ERSTES KAPITEL
LEGENDE UND WIRKLICHKEIT
Ruhm ist die Summe aller Missverständnisse, die über einen Menschen in Umlauf sind.
Rainer Maria Rilke
Ne me comprenez pas si vite, je vous en prie!
Andr é Gide
Der Erste Weltkrieg war zu Ende. Die verwirrten, gepeinigten Völker wussten nichts voneinander, oder vielmehr, sie wussten nur das Falsche, Schädliche. Freilich, die schandbaren und lächerlichen Züge des eben noch feindlichen Nachbarn hatte man recht sorgfältig studiert; aber kein guter Patriot kümmerte sich um die geistigen Neigungen und Leistungen anderer Nationen. Vier Jahre hasserfüllten, grausamen Kampfes hatten genügt, den Begriff einer Universalkultur zeitweilig ausser Kurs zu setzen.
Kein Volk war von dieser unglückseligen Entwicklung schwerer betroffen als eben jenes, dessen exzessiver Nationalismus die Hauptschuld an der Katastrophe trug. Während der Durchschnittsdeutsche unter den Folgen der ökonomischen Blockade stöhnte, litten die deutschen Intellektuellen an ihrer geistigen Isolierung wie an einer Krankheit.
Keine der führenden Nationen ist zur kulturellen Autarkie so ungeeignet wie die Deutschen. Die lateinischen Rassen, zusammen mit der angelsächsischen Welt, bilden eine grosse, unabhängige Einheit, die schöpferisch lebendig bleibt, sogar wenn sie den Kontakt mit den Sphären germanischer und slawischer Kultur verliert. Auch Russland ist nicht eigentlich auf Fremdes angewiesen: ihm bleibt stets die Möglichkeit, sich seiner östlichen Ursprünge und Traditionen zu erinnern, sich gleichsam ins Asiatische zurückzuziehen. Aber das deutsche Genie wird unfruchtbar und sogar gefährlich, sobald es sich isoliert. Das Land der europäischen Mitte muss empfangen, um hervorbringen zu können. Deutschlands intellektuelles Gleichgewicht, ja, seine Existenz als kultureller Faktor beruht auf einem weltweiten System geistiger Relationen und Affinitäten. Anregung und Aufsicht von aussen sind diesem hochbegabten, aber unbalancierten Volk durchaus unentbehrlich.
Während der Periode, die mit 1919 ihren Anfang nahm, bemühte sich ein verarmtes, erschöpftes Deutschland darum, die geistigen Kontakte, die der Weltkrieg unterbrochen hatte, so weit wie möglich wieder herzustellen. Mindestens ein Teil der kulturellen Elite in Deutschland war ernsthaft und ehrlich erfüllt von geistigem Versöhnungswillen. Man war aufgeschlossen, aufnahmebereit; man wollte wissen, was es an kulturell Neuem gab dort draussen in der Welt, aus der so lange keine Kunde in die waffenstarrende Heimat gedrungen war. Was war « en vogue » in London und New York? Wie hatte sich die italienische Musik seit 1914 entwickelt? Was war aus dem russischen Roman geworden? Gab es neue Richtungen und Entdeckungen auf psychologischem und philosophischem Gebiet? Wie stand es um den amerikanischen Film? Was für Tendenzen beherrschten die neue französische Literatur?
Anfangs war dieser Wissensdurst unvoreingenommen und umfassend - nicht beschränkt auf irgendein besonderes Land oder eine bestimmte kulturpolitische Richtung. Aber allmählich nahm die grosse Neugier präzisere Formen an und orientierte sich nach gewissen Interessen und Prinzipien. Es gab junge Deutsche, deren geistige Aufmerksamkeit einzig und allein auf das russische Experiment konzentriert erschien, während andere sich zum italienischen Faschismus hingezogen fühlten. Wieder andere suchten das Heil in den Offenbarungen indischer Mystik oder im geschäftstüchtigen Idealismus eines Henry Ford. Indessen gab es auch solche, die nach Frankreich schauten.
Manche von uns fanden die geistigen Entwicklungen, die sich in Paris abzuzeichnen begannen, attraktiver und bedeutungsvoller als irgend etwas, was sich in Moskau oder Rom begab. Frankreich, das den deutschen Nationalisten immer noch als der « Erbfeind » galt, war für einen gewissen Typ des deutschen liberalen Intellektuellen das gelobte Land geblieben oder wieder geworden. In der ausgeglichenen Sphäre französischer Zivilisation hofften wir die Vorbilder und Ideen zu finden, deren wir zur Abrundung und Klärung unseres eigenen zerrissenen Weltbildes so dringend bedurften.
Wir, die wir bei Beginn des Krieges Kinder gewesen waren, wussten damals noch kaum Bescheid in der komplexen Weiträumigkeit französischer Kultur. Was die Älteren uns von Frankreich zu erzählen hatten, klang ein wenig abgestanden, nicht ganz zeitgemäss. Es war unser Ehrgeiz, Frankreich neu zu entdecken - unser eigenes Frankreich, so wie Heine und Nietzsche ihr eigenes Frankreich entdeckt hatten.
Zu lange schon - so wollte es uns scheinen - war der Begriff des Französischen missverstanden und vergröbert worden. Diese Mischung aus lateinischer Logik und gallischem Esprit, die der gebildete Spiesser für so eminent « französisch » hielt - war das wirklich alles, was das Land Pascals und Racines zu bieten hatte? Das französische Genie, nach Ansicht der « Babbits » aller Kontinente, war feminin, frivol und flatterhaft, dabei pompös theatralisch und nicht ohne einen Einschlag trockener Pedanterie. Wenn der kosmopolitisch eingestellte Bourgeois in Leipzig oder Milwaukee an Frankreich dachte - was für Assoziationen drängten sich ihm wohl auf? Das Lächeln Voltaires und die Beine der Minstinguette; Napoleons cäsarische Gebärde und der Strassenjungencharme des Maurice Chevalier; die grossartig dahinrollende Rhetorik Victor Hugos und das holde Hüsteln der Kameliendame; die starre Redlichkeit eines Clemenceau und die elegante Weisheit eines Anatole France.
Dem literarisch versierten Babbit galt Anatole France immer noch als der Repräsentant des modernen französischen Geistes.
Wir aber spürten, dass es mit Anatole France zu Ende ging. Freilich, er blieb der raffinierte Stilist und heitere Denker, als den die Welt ihn lang bewundert hatte. Aber seine Stimme sprach nicht mehr für seine Nation, nicht mehr für unsere Epoche. Seine Ironie war schal geworden. Seine Prosa und seine Gedanken waren zu durchsichtig, zu glatt, zu vernünftig: etwas fehlte - das Geheimnis. Der grosse Skeptiker wusste nicht um unsere Sehnsüchte und Ängste. Er fand nicht mehr die Gesten und Akzente, die eine beunruhigte, aufgewühlte Nachkriegsgeneration von ihrem Dichter wollte.
Nein, Anatole France war nicht mehr Frankreich.
Das Paris der zwanziger Jahre war nicht mehr das Paris von 1890 oder von 1902. Die Dreyfusaffäre schien unermesslich weit zurückzuliegen - ein mythisches Ereignis, wie der Trojanische Krieg oder das Bühnendebut der Sarah Bernhardt. Aber eine neue Zeit will ihre neuen Mythen.
War Emile Zolas Mythos noch lebendig? Uns kam er eher etwas staubig vor. Die künstlerischen Mittel und wissenschaftlichen Argumente des Naturalismus liessen uns ebenso kalt wie die esoterischen Verfeinerungen des Symbolismus und der « décadence ». Verlaines Absinth-Ekstasen und die anrüchigen Kunstreiterinnen des Toulouse-Lautrec waren historische Erinnerungen - ehrwürdig-wunderlich, wie die Riten der Comédie Française oder die Hüte der Kaiserin Eugénie.
Unsere Ahnung begriff, dass neue, erregendere Dinge sich an den Seineufern vorbereiteten oder schon im Gange waren. Zweifellos, der französische Geist war dabei, sich in das Abenteuer einer neuen Metamorphose zu stürzen! Er regte sich, schwankte, schillerte, phosphoreszierte - aufgestört, verjüngt, mit einer neuen Unruhe im Blick, einem neuen Glanz in der Geste. Hatte man ihm solche Wandlungsfähigkeit noch zugetraut? Frankreich galt doch als überreif - eine alternde Schöne, zugleich kapriziös und behäbig, starken Emotionen abgeneigt. Und nun auf einmal - diese überraschende Entfaltung neuer Energien und Leidenschaften, diese gespannte Wachheit, dieser schnelle Pulsschlag, dazu dies neue Pathos eines tiefen, bohrenden Ernstes!
Da waren neue Ideen, neue Rhythmen, ein neues Lebensgefühl. Auch neue Namen kamen reichlich vor - welche Fülle des frischen Ruhmes! Freilich, viele der Meister, die uns nun zu faszinieren begannen, waren der französischen Avantgarde schon seit längerem bekannt gewesen; aber erst damals, in jenen schöpferisch aufgewühlten Nachkriegsjahren, war die europäische « intelligenzia » in ihrer Gesamtheit bereit, gewisse revolutionäre Einflüsse aufzunehmen und zu absorbieren. Wir « entdeckten » Arthur Rimbaud - den Rebellen und Abenteurer, dessen dichterische Vision die Konflikte und Ausdrucksmittel unserer Epoche mit unheimlicher Präzision antizipiert. Wir « entdeckten » Bergson, der manchem von uns fast so bedeutsam wurde wie der andere grosse Umwerter - Nietzsche. Die junge Generation - alles negierend, was uns « typisch Neunzehntes Jahrhundert » schien - zeigte sich nur zu empfänglich für die Reize der neuen Lehre, mit ihrer Verherrlichung der Intuition und des Instinktes, ihrer...