Schweitzer Fachinformationen
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Aus der Luft sieht man eine braungraue Landschaft. Als hätte es auf dem Mond gerade einen Platzregen gegeben. Zernarbte Erde mit Tausenden Seen und Flüsschen. Sie erinnern an die Tümpel und Priele, die sich im Schlick abzeichnen, wenn das Meer sich zurückzieht, zweimal täglich, in Ewigkeit. Felsen und Flechten, tiefste Einöde.
Wir sind fast da. Ein einsamer Baum - leuchtend gelb zu Anfang des Winters. Ein grellrotes Haus. Plötzlich Fabrikgebäude, eine große Werft, eine Ansammlung von Läden und Wohnhäusern rings um einen Platz, ein paar Kräne, ein Hafen. Die Stadt. Vom Nordpolarmeer kehrt ein Trawler zurück, blau-schwarz, Königskrabben fängt man hier, riesige Schalentiere, begehrt bei den Luxusrestaurants Europas.
Der Abend naht, die Straßen sind still und leer, man hört nichts als den Wind. Nur im Rathaus brennt noch Licht und in dem großen, gelb gestrichenen russischen Konsulat mit den vergitterten Fenstern. Im Restaurant gibt es Walsteak oder Nudeln mit Rentierfleisch und Pilzen. Vor dem Eisenwarenladen am Kai steht noch die komplette Auslage, drei triefende Aluminiumleitern, kurz, lang und mittellang. Im kleinen Supermarkt besprechen zwei junge Frauen ausführlich, was sie nehmen sollen: Milchshake oder einen moderneren Drink? Heute ist ihr wöchentlicher Ausflug.
In wenigen Minuten wird das Tor an der Grenze, ein paar Kilometer von hier entfernt, für heute geschlossen. Der Soldat auf dieser Seite wird den beiden auf der anderen die Hand schütteln, wobei er höchstens 30 Zentimeter auf das fremde Territorium vordringen darf; das Ritual ist streng geregelt, um Zwischenfälle auszuschließen.
Morgen ist wieder ein Tag.
Was ich jetzt am Anfang brauche, ist Abstand. Räumlicher Abstand, aber auch zeitlicher - soweit möglich. Es hat ja etwas Widersprüchliches, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer Welt, deren Teil man ist, zu schreiben, während man selbst mittendrin steckt. Geschichtsschreibung ist auf Abstand angewiesen, Zeit vergehen zu lassen ist immer noch die beste Art, Überblick zu gewinnen. Eine Gestalt wie Napoleon hat erst nach Jahrzehnten ihren Platz in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts gefunden. Bis heute wird über die tieferen Ursachen der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts diskutiert, über das Wesen und die Folgen des Kolonialismus, die eingefrorene Gewalt des Kalten Krieges, den Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr 1989. Und hier geht es nun um unsere Zeit, um diese ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, in denen die Geschichtsfabrik wieder auf Hochtouren produziert und unsere geordnete europäische Welt des Friedens und verdienten Wohlstands erneut ins Wanken zu geraten scheint.
Vor knapp zwei Jahrzehnten habe ich ein Buch über Europa im 20. Jahrhundert geschrieben; damals habe ich im Jahr 1999 aufgehört. Es schreit geradezu nach einer Fortsetzung: Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen? Wie gern würde ich der klugen Geschichtsstudentin über die Schulter blicken, die im Jahr 2069, ein halbes Jahrhundert später, über unsere Zeit schreiben darf. Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht sein, fürchte ich, aber auf jeden Fall eine interessante. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch, später, die Europäische Union konnte man schließlich als große historische Projekte betrachten, als Projekte, mit denen freie Bürger den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen versuchten, statt ihn passiv zu erdulden, als Projekte außerdem, deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung lagen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - auch internationaler Brüderlichkeit. Wie ist der Niedergang von etwas so Schönem zu erklären?
Meine junge Historikerin hat dank des zeitlichen Abstands einen guten Überblick. Ich nicht. Ich beneide sie.
Hier, am nördlichen Ende Europas, ist alles klar wie der Himmel. Wenn man nicht aufpasst, erfriert man. Frühling, Sommer und Herbst werden blitzschnell abgewickelt. »Der Winter dauert endlos, und zack, plötzlich ist es Sommer«, sagen die Leute hier. »Und dann, zack, ist der Sommer wieder vorbei.« Die Kälte kommt meistens im Oktober mit Schnee, der bis Mai liegen bleibt. Ende November beginnt die Polarnacht. Dann flackern Polarlichter am schwarzen Himmel, darunter gefriert alles bei 20, manchmal 30 Grad unter Null. Am 18. Januar kann man von einem der Hügel wieder die ersten Sonnenstrahlen sehen. Das wird ausgelassen gefeiert, als wäre noch einmal Weihnachten, die Schulkinder haben frei. Danach richtet sich das Leben erneut nach dem täglichen Rhythmus des Postbootes - am Hafen, auf der Werft, in den Läden, bei den Grenzposten, auf dem Flugplatz. Die übrige Zeit verbringt man im Haus. Centrum Kafé, das sprechende Herz der Stadt, schließt nachmittags um fünf.
Kirkenes hat knapp 3500 Einwohner, es ist ein Stecknadelkopf auf der Karte und doch ein geopolitischer Brennpunkt. Schon wegen seiner Lage weniger als 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist der entlegene Ort strategisch außerordentlich bedeutsam. Außerdem hat Kirkenes den nördlichsten eisfreien Hafen Europas, es liegt an der Barentssee mit ihren bedeutenden Gasfeldern - einem besonders großen im russischen Teil - und ist das Tor nach Murmansk, einem der wichtigsten Häfen Russlands. Im Polargebiet gibt es nach vorläufigen Schätzungen 13 Prozent der weltweiten Erdölreserven und 40 Prozent der Gasvorräte, dazu große Mengen an Eisen, Kupfer, Gold und anderen Mineralien. Weil die arktische Eiskappe schmilzt, stehen also zwangsläufig große Veränderungen ins Haus. Alle bereiten sich darauf vor. Gerade auf russischer Seite werden schon heute gewaltige Summen investiert, die militärischen Aktivitäten nehmen entsprechend zu.
Der Hafen von Kirkenes ist darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für die künftige arktische Schifffahrtsroute von Asien nach Europa, der Alternative zur Route über den Sueskanal. Der Bürgermeister sieht seine Stadt schon als nordeuropäisches Singapur: »Ich habe hier jede Woche eine chinesische Delegation zu Besuch.« Der Chefredakteur der örtlichen Internetzeitung, Thomas Nilsen, bezeichnet Kirkenes lieber als »das Zentrum der Peripherie Europas«. Für ihn ist es vor allem eine Art Testlabor, besonders für das Verhältnis zwischen Russland und Europa. »Alle Veränderungen spüren wir hier zuerst, viel früher als die Menschen in Berlin, Washington oder Moskau.«
Ich bin heute mit einem Kameramann unterwegs. Meine Europareise von 1999 hatte ein zweites Leben als Fernsehserie des niederländischen Senders VPRO geschenkt bekommen - wobei das Buch und die Serie zwei völlig verschiedene Projekte blieben. Jetzt fangen wir noch einmal von vorn an, und diesmal arbeiten wir schon in einem frühen Stadium zusammen. Die Zeit drängt.
Wir gehen am Hafen entlang. Der Trawler, die Salacgriva, kommt aus Murmansk. Aus der Nähe erweist sich das Schiff mit seinem triefenden Gewirr von Trossen, den Kränen, Auslegern und Krabbenkurren als schwimmende Fabrik. Die Männer, schweigsam unter dicken Kapuzen, von einem Dasein auf See gezeichnet wie ihr Schiff und ihre Netze, sitzen in der Ecke eines Schuppens, bis es Zeit ist, wieder auszufahren. Wortlos reichen sie die Kaffeekanne herum, der Fernseher zeigt tanzende Frauen.
Den Hügel hinauf. Der letzte Krieg ist nicht weit weg. Früher müssen auch hier die schönen Holzhäuser gestanden haben, die man sonst überall in den norwegischen Handelsstädtchen sieht, aber in Kirkenes ist in der Endphase des Zweiten Weltkriegs fast jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht worden. Bei einer großen Offensive der Roten Armee im hohen Norden, bei der es hauptsächlich um die nahe gelegenen Nickelbergwerke und die strategisch bedeutsame Marinebasis Kirkenes ging, wurde die Stadt mehr als hundert Mal bombardiert. Zwischen Kirkenes und Murmansk starben über 60000 Soldaten. Die Bevölkerung lebte sieben Monate lang in den Höhlen und Stollen, den ganzen Winter 1944/45. In dieser Zeit wurden 20 Kinder geboren. Im Frühjahr 1945 standen in Kirkenes noch drei Häuser.
All die ordentlichen weißen Wohnhäuser und Läden sind also neu, weshalb Kirkenes ein wenig einer amerikanischen Vorstadt ähnelt. Eines der ältesten Gebäude ist ein Bunker, der heute an den Mut der Einwohner erinnert. Ganz in der Nähe steht auf einem Sockel ein russischer Soldat. Vor dem Befreiungsdenkmal liegen immer bunte Sträuße und Kränze, frisch geflochtenes Kunstgrün; an echte Blumen ist in diesem Klima nicht zu denken. Schon immer wurden die Russen hier als Befreier gefeiert. Als Stalin starb, gab es auch in Kirkenes Leute, die weinten.
An hölzernen Veranden und einigen Sportplätzen vorbei steigen wir weiter hinauf, bis wir unten den Hafen liegen sehen. Wir setzen uns auf eine Bank. Bis zum Horizont erstreckt sich die große, leere Bucht, zuerst ist kein Schiff zu erkennen, dann erscheint in der Ferne wie jeden Tag das Postboot. Ein Mann mit Hund geht vorbei, schaut auf die Uhr. »Es ist spät dran heute, mindestens eine Viertelstunde.« Alles in diesem Städtchen ist solide, die Autos glänzen, die Häuser sind großzügig, man lebt anscheinend gut hier. Unter einigen der raren Bäume liegt der Friedhof, vergoldete Schriftzüge blinken grell in der Sonne. Bescheidenheit ist die Norm, nirgends stehen pompöse Grabmale. Bald, vor Gott, sind wir alle gleich, eigentlich aber schon jetzt.
Der Bürgermeister heißt Rune Rafaelsen. Er erzählt von seiner Großmutter. Ihr erster Mann kam bei einem Sturz im Sägewerk ums Leben. Ihr zweiter Mann starb, kaum dass sie...
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