Schweitzer Fachinformationen
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Wenn ich an die Friedliche Revolution von 1989 denke, habe ich vor allem ein Plakat vor Augen. Darauf stand dieser großartige Satz von Rosa Luxemburg: »Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden.« Ich war damals am Schauspielhaus in Leipzig engagiert und immer montags vor der Nikolaikirche. Es war jedes Mal ein spannender Moment: Die Tür ging auf, junge Leute kamen heraus, langsam und ganz leise. Sie holten unter ihren Jacken Transparente hervor, rollten sie aus. Dann setzte ein Sprechchor ein, erst kaum vernehmbar, dann immer lauter. »Wir wollen ein offenes Land mit freien Menschen«, skandierten sie. Es klang fast wie ein Gesang. Wunderschön. Ich kriegte Gänsehaut, heulte. Aber auch daran erinnere ich mich: Plötzlich waren wir alle umstellt. Ich bekam mit, wie Typen in Zivil vor der Kirche blitzschnell die Gummiknüppel aus den Jacken zogen. Man sah ihnen die Bösartigkeit richtig an. Sie prügelten diese mutigen Demonstranten auf den Lkw. Das war schrecklich.
Einer meiner Schauspielkollegen geriet auch einmal in so einen Tumult, kurz vor Beginn der Theatervorstellung. Er wurde geschlagen. Aus Versehen, weil er verwechselt wurde. Ich sagte zu ihm: »Du hast kaputte Knie und eine Verletzung am Kopf, so gehen wir jetzt vor das Publikum.« Aber das ging natürlich nicht.
Wir schlossen die Fenster und probten fleißig weiter, während die Demonstranten an unserem Theater gegenüber des Staatssicherheitsgebäudes vorbeizogen. Kein Wunder, unser Leiter war Mitglied im Zentralkomitee ( Glossar »Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)«). Einige von uns schlichen sich dennoch immer montags zur Nikolaikirche.
Ich finde die Leute so toll, die sich als Erste in die Nikolaikirche trauten. Ich glaube, es ist in der Öffentlichkeit gar nicht so bekannt, dass die ersten Montagsgebete in Leipzig schon Anfang der Achtzigerjahre stattfanden. Damals hatte ich nicht den Mut, mich in die Riege der Demonstrierenden einzureihen. Das ärgert mich heute sehr. Ich hätte in der DDR mit Musik den Kampf erklären sollen - wie es Dunja Hausmann in der Fernsehserie Weissensee wagt. Ich spiele diese Rolle einer regimekritischen Sängerin in der Diktatur, sozusagen einen weiblichen Biermann.
Als Jugendliche wusste ich gar nicht, wer Wolf Biermann überhaupt ist. Das erfuhr ich erst an der Schauspielschule. Nach der Ausbürgerung des unbequemen Liedermachers 1976 gab es eine Razzia in unserem Studentenwohnheim. Alle Biermann-Kassetten mussten verschwinden. Die Studenten schoben einige in den doppelten Boden eines Vogelhäuschens auf dem Balkon. Andere Bänder versteckten sie in ihren Stofftieren. Eine Freundin nähte ihre Kassette ins Kopfkissen ein. Abends holte sie das gerettete Stück wieder heraus. Wir tranken Rotwein, zündeten Kerzen an und hörten heimlich die oppositionellen Lieder. Ich war begeistert und dachte: »Das ist ein toller Typ. Der macht tatsächlich was.«
Ich finde es wichtig, dass Aleksandra Majzlic bekannte, aber vor allem auch weniger bekannte mutige Menschen in diesem Buch präsentiert. Diese Menschen boten den Oberen in der DDR die Stirn und beteiligen sich heute an der Aufarbeitung, indem sie schildern, wie die DDR wirklich war und wozu ihre Diener fähig waren.
Wirklich Herausragendes leistet Katrin Behr in ihrem Berliner Verein Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen. Bei der Verleihung des Medienpreises Goldene Henne 2014 in Leipzig lernte ich sie kennen. Katrin Behr wurde für ihre Arbeit in dem Verein ausgezeichnet und ich durfte die Laudatio halten. Leider wird Zwangsadoption noch immer als Tabu behandelt. Dagegen geht Katrin Behr an. Als Kind wurde sie selbst zwangsadoptiert. Das Familiengericht hatte das über den Kopf ihrer Mutter hinweg beschlossen - ein unbegreiflicher Missbrauch staatlicher Gewalt ( Glossar »Justiz«). Erst nach der Wiedervereinigung ( Glossar »Wiedervereinigung: die entscheidenden Schritte vom Mauerfall bis zum Tag der Deutschen Einheit«) sahen sich Mutter und Tochter wieder. Unzählige Zwangsadoptionsfälle sind hingegen noch nicht aufgeklärt. Deshalb ist es so wichtig, dass Katrin Behr die Betroffenen bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützt.
Meine Bewunderung gilt auch Bärbel Bohley. Ich traf sie leider nie. Bei der Trauerfeier in Berlin anlässlich ihres Todes 2010 durfte ich Zitate aus ihren Texten vortragen. Die Einladenden hatten gemeint: »Bärbel Bohley hatte so eine Direktheit und Schnodderigkeit. Wäre schön, wenn Sie das lesen könnten.«
Ex-Stasileute trauern der DDR heute nach. Bei der Vorstellung des Buchs Drachentöter. Die Stasi-Gedenkstätten rüsten auf vom früheren Stasioffizier Herbert Kierstein in Berlin platzte mir der Kragen, als einige der einstigen Stasitreuen über Demokratie redeten. Behaupteten, sie finde in diesem neuen Deutschland nicht statt und dies sei in der DDR ganz anders gewesen. Da ging ich sehr laut dazwischen und rief: »Wenn es diese Demokratie heute bei uns nicht gäbe, würdet ihr Verbrecher da vorne nicht stehen!« Plötzlich packte mich ein junger Bursche an und schrie: »Raus!« Aber die Demonstranten stellten sich mit ihren Plakaten um mich herum und schützten mich.
Einer von ihnen war Mario Röllig. Ich hatte ihn bei einer Theateraufführung in Potsdam kennengelernt. Als ehemals Inhaftierter von Hohenschönhausen wirkte er in dem Stück Staats-Sicherheiten am Hans-Otto-Theater mit. Die Vorführung war sehr emotional. Ich sprach Mario danach an, sagte, wie toll ich das fand. Er und seine Schicksalsgefährten versuchten nicht, das Erlebte zu spielen. Sie erzählten einfach auf der Bühne von ihren schlimmen Erfahrungen. Was Mario erlitt bei seiner gescheiterten Flucht ( Glossar »Republikflucht«), in der Haft und während der zufälligen Begegnung mit seinem vormaligen Stasivernehmer nach der Wiedervereinigung - das ist für mich wirklich unglaublich. Dass er sich dann entschloss, in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Führungen zu machen, finde ich wunderbar. Ich war bei seinem Rundgang durch das ehemalige Stasigefängnis dabei. Es war ein verregneter Tag. Es war grau - und was ich da drinnen sah, war grauenvoll. Er zeigte uns auch seine damalige Zelle. Was Mario dann beschrieb, löste in mir noch viel mehr aus, als meine Fantasie überhaupt zuließ. Der absolute Horror. Und das passierte alles in einem Staat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Er und andere frühere Gefangene halten die Erinnerung an das Geschehen wach.
Frühere Stasileute verdienen heute noch Geld mit ihrem Fachwissen. Das ist wirklich absurd. Als wir Weissensee drehten, erklärte uns ein Technikexperte, wie man zu DDR-Zeiten Abhörgeräte eingebaut hatte. Ich wurde gebeten, ruhig zu bleiben, als ich ihn dann beim Mittagessen sah. Ich dachte: »Der sitzt da wie ein ganz normaler Handwerker und kassiert Geld für Dinge, bei denen mir, wenn ich daran denke, wirklich schlecht wird.«
Ich finde es mutig, dass Gilbert Furian seinen Ex-Stasivernehmer sowie in der DDR tätige Juristen und Spitzel zum Interview traf. Einer von denen sagte tatsächlich: »Ich schäme mich abscheulich.« Das ist schon großartig, und ich denke, er meinte das auch so. Von vielen hört man hingegen Sätze wie: »Wir haben das gemacht für eine gerechtere Welt. Weil wir überzeugt waren. Weil unsere Familien uns geprägt haben. Weil wir sicher waren, dass von der DDR nur Frieden ausgeht.«
Ich würde wirklich gern den ehemaligen Freunden gegenübersitzen, deren Berichte ich in meiner Stasiakte ( Glossar »Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)) entdeckte. Sie sind natürlich nicht bereit dazu. Nach der Akteneinsicht rief ich sie fast alle an. Sie redeten sich mit Erpressung heraus, heulten. Kein einziges Wort mehr möchte ich allerdings mit meiner einst besten Freundin reden. Sie hatte sich mir damals an den Hals geworfen. Ich legte ihr mein gesamtes Leben in den Schoß. Erzählte alles, was man seiner besten Freundin eben so erzählt. Sie schrieb alles auf. Seitenweise. Später sagte sie in einem Interview, sie wolle mit dieser Schuld nicht sterben. Aber ich möchte sie nicht mehr sehen. Ich kann ihr nicht vergeben, selbst wenn sie vor mir heulend auf die Knie fallen würde.
Mich wollten Stasimänner auch als Spitzel ködern. Sie klingelten bei mir, hatten Sportgarderobe von adidas dabei. Die wollten sie mir schenken - zum 1. Mai, weil an diesem Tag die Schauspieler und Sportler immer zusammen feierten und ich an diesen Veranstaltungen mit einer Gesangseinlage beteiligt war. Erst freute ich mich riesig über die schicken Klamotten. Aber dann wollten sie mich ausquetschen über das Ensemble am Landestheater Halle, zu dem ich gehörte. Ich beendete das Gespräch schnell. Sie nahmen die Sportsachen, gingen und ließen mich fortan in Ruhe.
In Konfrontation mit den Oberen geriet ich auch bei den letzten Wahlen ( Glossar »Wahlen«) 1989. Damals war man eigentlich schon auf der sicheren Seite. Ich ging wählen und mein damaliger Mann hatte seine Kamera dabei. Es war aber kein Film darin. Ich setzte mich in die Wahlkabine, das war schon verdächtig. Ich machte ein großes Kreuz über das ganze Blatt. Als ich den Zettel dann in die Urne steckte, tat mein Mann so, als würde er mich fotografieren. Einer der Aufpasser drohte: »Gehen Sie weg mit der Kamera!« Mein Mann erwiderte: »Wieso? Honecker wird doch auch ständig fotografiert beim Wählen.« Sie warfen ihn hinaus. Da kochte es in mir über. Ich zerriss den Wahlzettel, schmiss die Fetzen in den Papierkorb und rief: »Macht doch diesen Scheißladen zu und das ganze Land auch!«
Bald danach geschah dann das Wunder: Die Mauer fiel...
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