Schweitzer Fachinformationen
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»Hier schreit eine Frau in Todesangst .«
»Wo, Madame?«
»Gegenüber von meinem Haus. Kommen Sie schnell!«
»Wo befindet sich Ihr Haus?«
»Rue du Puits-Sauvage, Stadtteil Saint-Étienne. Kommen Sie bitte.«
Mit diesen Worten hatte Dodik Cadiou mit ihrem grauen Bubikopf hinter den grauen Vorhängen ihres grauen Hauses den Alarm ausgelöst.
Aber als die Feuerwehrleute weniger als zehn Minuten später auf ihre Veranda stürmten - die Wache lag am Rand der Innenstadt in der Avenue Louis-Martin -, waren auf dem Wirtschaftsweg am Stadtrand von Saint-Malo keine Schreie mehr zu hören.
»Sind Sie ganz sicher, dass die Rufe aus dem Manoir des Corrigan kamen?«, erkundigte sich der Einsatzleiter zweifelnd.
»Vollkommen sicher! Entsetzliche Schreie. Es klang, als würde jemand gefoltert.«
Die Röte des runden Gesichts der dick eingemummelten Frau in den Sechzigern konkurrierte mit der Farbe des Rettungswagens vor ihrem Haus.
»Am Telefon haben Sie von einer Frau gesprochen . Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«
»Weil die Schreie so schrill klangen. Wie eine Sirene!«
Gewissenhaft überquerten die vier Feuerwehrleute die Straße und zogen an dem rostigen Glockenzug vor dem monumentalen Tor. Auf der rechten Hofseite jenseits der Gitterstäbe stand das Hauptgebäude eines der für Saint-Malo typischen Herrenhäuser, auf der linken Seite befand sich ein Komplex aus Nebengebäuden.
Zwei bis drei Minuten später durchschritt eine Dame in einem schottisch karierten Morgenmantel mit einem Gehstock in der Hand den Hof.
»Gibt es ein Problem, Lieutenant?«
Das letzte Wort hatte sie mit einem starken englischen Akzent ausgesprochen. Die elegante Siebzigjährige mit dem grauen Bob hatte also anhand der Anzahl der Streifen auf der Brust der Feuerwehrleute deren Dienstgrade identifiziert.
»Guten Tag, Madame. Ihre Nachbarin hat uns von verdächtigen Geräuschen aus Ihrem Haus berichtet.«
»Damn!«, rief die alte Dame verärgert. »Was denn für verdächtige Geräusche?«
»Schreie einer Frau.«
»Schreie einer .?«
Maggie Corrigans Lachen hallte wie ein Donner.
»Was ist daran so lustig?«, erkundigte sich der Einsatzleiter verärgert.
»Well, Ihnen dürfte doch sicher bekannt sein, dass es außer Schmerz noch andere Gründe für unkontrolliert ausgestoßene Laute gibt, oder?«
Die drei anderen Uniformierten begriffen die Anspielung früher als ihr Vorgesetzter und schmunzelten, während dieser noch immer verblüfft dreinblickte.
»Ach so«, sagte der Mann schließlich und errötete. »Diese Art von Schreien .«
»Richtig, Sir. Wenn meine reizende Nachbarin dann und wann ebenfalls im Schlafzimmer aktiv sein würde, könnte sie zwischen Lust und Leid unterscheiden. Das hoffe ich zumindest für sie.«
»Verstehe .«
Die vier Feuerwehrleute drehten sich gleichzeitig um und blickten tadelnd in Richtung des nur wenige Dutzend Meter entfernten grauen Häuschens. Dodik Cadiou wurde knallrot und verzog sich beleidigt in ihre Höhle, wie ein verschreckter Einsiedlerkrebs.
Da war die Feuerwehr doch tatsächlich wegen eines gewöhnlichen Sexspielchens mobilisiert worden! Zugegeben, die Frau, die so früh am Morgen derart laut gewesen war, entsprach nicht gerade dem, was angesichts solch lustvoller Ausbrüche zu vermuten gewesen war. Aber trotzdem . Wenn man nicht mehr vögeln durfte, ohne vom Nachbarn angezeigt zu werden - ganz egal, wie alt man war -, wohin sollte das führen?
In Maggies Zimmer im ersten Stock in einem der Nebengebäude des Manoir lag der Grund für ihre stimmlichen Ausschweifungen noch immer im Bett. Der Mann mit dem weißen Bart war sieben Jahre jünger als sie, aber immerhin auch schon über sechzig, und strahlte eine Virilität aus, die sie bei ihren Liebhabern aus der näheren Umgebung kaum noch fand. In den zwei Tagen, seit er in dem von ihr geleiteten Gästehaus wohnte, hatte er sie mit seinen feurigen Vorstößen verwöhnt.
Nachdem sie ihm die Anekdote mit den Feuerwehrleuten erzählt hatte, erklärte er:
»Hm, du weißt doch, dass nicht nur firemen schon am frühen Morgen bei Kräften sind. I know another morning glory, here, that requires some urgent help .«
Mit diesen Worten griff er nach ihrer Hand und versuchte, Maggie in die zerwühlten Laken zu ziehen. Doch sie setzte eine halb vergnügte, halb strenge Miene auf und schalt ihn freundlich:
»Los jetzt! Ich muss das Frühstück servieren, und du musst recherchieren. Ich weiß zwar, dass ihr Engländer seit jeher davon träumt, die Bewohner von Saint-Malo zu unterdrücken, aber ich möchte dich daran erinnern, dass du nicht nur hier bist, um ein paar Purzelbäume zu schlagen.«
»Soll das ein Witz sein?«, schimpfte er grinsend. »Du stammst ebenso wenig aus Saint-Malo wie ich aus Spanien. Und was die Beziehungen zwischen meinem Land und dieser Stadt angeht, so bin ich hier, um die Eintracht zwischen unseren beiden Völkern wiederherzustellen. Wenn ich dir das noch ein einziges Mal beweisen dürfte .«
Mit gespitzten Lippen gab er ihr einen Kuss, den sie amüsiert mit dem Handrücken wegwischte.
Tatsächlich fragte Maggie sich, wie ihre Tochter und ihre Enkelin darauf reagieren würden, dass sie mit einem Engländer schlief, also einem Vertreter der angestammten Feinde von Saint-Malo, auch wenn dieser ein so angesehener Historiker wie James Hillbie war. Deren Kritik wollte sie sich lieber noch nicht aussetzen.
»Sag mal, hast du nicht heute Morgen einen Termin beim Bürgermeister?«
»No, darling. Erst in drei Tagen, nächsten Dienstag. Heute treffe ich mich mit den alten Herren von der AHSM.«
»Na bitte«, trumpfte sie auf, »sag ich's doch: Du bist overbooked. Also los, zieh dich an und verschwinde!«
Im mahagonigetäfelten Gemeinschaftsraum saßen die wenigen Gäste des Manoir des Corrigan vor ihren Tassen mit dampfendem Kaffee, die ihnen von einer Blondine mit ausladenden Hüften und rundlichen Wangen serviert worden waren.
»Sophie!«, begrüßte Maggie sie. »Wie weit bist du mit dem Potato Farl?«
Das Kartoffelbrot war die Spezialität des Hauses und einer von vielen Hinweisen auf die irischen Wurzeln der Betreiberin. Ebenso wie die gerahmten Ansichten von Baltimore an den Wänden oder die Romane der Krimi-Autorin L. T. Meade in den Bücherregalen.
»Steht auf dem Herd.«
»Und du lässt das unbeaufsichtigt?! Willst du uns abfackeln, oder was? Hast du vielleicht die Feuerwehr gerufen?«
Die Servicekraft verschwand in der Küche, ohne auf den ungerechtfertigten Vorwurf einzugehen.
Zu Beginn eines neuen Schuljahres hatten sie immer das gleiche Problem. Louise, Maggies Tochter, ging wieder zurück an ihre Arbeit als Lehrerin in der Schule Saint-Joseph. Auch samstags morgens. Maggies Enkelin Énora, die Dritte im Bunde dieses Frauenhaushalts, hatte gerade ihr Praktikum zum Abschluss ihres Studiums der Veterinärmedizin in der Tierklinik in Saint-Jouan-des-Guérets begonnen und musste öfter Bereitschaftsdienste übernehmen. Das Manoir war also völlig unterbesetzt.
»Soll das etwa heißen, dass du morgen nicht um 11:30 Uhr in der Kathedrale sein wirst?«, hatte sich Maggie am Abend zuvor aufgeregt.
»Natürlich komme ich, Granny. Mama auch. Du weißt, dass wir das um keinen Preis verpassen wollen. Aber du weißt auch, dass wir es erst auf den letzten Drücker zum Beginn der Feier in die Innenstadt schaffen.«
Seit zwanzig Jahren ließ Maggie Corrigan jeden 23. September, dem Jahrestag von Constants Tod, in der Cathédrale Saint-Vincent eine Gedenkmesse für ihn lesen.
Für Constant, ihren verstorbenen Ehemann, ihre große, verlorene Liebe, den sie liebevoll CO2 genannt hatte (Constant Corrigan), und der auch so viele Jahre nach seinem Tod für sie lebenswichtiger war als Sauerstoff. Wie er wohl von seiner Wolke aus ihre kleine Geschichte mit dem britischen Historiker aufnehmen würde?
Wahrscheinlich schlecht. Constant Corrigan war ein waschechter Bewohner von Saint-Malo, einer von denen, die jahrhundertealte Streitigkeiten nicht einfach so begruben. Die eigene Frau dem Feind zu überlassen, hätte ihm gar nicht gefallen.
In diesem Moment beobachtete sie durch die Glastüren zum Innenhof, wie James Hillbie endlich das Haus verließ - als wäre er ein Echo auf ihre Gedanken. Er zupfte an seiner Hose herum in dem Versuch, sein verknittertes Outfit zu richten und war so beschäftigt, dass er Jacques Gaillard, den grauhaarigen Endsechziger und Maggies offizieller Liebhaber, kaum bemerkte.
»Monsieur«, begrüßte ihn Jacques Gaillard mit einem steifen Nicken.
»Sir.«
Die beiden Männer sahen sich einen Moment an, sondierten den Blick des jeweils anderen, um dessen Status und Absichten herauszufinden. Offenbar kamen beide zu dem Schluss, dass sie es mit einem Rivalen zu tun hatten und setzten wortlos ihren Weg fort.
James lautet die englische Version von Jacques, überlegte Maggie. Ihre beiden Lover trugen also den gleichen Vornamen. Wäre die kleine Szene, die sie gerade beobachtet hatte, für sie nicht so unangenehm, hätte sie laut...
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