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Kapitel 1
Melodie einer erfüllten Hoffnung
Januar 2007
»Was machen die Liebenden im Roman nach dem Happy End?«, fragte Jura Wolodja, der gerade aus dem Schlafzimmer kam.
»Sie führen ein langweiliges Familienleben«, erwiderte er. »Die Liebe hat gesiegt, von nun an meistern sie alle Herausforderungen und Schicksalsschläge mit links. Warum fragst du?«
Jura zuckte mit den Schultern. »Ich soll den Soundtrack für eine Serie schreiben und bin auf der Suche nach Inspiration, aber ich kann mich nicht konzentrieren .«
In den letzten Tagen war Jura mit seinen Gedanken woanders. Da war eine Melodie, die ihn nicht losließ: Mal war sie hell und flirrend wie Vogelgezwitscher, mal düster und zäh wie Pech.
Jura legte seine Finger auf die Tasten. Eine harzige Melodie kroch über die weißen Wohnzimmerwände und vermischte sich mit dem goldenen Schimmer der Morgensonne. Die Zeit schien jetzt langsamer zu vergehen, doch am liebsten hätte Jura sie für einen Moment ganz angehalten.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wolodja, der vor dem Flurspiegel seinen Gürtel durch die Hosenschlaufen zog, die Stirn runzelte.
»Das kommt mir bekannt vor .«, sagte er und drehte sich zu Jura um. »Hast du daran nicht in Oranienburg gearbeitet, als wir aus Dachau zurückgekommen sind?«
Wolodja hatte recht, zum ersten Mal war ihm die Melodie in jener Nacht gekommen. Jura schloss die Augen und sah die nüchternen Archivdokumente vor sich, er hörte die grausam laute Stille, die die kalten Wände der Gaskammer zurückgeworfen hatten. Die Schrecken der Vergangenheit, die ihn dort heimgesucht hatten, hielten ihn immer noch gefangen. Sie waren in sein Innerstes gekrochen und eiskalt durch seine Adern geströmt, ein schwarzes Spinnennetz hatte sich über sein Gesicht gelegt und ihm das Atmen schwer gemacht. Die Melodie war wie eine Medizin gegen die Todesangst gewesen.
Seit einem Monat hörte Jura sie immer wieder, wie eine kaputte Schallplatte, die nach kurzer Zeit wieder zum Anfang sprang. Es gelang ihm nicht, sie zu greifen und eine Fortsetzung zu schreiben.
»Es gibt noch ein anderes Stück, das dazugehört, heller und lyrischer. Ich weiß nur nicht, wie ich beide zusammenbringe. Willst du es hören?«
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr nickte Wolodja. Die Musik erklang, flirrte im Sonnenlicht und wiegte sich im Schatten der buschigen Zweige der Kiefer, die vor dem Fenster wuchs.
Wolodjas Blick wurde ernst, zwischen seinen Brauen entstand die Kerbe, die Jura so liebte. Wenn er mit den Fingerspitzen unsichtbare Muster auf Wolodjas Stirn zeichnete, entspannte sich dessen Gesicht, und die geliebten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Schon am Morgen, wenn Wolodja verschlafen blinzelnd nach dem Wecker tastete, bewunderte Jura die Kerbe. Auch tagsüber immer wieder, wenn Wolodja über seinen Laptop gebeugt dasaß und sich in Rechnungen und Kostenpläne vertiefte - die ganze Woche, seit Jura da war, hatte Wolodja von zu Hause gearbeitet. Aber am meisten liebte Jura diese kleine Kerbe nachts, wenn sein Atem im warmen honigfarbenen Licht der Nachttischlampe mit Wolodjas verschmolz.
»Das ist unglaublich schön. Aber es wirkt wirklich, als würde es zu einem anderen Stück gehören«, sagte Wolodja, als die Musik verstummte. Er verschwand wieder im Badezimmer und rief: »Spielst du es mir später noch mal vor? Ich muss dringend ins Büro!«
Jura klappte den Klavierdeckel zu und folgte ihm ins Bad. Die Frage blieb in der Luft hängen, das Bild war zu verlockend: Mit dem Telefon in der Hand stand Wolodja vor dem Spiegel, das weiße Hemd noch offen. Jura trat näher, fing seine Hand ab, die an den Knöpfen herumnestelte, und grinste: »Musst du wirklich schon los? Nur ein halbes Stündchen .«
Wolodja streckte sich nach einem Kuss, aber im letzten Moment bremste er sich, schob Juras Hände weg und sagte: »Ich kann nicht . Die blöde Arbeit ruft.«
»Ist das mein schlechter Einfluss, oder hast du sie wirklich satt?«, fragte Jura, während er eine dunkelblaue Krawatte von der Schranktür fischte, sie sich umwarf und sie über seinem T-Shirt zu binden begann.
»Ich glaube Zweiteres. Morgen geht ein neues Projekt los, aber im Grunde ist es immer dasselbe.«
Jura schwang die fertig gebundene Krawatte über seinen Kopf und warf sie Wolodja um den Hals. »Hab ich dich«, grinste er und fügte fröhlich hinzu: »Dann schlag doch eine andere Richtung ein.«
»Und welche? Die Stadt braucht nun mal das, was mir keinen Spaß macht: Wohnkomplexe und Shoppingmalls.«
»Was ist mit weiteren Schwalbennestern?«
»Für Siedlungen werden nur Waldgrundstücke verkauft. Aber ich habe kein Interesse daran, Wald abzuholzen.«
»Du besitzt doch schon Land. Hier.« Er zeigte auf die Ruinen des Pionierlagers, die man aus dem Fenster sah. »Du könntest alles abreißen.«
Sie gingen in den Flur. Gerda kam angerannt, um ihr Herrchen zu verabschieden, und scharwenzelte aufgeregt um dessen Beine. Wolodja seufzte. Jetzt war seine schwarze Anzughose mit hellbraunen Hundehaaren bedeckt.
»Die Schwalbe abreißen? Kommt nicht infrage!«, sagte er empört. »Ich will die Vergangenheit nicht zerstören.«
»Was willst du dann tun?« Jura holte die Kleiderbürste aus der Schublade, ging in die Hocke und blickte zu Wolodja hoch.
»Noch ein bisschen bei dir bleiben«, sagte Wolodja ernst. »Und die Arbeit . Am liebsten würde ich der Vergangenheit neues Leben einhauchen.«
»Du kannst doch der Schwalbe neues Leben einhauchen.«
»Und mich in den Ruin treiben? Niemand braucht heute noch Pionierlager.«
Wolodja zog sein Sakko an, dann den Mantel und war mit seinem ernsten, fast finsteren Blick mit einem Mal nicht mehr der freundliche, häusliche Wolodja, sondern Wladimir Lwowitsch - der strenge und sehr attraktive Geschäftsführer.
Jura begleitete ihn zum Auto - in T-Shirt, Shorts und Pantoffeln.
»Rein mit dir, du holst dir noch den Tod«, kommandierte Wolodja und schloss das Auto auf.
»Und mein Abschiedskuss?«, empörte sich Jura und zog Wolodja am Ellbogen hinter den drei Meter hohen Zaun.
Erst nach einem Kuss auf die Wange und einem auf den Mund lächelte er zufrieden. »Sie dürfen gehen, Direktor.«
Jura winkte dem Wagen nach, der über die winterliche Straße um die Ecke bog, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seiner Shorts und steckte sich eine an. Gerda kläffte tadelnd. Obwohl Jura fror, beeilte er sich nicht, zurück ins Haus zu gehen. Er blickte nachdenklich in die Ferne, wo eine weiße Schneedecke die brachliegende Schwalbe bedeckte. Am strahlend blauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen, die Sonne blendete in den Augen, und die mit einer dünnen Eisschicht überzogenen Schneehügel glitzerten in allen Farben des Regenbogens. Doch die Ruhe dort draußen spiegelte nicht seinen inneren Zustand wider. In ihm tobte ein Sturm aus wirbelnden, nicht nicht zusammenpassen wollenden Melodien.
Jura schüttelte den Kopf. An die Arbeit, der Soundtrack schreibt sich nicht von allein, ermahnte er sich und ging rein.
Er setzte sich ans Klavier und seufzte. Das verstimmte Instrument klang dermaßen schief, dass er sich reichlich anstrengen musste, um die Töne in seiner Vorstellung zu korrigieren.
Wie klingt also das Leben von Liebenden nach dem Happy End?
Nachdem er eine geschlagene Stunde später immer noch keine Antwort gefunden hatte, gab er auf und widmete sich einem kleineren Auftrag für eine Werbung. Der Auftraggeber hatte ihm ein Musikbeispiel geschickt, das wie aus einem Erotikfilm klang, und dazu die Bitte: »Etwas in der Art, aber mit mehr Pep.«
»Einen Porno mit Pep also?«, fragte Jura seinen Laptop. »Im Ernst?«
Er versuchte, sich auf den Auftrag zu konzentrieren, aber wieder schweiften seine Gedanken ab.
Jura merkte gar nicht, wie wie seine Finger, die gerade noch verschiedene Jingles ausprobiert hatten, plötzlich wieder die Melodie aus Dachau spielten.
So ging es bis zum Abend; Jura sprang zwischen dem Werbeauftrag und dem eigenen Stück hin und her und kam bei beiden nicht weiter. Bis ihn Wladimir Lwowitsch, der gerade von der Arbeit zurückkehrte, missmutig über die Tasten gebeugt vorfand.
Nachdem er Sakko und Krawatte abgelegt und sich in den häuslichen Wolodja zurückverwandelt hatte, rief er Jura zum Kochen in die Küche.
»Ich soll einen peppigen Porno liefern«, verkündete Jura beim Salatschnippeln.
»Porno ist hoffentlich dem Schlafzimmer vorbehalten. Spielst du mir was vor?«
»Ich sollte noch etwas arbeiten, ich habe den ganzen Tag nichts zustande gebracht. Wobei . Zehn Minuten machen den Braten auch nicht fett.«
Jura trat ans Klavier, aber kaum hatten sich seine Finger auf die Tasten gelegt, spürte er Wolodjas Umarmung und hörte ihn flüstern: »Hast du schon entschieden, wie...
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