Schweitzer Fachinformationen
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Ratzengrund, Wohnung der Feigls
Mit zitternden Händen griff Franz Feigl nach einem frisch gespitzten Kohlestift und setzte zu einer Linie an. Doch statt einem geraden Strich landete eine unruhige, stark verwackelte Linie auf dem ausgefransten Papier.
»Himmel, Arsch und Zwirn!« Fluchend warf er den Stift vor sich auf die Tischplatte. Er rollte zum Rand und fiel auf den Boden.
»Weder der Stift noch der Tisch können was dafür, dass du säufst!«, schimpfte Liliane Feigl, ging in die Knie und hob den Stift auf. Bestimmt war die Mine gebrochen.
Nach ihrem Arbeitstag in der Wiener Werkstätte fühlte sie sich erschöpft und müde. Wie immer hatte sie für ihren Vater Essensreste aus der Werkstatt mitgebracht. Die Künstlerinnen versorgten sich selbst mit köstlichen Speisen, die nie ganz aufgegessen wurden. Lili, die als Putzfrau auch für die kleine Küche in der Werkstätte zuständig war, hatte die Aufgabe, die Reste zu entsorgen. Was sie nur allzu gern tat. Bevor sie ihre Stelle in der Werkstätte angetreten hatte, war Hunger ihr ständiger Begleiter gewesen. Damit war seit ein paar Monaten Schluss. Einer der vielen Vorteile ihres geregelten Arbeitsalltags.
»Ich habe seit drei Tagen nichts getrunken«, verteidigte sich Franz Feigl finster.
»Und davor warst du monatelang im Dauerrausch.« Lili schob Papier und Stift zur Seite, stellte ihren Korb auf dem wackeligen Tisch ab und holte eine zusammengeschnürte karierte Stoffserviette heraus. In dem windschiefen Regal neben dem Spülbecken - eigentlich ein verbeulter Kübel - fasste sie nach einem abgeschlagenen Teller, dann entfaltete sie die Serviette. Zwei duftende Fleischlaberl kamen zum Vorschein. Beide legte sie auf den Teller und schob ihn zu ihrem Vater.
»Hier«, sagte sie. »Du musst was essen. Die Laberl sind köstlich. Helene hat sie gemacht.«
Helene Gabler war Lilis Lieblingskollegin. Sie war eine der wenigen, die nicht nur von Lilis Talent als Künstlerin wussten, sondern auch versuchten, sie zu fördern. Leider mit nur mäßigem Erfolg. Sowohl Koloman Moser als auch Josef Hoffmann sahen es nicht gern, wenn eine Putzfrau bei den edlen Designs der Wiener Werkstätte Hand anlegte. Obwohl Lilis Entwürfe mitunter besser waren als die der ausgebildeten Künstlerinnen.
In der Habsburgermonarchie war es Frauen nach wie vor untersagt, Kunst zu studieren, da es als unmoralisch galt, wenn sie nackte Körper zeichneten oder malten. Sie durften lediglich eine Ausbildung an der Kunstgewerbeschule absolvieren. Danach war die Wiener Werkstätte einer der wenigen Orte, wo auch Frauen sich künstlerisch entfalten konnten. Aber selbst hier blieben ihnen bestimmte Gebiete verwehrt. Architektur und Möbeldesign waren den Männern vorbehalten, Frauen durften sich an Alltagsgegenständen, Stoff und Kleidung versuchen. Lili war von ihrem Vater, einem alkoholsüchtigen Künstler, der von seinen Arbeiten nicht leben konnte und sich daher mit dem Fälschen von Dokumenten über Wasser hielt, schon sehr früh in die Welt der Kunst eingeführt worden. Bereits im zarten Alter von fünf Jahren hatte sie zugesehen, wie Franz Feigl nackte Frauen malte. Und Lili hatte ihn nicht nur bei der Arbeit beobachtet, sondern auch so lange gebettelt, bis sie selbst den Stift führen durfte. Ihr Vater hatte sie in unterschiedlichen Maltechniken unterrichtet und ihr alles beigebracht, was er wusste und konnte. Mittlerweile übertraf Lili ihren Vater längst, und zwar im Fälschen ebenso wie im Malen. Ihre Stempelmarken sahen den echten zum Verwechseln ähnlich, und ihre Porträts waren Bilder, die nicht nur das Aussehen der Modelle, sondern auch deren Charakterzüge wiedergaben. Außerdem war Lili dabei, eine sehr persönliche Pinselstrichführung zu entwickeln, die ihre Bilder einzigartig machte. Leider würde die Welt niemals von ihrem Talent erfahren. In den Augen ihrer Mitmenschen war sie bloß eine Putzfrau.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Franz Feigl. Er schob den Teller von sich weg.
»Papa, du musst essen!«, beharrte Lili. Sie klang jetzt weniger streng, dafür umso besorgter. Ihr Vater hatte in den letzten Wochen noch weiter abgenommen und war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die grauen, unrasierten Wangen waren eingefallen, die Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen.
»Hier!« Erneut stellte sie die Fleischlaberl vor ihn hin. Außerdem holte sie ein Stück frisches Brot aus dem Korb sowie eine Salzgurke, die in Zeitungspapier eingewickelt war. Lili wusste, wie sehr ihr Vater diese Gurken liebte. »Nur ein paar Bissen«, bettelte sie.
Seufzend griff Franz nach der Gurke und biss ab. Er kaute so lange und umständlich daran, als handele es sich um ein mehrere Tage altes Brot. Als die Gurke verzehrt war, nahm er auch vom Fleischlaberl einen Bissen. Ein bisschen Farbe kehrte auf seine Wangen zurück.
»Na bitte, geht ja«, meinte Lili zufrieden.
»Vorhin war der rote Pepi da«, sagte er leise, ohne Lili anzusehen. Den Blick hielt er auf seine zitternden Hände gerichtet. Lili wusste auch so, was das bedeutete. Der rote Pepi war der Schuldeneintreiber von Dragan Zardic, einem Beisel- und Bordellbesitzer am Spittelberg. Den Spitznamen verdankte er seinem roten Vollbart. Franz Feigl ging regelmäßig in das »Goldene Vogerl« und verspielte und versoff Geld, das er nicht besaß.
»Wie viel ist es diesmal?«, fragte Lili.
Franz schwieg schuldbewusst.
»Wie viel?«, wiederholte Lili.
»Mehr, als wir haben«, gab Franz zu.
»Das heißt nicht viel. Denn wir haben nichts«, sagte Lili. »Ich habe meinen Lohn der Vermieterin gegeben.«
»Alles?«, fragte Franz entsetzt und hob nun doch den Kopf. Offenbar hatte er gehofft, dass Lili die paar Münzen, die sie in der Wiener Werkstätte verdiente, ihm überlassen würde.
»Ja«, log Lili. In Wahrheit hatte sie die Miete noch nicht beglichen, doch das würde sie ihrem Vater nicht verraten. Mizzi Horvath, die Eigentümerin des windschiefen Hauses am Ratzengrund, in dem Lili und ihr Vater seit Jahren wohnten, hatte wiederholt gedroht, sie beide rauszuwerfen, wenn sie nicht rechtzeitig bezahlten. Bisher hatte sie ihre Drohung noch nie wahr gemacht. Aber Lili wollte es nicht darauf ankommen lassen. So viele Menschen in Wien lebten auf der Straße oder in der Kanalisation, sie wollte weder das eine noch das andere. Ein Dach über dem Kopf, und war es noch so schäbig, war besser als jeder Schlafplatz unter der Brücke. Morgen in der Früh würde sie das Geld, das sie in den Falten ihres Unterrocks versteckt hatte, der Horvath bringen.
Lili warf einen Blick auf das Papier, das sie vorhin zur Seite geschoben hatte. Woran arbeitete ihr Vater? Vielleicht konnte sie ihm helfen? Neugierig zog sie die Blätter zu sich und erstarrte mitten in der Bewegung. Der Name Oskar Hecht stach ihr ins Auge.
»Was ist das?«, fragte sie tonlos. Ihr Herz setzte für einen Moment aus.
»Ein Ausweis«, sagte Franz seelenruhig. »Wenn Oskar entlassen wird, braucht er neue Dokumente.«
»Ich will diesen Mann nie wiedersehen!« Lili nahm die Hand von dem Papier, so als könnte allein der Name ihre Fingerkuppen verbrennen. »Das weißt du, Papa.«
»Oskar wird uns aus dem Schlamassel helfen«, erwiderte Franz voller Überzeugung. »Er kennt die richtigen Leute. Sobald er wieder auf freiem Fuß ist, sind die mageren Zeiten vorbei.«
»Oskar kennt Leute, die uns hinter Gitter bringen, genau wie sie es mit ihm gemacht haben.«
»Es war ein unglücklicher Zufall, dass er aufgeflogen ist. So einen Fehler macht er nicht noch einmal«, widersprach Franz.
Lili stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. »Ich habe eine ordentliche Arbeit. Wenn du nicht saufen und spielen würdest, hätten wir ausreichend Geld. Ich will Oskar nie wiedersehen.«
»Ach, Lili. Er wusste nicht, was er tat. Er war betrunken, als das passierte. Gib deinem Herzen einen Ruck, verzeih ihm .«
»Nein!« Lilis Stimme wurde ungewohnt laut. »Nie wieder. Hast du mich verstanden?« Sie nahm das Papier in die Hand und zerriss es in viele kleine Teile. Dann nahm sie die Fetzen, ging zum verbeulten Ofen, öffnete mit einem Haken das winzige Türchen und warf die Papierstücke in die Glut, wo sie augenblicklich Feuer fingen. Sie sah zu, wie sich das Papier kräuselte und schließlich zu Asche zerfiel.
»Sollte Oskar Hecht hier auftauchen, bin ich weg«, sagte sie grimmig.
»Es hat eine Zeit gegeben, da hast du ihn -«
Lili fiel ihrem Vater ungehalten ins Wort. »Das ist vorbei. Es war ein großer Fehler, ich war jung und dumm und unerfahren und -«
»Schon gut!« Beschwichtigend hob Franz Feigl beide Hände. »Ich habe dich verstanden.«
»Gut!«, sagte Lili.
»Das bedeutet aber, dass wir ein finanzielles Problem haben.«
»Wie viel, Papa?«
Niedergeschlagen zuckte Franz Feigl die Schultern und schwieg beharrlich.
»Hast du weitergemalt?« Lili kannte die Antwort auch so. Hätte Franz Feigl mit Ölfarben gearbeitet, würde sie es riechen. Lili liebte den Duft von Bindemittel, Ei und Farbe.
Sie schob den Vorhang zu dem Verschlag, in dem ihr Bett stand, zur Seite. Seit Tagen lehnten dort mehrere Leinwände. Dragan Zardic hatte ihrem Vater ein großzügiges Angebot gemacht. Er würde ihm die Schulden erlassen, wenn er zwei Bilder für ihn malte. Das war jedoch schon vor Wochen gewesen. Seither hatte Franz Feigl noch mehr Schulden gemacht und nichts gemalt.
Niedergeschlagen hob Franz die zitternden Hände. »Ich kann nicht«, sagte er traurig.
»Dann werde ich die Bilder fertig malen«, meinte Lili. »Misch mir die Farben an.« Sie sah ihren Vater streng an. »Das kannst du auch mit zitternden Händen.«
»Denkst du, du kannst...
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