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1985
Dreißig Kilometer von hier, dreißig Kilometer nördlich, begann jetzt die Trauermesse. Yale schaute auf die Uhr, als sie die Belden Avenue entlanggingen. »Was glaubst du, wie leer die Kirche sein wird?«, sagte er zu Charlie.
»Lass uns nicht daran denken«, sagte Charlie.
Je näher sie Richards Haus kamen, desto mehr Freunde sahen sie, die ebenfalls dorthin unterwegs waren. Manche hatten sich fein gemacht, als wollten sie zur Messe selbst; andere trugen Jeans, Lederjacken.
Vermutlich waren nur Verwandte dort in der Kirche, Freunde der Eltern, der Priester. Falls in irgendeinem Empfangsraum Sandwiches bereitlagen, würden die meisten verkommen.
Yale nahm das Ablaufblatt der gestrigen Abendandacht aus der Tasche und faltete es zu so etwas Ähnlichem wie den Himmel und Hölle-Spielen, die seine Freundinnen früher im Schulbus gern gebastelt hatten, um sich gegenseitig die Zukunft vorauszusagen - »Berühmt!« oder »Ermordet!«, je nachdem, welchen Flügel man aufklappte. Seins hatte keine Flügel, aber auf jedem der vier Dreiecke standen Wörter, manche auf dem Kopf, viele von den Kniffen abgeschnitten: »Pater George H. Whitb«; »liebter Sohn, Bruder, ruhe in«; »Schönheit leuchtet übera«; »Liebe wohnt«; »anstelle von Blumen bitt«. All das beschrieb tatsächlich Nicos Schicksal, dachte Yale. In ihm hatte Schönheit geleuchtet, Liebe gewohnt. Blumen würden nichts nützen.
Die Häuser an dieser Straße waren mehrstöckig, verschnörkelt. Immer noch Kürbisse vor jeder Tür, wenn auch kaum geschnitzte Gesichter - eher raffinierte Arrangements aus Zierkürbissen und Maiskolben. Schmiedeeiserne Zäune, Schwingtore. Als sie in den Weg zu Richards Haus einbogen (ein vornehmes Brownstone, Wand an Wand mit vornehmen Nachbarn), flüsterte Charlie: »Seine Frau hat das Haus eingerichtet. '72. Damals war er verheiratet.« Yale lachte im absolut unpassendsten Moment, gerade, als sie an einem ernst lächelnden Richard vorbeigingen, der ihnen die Tür aufhielt. Schuld war die Vorstellung, wie Richard an der Seite einer Frau mit Hang zum Dekorativen ein Hetero-Leben in Lincoln Park geführt hatte; das Bild, das Yale vor sich sah, war reinster Slapstick: Richard, der einen Mann in den Schrank stopft, als seine Frau zurückgeeilt kommt, um ihre Chanel-Handtasche zu holen.
Yale riss sich zusammen und drehte sich noch einmal zu Richard um. »Du hast ein sehr schönes Haus«, sagte er. Ein Schwung von Leuten kam hinter ihnen herein, und Yale und Charlie wurden ins Wohnzimmer geschoben.
Die Einrichtung ließ weniger an 1972 als an 1872 denken: Chintz-Sofas, samtene Sessel mit geschnitzten Armlehnen, Orientteppiche. Als sie in die Menge eintauchten, spürte Yale, wie Charlie kurz seine Hand drückte.
Nico hatte darauf bestanden, dass sie eine Party feierten. »Meint ihr, ich will mir euer Geschluchze ansehen, falls ich nachher als Geist rumhänge? Dann verfolge ich euch mit meinem Spuk, damit das klar ist. Wenn ihr dasitzt und heult, werfe ich eine Lampe quer durchs Zimmer. Oder ich schiebe euch einen Schürhaken in den Hintern, und zwar nicht auf die feine Art, kapiert?« Wenn er erst vor zwei Tagen gestorben wäre, hätten sie es nicht geschafft, ihn beim Wort zu nehmen. Aber Nicos Tod lag drei Wochen zurück, und die Familie hatte Andacht und Totenmesse hinausgezögert, bis sein Großvater, den zwanzig Jahre lang niemand gesehen hatte, aus Havanna angeflogen kommen konnte. Nicos Mutter war aus der kurzen Ehe, Prä-Castro, einer Diplomatentochter und eines kubanischen Musikers hervorgegangen - und dieser uralte Kubaner war nun entscheidend für die Planung der Trauerfeierlichkeiten, während Nicos Freund, mit dem er drei Jahre zusammen gewesen war, heute Abend noch nicht einmal in die Kirche kommen durfte. Wenn Yale darüber nachdachte, begann er vor Wut zu schäumen, aber das wollte Nico ja nun gerade nicht.
Jedenfalls hatten sie drei Wochen getrauert, und jetzt bordete Richards Haus über vor forcierter Festlichkeit. Dort zum Beispiel waren Julian und Teddy und winkten ihnen von der Brüstung im ersten Stock aus, die ganz um den Raum herum führte, zu. Darüber gab es noch eine weitere Etage, und ganz oben prangte ein kunstvolles rundes Dachfenster. Das Haus war einer Kathedrale ähnlicher als die Kirche gestern. Viel zu nah an Yales Ohr kreischte jemand vor Lachen.
Charlie sagte: »Ich glaube, wir sollen uns amüsieren.« Wenn er sarkastisch war, trat Charlies britischer Akzent eindeutig stärker hervor, fand Yale.
»Ich warte noch auf die Go-Go-Girls.«
Richard hatte ein Klavier, auf dem irgendwer Fly Me to the Moon spielte.
Was zum Teufel machten sie hier alle?
Ein dünner Mann, den Yale noch nie gesehen hatte, umarmte Charlie ungestüm. Einer von außerhalb, nahm er an, der früher mal hier gewohnt hatte, bevor Yale auf der Bildfläche erschienen war. »Wie hast du es bitte geschafft, jünger zu werden?«, sagte Charlie zu ihm. Yale wartete darauf, dass er sie einander vorstellte, doch der Mann hatte etwas Dringendes über jemanden zu erzählen, den Yale nicht kannte. Charlie war die Nabe vieler Räder.
Eine Stimme in Yales Ohr: »Wir trinken Cuba Libre.« Es war Fiona, Nicos kleine Schwester, und Yale wandte sich ihr zu, um sie in den Arm zu nehmen, den Zitronenduft ihres Haars einzuatmen. »Ist das nicht lächerlich?« Nico war stolz auf seinen kubanischen Hintergrund gewesen, aber wenn er von dem Chaos wüsste, das die Ankunft seines Großvaters verursachte, hätte er gegen die Getränkewahl protestiert.
Fiona hatte ihnen allen gestern Abend gesagt, dass sie nicht an der Messe teilnehmen, sondern hier sein würde - und trotzdem war es schmerzlich, ihr jetzt zu begegnen, zu sehen, dass sie Ernst gemacht hatte. Andererseits hatte sie ihre Familie genauso gründlich abgeschrieben, wie diese es mit Nico in den Jahren vor seiner Krankheit getan hatte. (Bis sie ihn in seinen letzten Tagen wieder für sich reklamierten und dafür sorgten, dass er in einem schlecht gerüsteten Vorort-Krankenhaus mit hübschen Tapeten starb.) Ihre Wimperntusche war verschmiert. Sie hatte sich die Schuhe ausgezogen, schwankte aber wie auf hohen Hacken.
Fiona gab ihren Drink Yale - halb voll, mit einem rosa Lippenstiftbogen am Rand. Sie legte einen Finger an den Spalt über seiner Oberlippe. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du ihn dir abrasiert hast. Sieht aber gut aus. Du wirkst damit irgendwie -«
»Weniger schwul.«
Sie lachte, dann sagte sie: »Oh. Oh! Die zwingen dich doch nicht etwa dazu, oder? An der Northwestern?« Fiona hatte eine der besten Sorgenmienen, die Yale kannte - ihre Augenbrauen eilten aufeinander zu, ihre Lippen verschwanden im Mund -, aber er fragte sich, wie sie noch irgendein Gefühl für andere erübrigen konnte.
Er sagte: »Nein. Es ist - ich bin für die Entwicklung zuständig. Ich rede mit vielen älteren Alumni.«
»Um Geld zu bekommen?«
»Geld und Kunst. Es ist ein seltsamer Tanz.« Yale hatte den Job bei der neuen, von der Northwestern-Universität gegründeten Brigg Gallery in derselben Woche angenommen, als Nico krank wurde, und war sich noch immer nicht ganz sicher, wo seine Aufgaben anfingen und wo sie endeten. »Ich meine, die wissen von Charlie. Meine Kollegen dort. Kein Problem. Es ist eine Galerie, keine Bank.« Er probierte den Cuba Libre. Unpassend für den dritten November, andererseits war es heute Nachmittag ziemlich warm für die Jahreszeit und der Drink genau das, was er brauchte. Der Sprudel würde ihn vielleicht sogar munterer machen.
»Du hattest echt was von Tom Selleck. Wenn blonde Männer sich einen Schnurrbart stehen lassen, ist das immer bloß Pfirsichflaum, schrecklich. Aber bei Dunkelhaarigen finde ich's toll. Du hättest ihn dranlassen sollen! Macht nichts, jetzt siehst du aus wie Luke Duke. Auf 'ne gute Art. Nein, wie Patrick Duffy!« Yale konnte nicht lachen, und Fiona legte den Kopf schief und sah ihn ernst an.
Er hätte am liebsten in ihr Haar geschluchzt, ließ es aber bleiben. Er bemühte sich schon den ganzen Tag um einen Zustand der Taubheit, klammerte sich daran wie an ein Seil. Vor drei Wochen hätten sie einfach zusammen weinen können. Inzwischen war alles verschorft, und nun kam noch diese Party-Idee dazu, dieser Zwang, sich der Lage irgendwie gewachsen zu zeigen. Fröhlich zu sein.
Und was war Nico für Yale gewesen? Einfach ein guter Freund. Kein Verwandter, kein Lover. Er war der Erste gewesen, mit dem Yale sich angefreundet hatte, als er hierhergezogen war, der Erste, mit dem er sich traf, um sich einfach nur zu unterhalten, und zwar nicht in der Kneipe, gegen laute Musik an. Yale war von Nicos Zeichnungen begeistert gewesen, hatte ihn zum Pfannkuchen-Essen ins Restaurant eingeladen, ihm geholfen, für seinen Hochschulreifetest zu lernen, da er keinen Highschool-Abschluss hatte, und ihm gesagt, er habe Talent. Charlie interessierte sich nicht für Kunst, Nicos Freund Terrence auch nicht, also nahm Yale Nico mit in Ausstellungen und zu Vorträgen, machte ihn mit Künstlern bekannt. Trotzdem: Wenn Nicos kleine Schwester sich so gut im Griff hatte, war es dann nicht auch seine Pflicht, etwas aufgeräumter zu sein?
Fiona sagte: »Es ist für alle schwer.«
Ihre Eltern hatten sich von Nico abgewandt, als er fünfzehn war, und Fiona war regelmäßig ganz allein von Highland Park mit der Metra und der El zu ihm an den Broadway gefahren - wo er sich mit vier anderen Jungs eine Wohnung teilte -, um ihm heimlich Lebensmittel, Geld und Medikamente gegen seine Allergien zu bringen. Da war sie elf. Wenn Nico Fiona jemandem vorstellte, sagte er...
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