in einer starken, zuversichtlichen Rede vor dem neuen Kongreß kündigte Roosevelt die Invasion Europas an.
Ich nahm die Kapitel-Betitelungen des vierten Bandes, die Einteilung in sieben Hauptstücke oder »Bücher« vor und las unterdessen Dinge wie Goethes Aufsatz Israel in der Wüste, Freuds Moses, das Buch Wüste und Gelobtes Land von Auerbach und übrigens im Pentateuch. Längst hatte ich mich gefragt, warum ich zu jenem Buch der Celebritäten nur mit einem essayistischen Vorwort, - warum nicht lieber mit einem »Vorspiel auf der Orgel«, wie Werfel sich später ausdrückte, beitragen sollte: mit einer Erzählung von der Erlassung der Gebote, einer Sinai-Novelle, wie sie mir als Nachklang des Joseph-Epos, von dem ich noch warm war, sehr nahe lag: Notizen und Vorbereitungen dazu nahmen nur ein paar Tage in Anspruch. An einem Vormittag tat ich die fällige Radiosendung zum zehnjährigen Bestehen der Naziherrschaft ab und begann am nächsten Morgen die Moses-Erzählung zu schreiben, in deren XI. Kapitel ich schon stand, als, am 11. Februar, der Tag sich zum zehnten Male jährte, an dem wir - es war unser Hochzeitstag - München mit leichtem Gepäck verließen, ohne zu ahnen, daß wir nicht wiederkehren würden. In nicht ganz zwei Monaten, einer für meine Arbeitsart kurzen Frist, schrieb ich fast ohne Verbesserungen, die Geschichte nieder, der, zum Unterschied von der quasi-szientifischen Umständlichkeit des Joseph, ein Frisch-darauf-los-Tempo angeboren war. Während der Arbeit, oder vorher schon, hatte ich ihr den Titel Das Gesetz gegeben, womit nicht sowohl der Dekalog, als das Sittengesetz überhaupt, die menschliche Zivilisation selbst bezeichnet sein sollte. Es war mir ernst mit dem Gegenstande, so scherzhaft das Legendäre behandelt und soviel voltairisierender Spott, wiederum im Gegensatz zu den Joseph-Erzählungen, die Darstellung färbt. Wahrscheinlich unter dem unbewußten Einfluß von Heines Moses-Bild gab ich meinem Helden die Züge - nicht etwa von Michelangelos Moses, sondern von Michelangelo selbst, um ihn als mühevollen, im widerspenstigen menschlichen Rohstoff schwer und unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen. Der Fluch am Ende gegen die Elenden, denen in unseren Tagen Macht gegeben war, sein Werk, die Tafeln der Gesittung, zu schänden, kam mir von Herzen und läßt wenigstens zum Schluß keinen Zweifel an dem kämpferischen Sinn der übrigens leicht wiegenden Improvisation.
Am Morgen nach diesem Abschluß erst räumte ich das gesamte mythologisch-orientalistische Material zum Joseph, Bilder, Exzerpte, Entwürfe, verpackt beiseite. Die Bücher, die ich zum Zwecke gelesen, blieben, eine kleine Bibliothek für sich, auf ihren Fächern. Tisch und Schubfächer waren leer. Und nur einen Tag später, dem 15. März, um genau zu sein, taucht in meinen abendlichen Tagesrapporten das Sigel »Dr. Faust«, fast ohne Zusammenhang, zum erstenmal auf. »Durchsicht alter Papiere nach Material für >Dr. Faust<.« Welcher Papiere? Ich wüßte es kaum zu sagen. Aber der Vermerk, der sich am nächsten Tag wiederholt, ist verbunden mit der Erwähnung von Briefen an Professor Arlt von der University of California in Los Angeles und an MacLeish in Washington wegen leihweiser Überlassung des Volksbuches von Faust und - der Briefe Hugo Wolfs. Die Kombination weist auf eine gewisse, seit langem bestehende Umrissenheit der auch wieder sehr nebelhaften Idee, die ich verfolgte: Augenscheinlich handelte es sich um die diabolische und verderbliche Enthemmung eines - noch jeder Bestimmung entbehrenden, aber offenbar schwierigen - Künstlertums durch Intoxikation. »Vormittags in alten Notizbüchern«, heißt es unterm 17ten. »Machte den Drei-Zeilen-Plan des Dr. Faust vom Jahre 1901 ausfindig. Berührung mit der Tonio Kröger-Zeit, den Münchener Tagen, den nie verwirklichten Romanplänen >Die Geliebten< und >Maja<. >Kommt alte Lieb' und Freundschaft mit herauf<. Scham und Rührung beim Wiedersehen mit diesen Jugendschmerzen .«
Zweiundvierzig Jahre waren vergangen, seit ich mir etwas vom Teufelspakt eines Künstlers als mögliches Arbeitsvorhaben notiert, und mit dem Wiederaufsuchen, Wiederauffinden geht eine Gemütsbewegung, um nicht zu sagen: Aufgewühltheit einher, die mir sehr deutlich macht, wie um den dürftigen und vagen thematischen Kern von Anfang an eine Aura von Lebensgefühl, eine Lufthülle biographischer Stimmung lag, die die »Novelle«, meiner Einsicht recht weit voran, zum Roman vorherbestimmte. Es war diese innere Bewegung, die damals den Lakonismus meiner Tagebuchnotizen zu Selbstgesprächen erweitert. »Erst jetzt realisiere ich, was es heißt, ohne das Joseph-Werk zu sein, die Aufgabe, die in dem ganzen Jahrzehnt immer neben mir, vor mir stand. Erst da auch das Gesetz-Nachspiel abgetan, wird mir die Neuheit und Fragwürdigkeit der Lage bewußt. Es war bequem, an dem Herangebrachten weiterzuwirken. Wird noch die Kraft zu neuen Konzeptionen da sein? Ist nicht die Thematik aufgebraucht? Und sofern sie es nicht ist - wird noch die Lust dazu aufgebracht werden? - Dunkles Wetter, regnerisch, kalt. Unter Kopfschmerzen skizziert und notiert für die Novelle. Nach Los Angeles zum Konzert, in Steinbergs Loge mit seinen Damen. Horowitz spielte das B-dur Klavierkonzert von Brahms, das Orchester die Don Juan-Ouvertüre und die Pathétique von Tschaikowsky. >Auf vielfaches Verlangen<, hätte man früher gesagt. Es ist aber sein Schwermutsvoll-Bestes, das Höchste ihm Erreichbare, und immer hat es sein Schönes und Ergreifendes, ein bestimmtes Talent, wer weiß durch welche Fügung der Umstände, auf den Gipfel seiner Möglichkeiten kommen zu sehen. Auch erinnerte ich mich, wie Stravinsky mir vor Jahren in Zürich seine Bewunderung für Tschaikowsky einbekannte. (Ich hatte danach gefragt.) - Beim Dirigenten im Künstlerzimmer . Las mit Erheiterung Geschichten in Gesta Romanorum, ferner in Nietzsche und die Frauen von Brann und Stevensons Meisterstück Dr. Jekyll and Mr. Hyde, die Gedanken auf den Fauststoff gerichtet, der jedoch fern davon ist, Gestalt anzunehmen. Obgleich das Pathologische ins Märchenhafte zu rücken, ans Sagenmäßige anzuschließen wäre, geht eine Art von Bangigkeit davon aus, die Schwierigkeiten scheinen unüberwindlich, und die Vermutung mischt sich ein, daß ich deshalb vor dem Unternehmen zurückschrecke, weil ich es immer als mein letztes betrachtet habe.«
Ich lese das nach und weiß, daß es richtig war. Richtig, was das Alter der kaum definierbaren Idee, die langen Wurzeln betrifft, die davon in mein Leben hinabreichen, und richtig insofern ich sie beim Ausblick auf einen Lebensplan, der immer ein Arbeitsplan gewesen war, von jeher an das Ende gestellt hatte. Was da, vielleicht, eines späten Tages, zu machen sein würde, nannte ich im stillen meinen »Parsifal«. So sonderbar es scheinen mag, daß einer ein Alterswerk in jungen Jahren sich programmmäßig vorsetzt, - es war der Sachverhalt; und eine spezifische, in manchen kritischen Versuchen sich äußernde Vorliebe für die Betrachtung von Alterswerken, des Parsifal selbst, des zweiten Faust, des letzten Ibsen, der Stifter'schen, Fontane'schen Spätprosa, mag wohl damit zusammenhängen.
Die Frage war, ob nun die Stunde für diese von langer Hand, wenn auch noch so unscharf visierte Aufgabe gekommen war. Ein Gegeninstinkt, verstärkt durch die Ahnung, daß es mit dem »Stoff« nicht geheuer war und daß es Herzblut, viel davon, kosten werde, ihn in Gestalt zu bringen, durch die...