Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Barbara Masters wanderte mutterseelenallein durch die graue Moorlandschaft von Yorkshire den Pennine Way entlang. Der Torfboden war durchzogen von schmalen Gräben und steilen Erdspalten, den Cloughs, die meist nur ein paar Meter tief waren, manchmal gab es aber auch größere Einbrüche, etwa zehn Meter breit und entsprechend tief, in denen Moortümpel oder trügerische Sümpfe waren. Alles war in nasses Grau gehüllt. «Freundliches Licht, o führe - aus Trübsal und Not mich zu ihm», sang Barbara ohne Melodie vor sich hin. Trübselig ist es hier weiß Gott, dachte sie und betrachtete die graue Landschaft: Moor und Torf, tiefhängende Wolken und ein Himmel so grau wie die Erde. Kein Vogel brach das Schweigen, brachte etwas Leben in die kalte Einöde. Barbara hatte gern Menschen um sich, konnte aber auch gut allein sein. Hier allerdings wäre ihr ein Wandergefährte lieb gewesen. Und gerade als sie mit ihren Gedanken so weit gekommen war, fiel sie über eine Gestalt.
«Au!» sagte die Gestalt.
«O Verzeihung!» sagte Barbara. Sie kam wieder auf die Beine und sah sich an, was da auf dem Weg lag. Da sie in der Schule zum naturwissenschaftlichen Zweig gehörte, hatte sie wenig Ahnung von Shakespeare, aber sein Ausspruch «O wackre Erde, die solche Wesen hat!» entsprach in etwa dem, was sie in diesem Augenblick fühlte. Denn vor ihr auf dem Weg kauerte ein Junge, etwa in ihrem Alter, gutaussehend, in wasserdichten Hosen, kräftigen Stiefeln und einem Pullover mit der Aufschrift «Oxo».
«O Mann, bist du verletzt?» fragte Barbara besorgt. «Ich meine, warst du schon vorher verletzt, ehe ich über dich gefallen bin?»
«Ja, mein Knöchel. Ich kann gehen, aber es tut weh. Ich muß öfter mal Pause machen.»
«Laß mal sehen.» Sie besah sich sein Bein. «Ja . durch den Stiefel kann ich natürlich nicht durchsehen.»
«Nein, aber wenn ich ihn ausziehe, kriege ich ihn womöglich nicht wieder an.»
«Ach komm, das riskieren wir. Ich hab mal ein Buch gelesen: . Gibt dir das Vertrauen?»
«Nicht sehr viel.» Er zog aber doch folgsam den Stiefel aus und dann die Socke. Barbara betrachtete den Fuß.
«Sieht ein bißchen schwammig aus, was?»
«Ja, finde ich auch.»
«Fühlt sich auch so an. Tut das weh?»
«Ja.»
«Ja, das stand auch in dem Buch.» Sie lachte ihn plötzlich an. «Da sitzen wir ganz schön in der Patsche, was?»
«Nein, nur ich. Du brauchst deswegen doch nicht -»
«Ich hab mal gehört, wie jemand zu einem Mr. Pitsch sagte: War ganz ernst gemeint.»
«Tatsächlich?»
«Ich fand es immer witzig.» Sie überlegte. «Was meinst du - wollen wir unsere Zelte aufschlagen und hier übernachten? Vielleicht ist es morgen besser.»
«Oder schlimmer.»
«Oder schlimmer, kann sein. Aber um das rauszufinden, gibt's nur einen Weg. Gib mir mal deinen Packen her.»
«Ich kann dich doch nicht alles allein machen lassen.»
«Doch.» Wieder kam das strahlende Lächeln. «Ich hab mir immer gewünscht, mal jemand zu bemuttern. Wenn man Naturwissenschaften macht, kommt der Mutterinstinkt oft zu kurz, das kannst du mir glauben.»
Eine Stunde später war es dunkel. Barbara hatte Eier gekocht, Schinken und Würstchen gebrutzelt, starken Tee aufgegossen und die beiden Zelte errichtet; satt und zufrieden lag der junge Mann jetzt in dem einen und sie in dem anderen Zelt. Ein Öllämpchen schien in die Zelte hinein, beleuchtete die Gesichter und ein paar Quadratmeter Torfboden. Rundherum war Dunkelheit, Schweigen und die Stille der Ewigkeit. Der Junge sah Barbara an. Er fand ihr Gesicht wundervoll: kindlich, lächelnd, und doch eine Spur nachdenklich und traurig.
«Gute Nacht», sagte sie. «Übrigens - ich heiße Barbara Masters, aber meine Freunde sagen Bar, oder Barbar, oder auch Bählamm.» Sie gähnte. «Maman sagt immer, ein geliebtes Kind hat viele Namen.»
«Wer sagt das?»
«Maman. Sie ist Französin, und alle Welt ist verliebt in sie. Aber Daddy und ich, wir sind stockbritisch.»
«Prima. Ich bin Nicholas Instone. Guten Tag.»
«Guten Tag.» Sie streckte die Hand aus, so daß ihre Fingerspitzen sich gerade berührten. Dann machte sie das Lämpchen aus und vergrub sich in ihren Schlafsack. Einen Augenblick später kam der Kopf wieder hoch. «Du - Nicholas!»
«Ja?»
«Ich meine - mit deinem Fuß, und wo ich so eingepackt bin - ich meine, da wirst du ja wohl nicht auf dumme Gedanken kommen. Aber falls doch - na ja, dann laß es lieber, ja?»
«Ich werd mein Bestes tun», sagte er ernst. «Gute Nacht.»
Leonard Instone ging in das Zimmer seiner Tochter, um ihr gute Nacht zu sagen. Er war beunruhigt, als er sah, daß die Bettdecke von unten erhellt war. Von Kate war nichts zu sehen als ein Häufchen unter der Decke.
Alle Welt sagte, es sei ganz egal, was Kinder läsen, Hauptsache, sie läsen überhaupt etwas. Aber Leonard war altmodisch; er fand diese Bemerkung ebenso blödsinnig, als wenn man sagte, es sei egal, was Kinder essen, wenn sie nur irgendwas essen. Ihn erschreckte die Vorstellung, daß seine süße unschuldige Tochter sich da womöglich eines der modernen widerwärtigen Druckerzeugnisse vorgenommen hatte.
«Kate?» sagte er fragend.
Sie schlug die Decke zurück. Das goldblonde Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie lachte ihn an.
«Wenn du Brautjungfer sein willst, mußt du aber auf deinen Schönheitsschlaf achten. Läßt du mich mal sehen, was du da liest?» sagte er.
Er war erleichtert, als sie ihm einen staubgrauen dicken Band entgegenhielt, den er mit kurzsichtigen Augen betrachtete. Lady Emilys Entscheidung, Bd. II, las er. Von Lazarus Pike.
«Ist es gut?»
«Klasse. Janet Youngs Großmutter hat es mir geliehen, alle drei Bände. Den dritten kannst du haben, wenn du willst. Mummy liest gerade den ersten. Du, Dad, hoffentlich kommt Nicholas rechtzeitig zur Hochzeit.»
«Er muß rechtzeitig da sein, er ist doch einer der Zeremonienmeister.»
«Und was meinst du, wie er hinkommt?»
«Na, mit dem Zug natürlich.»
«Oder zu Fuß. Er liebt doch Fußmärsche.»
«Aber doch nicht von Durham, mein geliebtes Schäfchen!» Er küßte sie zärtlich. Für diesen einsamen, wunderlichen Mann war Kate eines der wenigen Bänder, die ihn mit der Umwelt verbanden. Er war ein Mensch, der mehr aus Unsicherheit als aus Ablehnung seiner Mitmenschen nicht leicht Freundschaften schloß. Nur den fiktiven Gestalten in Büchern trat er frei und unbefangen gegenüber. Das war auch der Grund, warum er in seiner Freizeit Buchbesprechungen für den Danby Advertiser schrieb - eine Nebenbeschäftigung, die die Bankdirektoren mit väterlicher Nachsicht, wenn auch ohne Verständnis duldeten.
An diesem Abend blieb er lange auf und las. Als er endlich zu Bett ging, sah er erstaunt, daß seine Frau Jane, in die Kissen gelehnt, ebenfalls las. «Das muß aber ein fesselndes Buch sein», sagte er.
Sie sah ihn mit ihrem leicht ironischen Lächeln an. «Was für dich», sagte sie und hielt ihm Band I entgegen. «Du kannst es haben, ich will jetzt schlafen. Gute Nacht.» Und sie rollte sich zusammen wie ein Igel, der sich gegen Störenfriede wehrt.
Leise zog er sich aus, schlüpfte in seinen billigen Pyjama und griff nach Lady Emilys Entscheidung. Er lag still und schlug lautlos die Seiten um - wenn er daran dachte, konnte er von geradezu neurotischer Rücksicht sein. Er las bis drei Uhr morgens. Dunkelgraue Schriftblöcke auf ehemals weißem Papier. Passagen, so schwer wie Grabsteine. Aber eine Prosa . kraftvoll und stark, glänzende Charakterisierungen, Situationen, die mit Hardy konkurrieren konnten, und ein leiser, sanfter Humor. Und von diesem Mann hatte Leonard noch nie gehört! Offenbar war Lazarus Pike in Vergessenheit geraten. Armer Kerl, dachte er - da hat er nun geschrieben, Neues geschaffen, gekämpft und sich durchgesetzt. Und dann - das Grab und Vergessenheit. Hundert Jahre ungelesen (außer von Janet Youngs Großmutter). Alle seine Helden, alle die Worte, die der Kopf seiner Hand diktierte, Tag für Tag, Jahr für Jahr: alles ausgelöscht, eingeschlossen in vergessenen Büchern auf verstaubten Regalen, wie eingesargte Körper im Gewölbe - tot. So tot, wie auch Jane und ich und unsere Liebe einmal sein werden. Er nahm die Hand seiner Frau und drückte sie, denn er konnte sehr sentimental werden, wenn er an so was dachte. Sie bewegte sich unruhig und murmelte etwas, aber sie wachte nicht auf.
«Warum habe ich bloß einen Mann aus diesem schrecklichen Land geheiratet!» Mit strahlendem Lächeln sah Antoinette Masters ihren Mann an. Als ihr Blick zu den regenverhangenen Bergen des Pennine zurückkehrte, verschwand das Lächeln. «Jetzt fängt es auch noch an zu nieseln», stöhnte sie. «Großartig.»
Wenn Antoinette sagte, klang es fast wie ein Knurren. Die erste Silbe holte sie aus einer stimmlichen Tiefe, die von einem Engländer kaum je benutzt wurde. Die zweite Silbe wurde möglichst langgezogen, um Ekel, Verachtung, Verzweiflung auszudrücken, und die dritte glich einem Dolchstoß.
Clive Masters hielt den Lagonda in einer Parkbucht an und stieg aus. «Lieber das Verdeck jetzt zumachen.» Er fing an, die Riemen zu lösen. Antoinette saß bequem zurückgelehnt auf dem weichen Ledersitz und blickte ungläubig und angewidert über die Weite von Derbyshire. Plötzlich setzte sie sich auf und zeigte auf ein Schild. «Mein Gott! Sieh bloß, was da steht!»
«Pennine Way» stand auf dem...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.