Schweitzer Fachinformationen
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Wien, Mariahilf, 9. Dezember 1926
»Ist das dein Nikolaussack?« Anton zeigte auf ein prall gefülltes Jutesäckchen, das im Wohnzimmer am Fensterbrett stand. Ein Zwetschkenkrampus mit spitzer, langer Papierzunge im Walnussgesicht lehnte daneben. »Du hast ja noch nichts von deinen Süßigkeiten genascht.« Fassungslos sah Anton zu seiner Enkeltochter Rosa. Die Neunjährige lächelte ihn stolz an.
»Ich habe mit Fritzi eine Wette abgeschlossen. Er hat behauptet, dass er seinen Schokoladennikolaus länger aufheben kann als ich.«
Fritzi war Rosas bester Freund, die zwei Kinder steckten ständig zusammen. In der Reformschule von Lili Roubiczek besuchten sie dieselbe Klasse, waren beide Mitglieder im Wiener Eislaufverein und hatten gemeinsam schwimmen gelernt. Immer wieder forderten sie einander mit Aufgaben zu besonderen Leistungen heraus. So wetteten sie, wer mehr Tore beim Eishockey schoss, wer mehr Powidltascherl essen und wer beim Tauchen länger die Luft anhalten konnte.
Herauszufinden, wer länger auf seinen Schokoladennikolaus verzichten konnte, war neu und erschien Anton, der eine besondere Leidenschaft für Süßigkeiten hegte, geradezu masochistisch.
»Warum wollt ihr die Schokolade, den Lebkuchen und die getrockneten Feigen denn nicht essen?«, erkundigte er sich bestürzt. »Die Köstlichkeiten werden ja alt und schmecken dann nicht mehr gut.«
»Wir haben uns auf einen Endtermin geeinigt, damit das nicht passiert«, beruhigte ihn Rosa und setzte sich zu ihrem Großvater an den Tisch. Seit Schulbeginn war sie schon wieder ein ordentliches Stück gewachsen. Anton war sich sicher, dass sie ihren Freund jetzt um ein paar Zentimeter überragte. Das würde sich in spätestens fünf Jahren wieder geändert haben. Doch im Moment schien es Rosa zu gefallen, dass sie die Größere von ihnen war.
»Wer von uns den Nikolaus bis zum vierten Adventsonntag nicht aufgegessen hat, der hat gewonnen«, erklärte sie stolz.
»Womit wird der Gewinner belohnt?« Anton glaubte aber zu wissen, was es war.
»Wenn Fritzi gewinnt, kriegt er meinen Nikolaus, wenn ich siege, ist es umgekehrt.«
»Und wenn ihr beide bis zum vierten Adventsonntag durchhaltet?«
»Dann sind wir beide Sieger und bekommen von Ernestine einen Extraschokoriegel.«
»Ah ja!« Es überraschte Anton nicht, dass die pensionierte Lateinlehrerin Ernestine Kirsch, mit der er seit einigen Monaten das frisch renovierte Kutscherhäuschen im Garten seiner ehemaligen Apotheke bewohnte, hinter der ungewöhnlichen Abmachung steckte.
»Eigentlich wollten wir ja wetten, wer bis Weihnachten mehr Lebkuchen und Vanillekipferl essen kann«, gab Rosa zu. »Weil doch nach Weihnachten mein Geschwisterchen zur Welt kommt und ich dann alles teilen muss.«
Schon bald würde Anton zum zweiten Mal Großvater werden. Seine Tochter Heide hatte im Mai den Kriminalbeamten Erich Felsberg geheiratet und war nun schwanger.
»Ich glaube nicht, dass du dir so schnell Sorgen wegen des Teilens machen musst«, beruhigte Anton seine Enkelin. »Bis so ein kleines Buzerl Schokolade essen darf, vergeht viel Zeit.«
»Das weiß ich doch!« Rosa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber Fritzi meint, es ist klüger, auf Vorrat zu essen. Er weiß das, schließlich hat er vier Brüder.«
Den Gedanken fand Anton ganz vernünftig. Was man mal gegessen hatte, konnte einem niemand mehr stibitzen.
»Ernestine fand unsere Wette nicht gut«, erklärte Rosa. »Sie sagt, zu Weihnachten gibt es ohnehin den Christbaum mit Zuckerbehang und zu viele Süßigkeiten wären ungesund.«
Anton räusperte sich. »Na ja, allzu streng muss man das nicht sehen.«
»Fritzi und ich fanden das Aufheben der Schokolade aber spannender«, sagte Rosa.
»Wirklich?« Anton sah sie verständnislos an. Wäre der Jutesack sein eigener, wäre er längst leer gegessen.
»Ja«, erwiderte Rosa überzeugt. »Ich freu mich jeden Tag, wenn ich den Zwetschkenkrampus am Fensterbrett sehe.«
Anton setzte eben zu einer Antwort an, als Ernestine den Raum betrat.
»Hier habt ihr zwei euch versteckt!« Sie klang so gut gelaunt, dass Anton sich ahnungsvoll fragte, was wohl der Grund dafür war. Ihre rosigen Wangen und die hellen Augen strahlten förmlich, was für gewöhnlich bedeutete, dass sie etwas plante. Leider standen Ernestines Pläne oft in krassem Gegensatz zu Antons Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung.
Sie setzte sich zu ihnen.
»Ich habe Opa gerade von unserer Wette erzählt«, sprudelte Rosa heraus. »Er würde den Nikolaus auf der Stelle vernaschen.«
»Das habe ich nicht gesagt!«
Sowohl Ernestine als auch Rosa kicherten leise.
»Das war auch nicht notwendig«, meinte Rosa. »Wir kennen dich, Opa.«
»Ihr stellt mich ja hin, als wäre ich ein Vielfraß!« Anton war beleidigt. »Schließlich gehören Süßigkeiten zu Weihnachten, wie der Krampus zum Nikolaus. Stellt euch einen Advent ohne Vanillekipferl vor. Das wäre doch ein Jammer.«
»Das wäre wirklich traurig«, stimmte Ernestine ihm zu. »Und was ebenfalls zu Weihnachten gehört, ist der Schnee.«
»Der will aber nicht kommen!« Enttäuscht sprang Rosa vom Sessel auf und lief zum Fenster. Sie stützte die Ellbogen am Fensterbrett ab und bettete ihr Kinn in die Hände. Traurig schaute sie zum grauen Himmel. Seit Tagen hielt die Sonne sich hartnäckig hinter der dichten Wolkendecke versteckt. Kälte, Nebel und Nieselregen hielten Wien im Griff. Von Schnee fehlte jede Spur.
»Das Wetter lässt sich leider nicht beeinflussen«, sagte Anton.
»Das nicht, aber wir könnten in eine Gegend fahren, in der so viel Schnee liegt, dass es für eine Schlittenfahrt und einen Schneemann ausreicht«, meinte Ernestine.
»Wo ist das?« Rosa drehte sich um und kehrte zum Tisch zurück.
Ernestine schnitt eine geheimnisvolle Grimasse und schwieg. Anton war sich sicher, dass ihre gute Laune mit dieser Schneeidee im Zusammenhang stand. Er beschloss, auf der Hut zu sein. Jede voreilige Antwort konnte seinen ruhigen Alltag bedrohen.
»Worüber unterhaltet ihr euch?« Antons Tochter Heide platzte ins Zimmer. Ihr Bauch war zu einer enormen Größe angewachsen. Hätte Anton es nicht besser gewusst, würde er glauben, Großvater von Zwillingen oder gar Drillingen zu werden. Doch die Hebamme hatte das dezidiert ausgeschlossen. Erschöpft ließ sich Heide auf das Sofa plumpsen und legte die Beine auf einem Hocker ab. Das ständige Stehen in der Apotheke, die sie seit Antons Pensionierung führte, war beschwerlich.
Ernestine erklärte stolz: »Für meine Arbeit in der Bibliothek habe ich Einladungen für eine Kunstauktion erhalten.« Seit ein paar Wochen engagierte Ernestine sich in der Arbeiterbücherei in Margareten. Der zunehmend rauere Ton zwischen der christlich-sozialen Regierung und der sozialdemokratisch geführten Hauptstadt Wien sowie der stetig wachsende Druck auf jüdische Mitbürger hatten Ernestine den Anstoß dazu gegeben. In Ungarn ging man schon so weit, die jüdischen Bürger von den Universitäten und wichtigen Funktionen auszuschließen. Als ehemalige Lehrerin war sie fest davon überzeugt, dass die junge Demokratie nur durch mehr Bildung geschützt werden konnte. Und wo gelang das besser als in einer öffentlich zugänglichen Bibliothek, in der junge Menschen sogar Gratisnachhilfeunterricht erhielten, um im zweiten Anlauf einen höheren Schulabschluss nachzuholen? Nur zu gerne hätte Anton sie davon abgehalten. Aber nicht, weil er die Arbeit nicht sinnvoll fand. Im Gegenteil, der Schutz der Demokratie war wichtiger denn je. Doch er hätte solche Aufgaben lieber anderen überlassen, fürchtete er doch, dass sein ohnehin schon viel zu turbulentes Leben noch mehr durcheinandergewirbelt würde, wenn Ernestine ein Ehrenamt übernahm. Und nun schien er recht zu behalten, hier war schon die erste Aufregung.
»Freiwillige Arbeit wird doppelt belohnt«, fuhr Ernestine begeistert fort. »Die Karten für die Kunstauktion sind rar. Ich habe die allerletzten erhalten.«
»Wo finden die Ausstellung zur Auktion und die Versteigerung denn statt?«, fragte Heide.
»Am Semmering!«, erklärte Ernestine stolz. »Die Ausstellung ist für dieses Wochenende anberaumt. Es wird auch einen Christkindlmarkt geben mit Köstlichkeiten aus der Region. Am Abend wird zu einem mehrgängigen Menü geladen. Dabei kann man schon überlegen, für welches Kunstwerk man sich entscheidet, und danach werden ein paar der Objekte versteigert. Die Hälfte des Erlöses wird an karitative Zwecke gespendet.«
Anton wurde flau im Magen. Bei seinem letzten Besuch in dem Luftkurort nahe Wien hatten er und Ernestine ebenfalls an einer Wohltätigkeitsveranstaltung teilgenommen. Anton hatte Tango tanzen und gemeinsam mit Ernestine zwei Mordfälle aufklären müssen.
»Das klingt ganz wunderbar«, meinte Heide.
Doch Anton hob abwehrend beide Hände....
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