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Man kann die Triebkräfte der syrischen Revolution und die Mechanismen ihrer Verwandlung in einen bewaffneten Kampf nicht klar erfassen, man kann nicht einmal die Grausamkeit des Regimes und die tiefen Spaltungen auf internationaler Ebene und in der arabischen Welt angesichts der Lage in Syrien erklären, ohne die Umstände des Aufbaus dieses Regimes durch Hafiz al-Assad im Jahr 1970 zu kennen, sieben Jahre nach dem Staatsstreich der Baath-Partei 1963 und der Ausrufung des Ausnahmezustands.
Dieses erste Kapitel enthält eine Analyse der Struktur des von Assad, dem Vater, eingeführten despotischen Systems, das auch noch weiterbestand, nachdem sein Sohn seine Nachfolge angetreten hatte. Es untersucht auch die Strategien, die die beiden Assads entwickelten und die es ihnen ermöglichten, ein Bild von Syrien zu erschaffen, in dem die Innenpolitik völlig ausgeblendet ist. Für einen weit entfernten Beobachter war Syrien somit auf regionale und internationale Grenzen und Funktionen beschränkt.
Der Hauptgrund für den Erfolg des syrischen Regimes bei der Gleichschaltung des öffentlichen Lebens in Bezug auf politische Partizipation, soziales Handeln und ethisches Engagement der Bürgerinnen besteht in seiner zunehmenden Fähigkeit, die Öffentlichkeit, die Räume der Meinungsäußerung und alle Versammlungs- und Organisationsorte entweder durch Wiederaneignung oder durch Ausgrenzung zu konfiszieren. So hat das syrische Regime das, was Michel Foucault in seiner Analyse von Macht und Herrschaft »auf Handeln gerichtetes Handeln« nannte, bis zum Äußersten ausgeübt, indem es den neuralgischen Punkten der Gesellschaft, die als Sprungbrett für politisches Handeln dienen könnten, seine Tyrannei aufgezwungen hat. Es hat Gewerkschaften, Parteien und Zeitungen gegründet und Juristen und Intellektuelle sowie andere Kräfte der Zivilgesellschaft neutralisiert.
Nikolaos Van Dam und eine Reihe von Wissenschaftlerinnen haben die konfessionellen und ethnischen Bestandteile des Regimes und deren Rivalitäten innerhalb der Militärinstitution und der Baath-Partei seit dem Staatsstreich von 1963 gründlich untersucht.8 Aber diese Untersuchung, so sorgfältig und nützlich sie auch sein mag, umfasste nicht alle Aspekte seiner Allianzen. Elisabeth Picard betont, dass die Untersuchung der Klassen und sozialen Gruppen, auf die sich dieses Regime stützt, ihrer Funktionsweise und der Dynamik ihrer Beziehungen, es uns ermöglicht, die »Spaltung der Gemeinschaft, die alles in allem real, aber wenig operativ ist«9, besser zu verstehen.
Denn auch wenn das Regime bei seinem Staatsstreich auf konfessionelle (vor allem Alawiten), militärische (die Armee) und parteiliche (die Baath-Partei) Grundlagen zählte und es ihm gelang, diese aneinander zu binden, indem es sie der Kontrolle von zumeist alawitischen Baath-Offizieren unterstellte, so spiegelte es doch seit Beginn seines Aufstiegs andere soziale Antriebskräfte wider. Laut Hanna Batato wurde die Baath-Partei in ihren frühen Jahren (1963-1968) von einem Bündnis von Gruppen innerhalb der Armee getragen, deren Gemeinsamkeit in ähnlichen ländlichen Ursprüngen bestand. »Zu diesen Gruppen gehörten Alawiten aus dem Departement Latakia, Drusen des drusischen Dschebels, Sunniten aus dem Hauran oder der Region Deir ez-Zor oder anderen ländlichen Ortschaften. Ihre Mitglieder waren alle Söhne kleiner Bauern, die ihre Produkte auf Märkten verkauften, die von den Händlern in Damaskus, Aleppo und Hama beherrscht wurden. Letztere schafften es immer, die Regierung dazu zu bringen, ihre Wünsche zu erfüllen und auf dem Markt Regeln zu ihrem eigenen Vorteil durchzusetzen. Ihre Beziehung zu den Bauern wurde dadurch auf die des Kreditgebers zu Gläubigern reduziert.«10
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich in der Baath-Partei der 1960er Jahre ein Geist der »Rache an der Stadt« entwickelte, der zu Einschränkungen gegen die Händler und Industriellen und zur systematischen Beschlagnahme ihres Eigentums führte. Dieser Groll nahm einige Jahre später andere Formen an, als Hafiz al-Assad 1970 an die Macht kam. Mit der Einführung seiner »Korrekturbewegung«11 änderte der neue Herrscher die Formen der Rache nach der machiavellistischen Regel, die Städte zu besetzen und sich anzueignen, statt sie zu ersticken. Um dieses Ziel zu erreichen, förderte er die Landflucht in die Städte und erweiterte die Vorstädte. Schließlich knüpfte er Beziehungen zu Händlern und Geschäftsleuten, indem er ihren Wohlstand förderte, wenn sie im Austausch dafür loyal waren und sich vom politischen Leben fernhielten. Elisabeth Longuenesse stellt fest, dass die Städte, die eine massive Landflucht erlebten und deren soziales Gefüge vom »neuen Fürsten« infiltriert wurde, insbesondere die Hauptstadt Damaskus, sich dessen Herrschaft viel mehr unterwarfen als die Städte, die eine kohärentere soziale Struktur beibehielten.12 Jene, die sich noch verweigerten, gaben später auf, betäubt von der Lektion, die 1982 in der schrecklichen Prüfung von Hama erteilt wurde. Der »Fürst« verzichtete in diesem Fall auf Machiavellis Rat und entschied sich für die Zerstörung der Stadt.13 Die Ereignisse in Hama und anderen Städten des Landes, die mit Strafexpeditionen, Verhaftungen und dem Exodus Zehntausender Syrerinnen einhergingen, machten der Bevölkerung deutlich, dass die Armee und der Sicherheitsapparat zu unbegrenzter Gewalt gegen diejenigen fähig sind, die das Regime bedrohen oder sich ihm widersetzen.
Um seine Macht durch die Besetzung der Städte zu festigen, beschleunigte das Regime den Ausbau des öffentlichen Sektors, indem es seine Anhängerinnen in diesen lockte und sie in den Städten ansiedelte, insbesondere in der Hauptstadt. Laut Batato stieg die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor von 34.000 im Jahr 1960 auf 331.000 im Jahr 1980, wodurch die Basis des Regimes innerhalb der staatlichen Institutionen gefestigt wurde. Im Gegensatz zu dem, was man in vielen anderen Fällen beobachten kann, wurde die Expansion des öffentlichen Sektors ab Mitte der 1970er Jahre von einem Boom des privaten Sektors begleitet, der auf die Maßnahmen zugunsten der Kleinindustrie, aber auch auf den Ölboom und den Zustrom von Hilfsgeldern aus den Golfstaaten nach dem Krieg gegen Israel im Oktober 1973 zurückzuführen war. Die Intervention Syriens im Libanon 197614, die dem Regime feste Einkünfte verschaffte, tat ihr Übriges. All dies trug zur Stärkung der Beziehungen des Regimes zu einem Teil des Bürgertums und der städtischen Honoratioren bei.
Alle diese Faktoren zusammen (Vergrößerung des öffentlichen Sektors, Verbesserung des privaten Sektors, Zufluss von Hilfsgeldern und Kapital, begünstigt durch den Ölboom, und schließlich der Libanonkrieg) führten jedoch zum Auftreten neuer bürgerlicher Klassen, unter denen Volker Perthes »die neuen Industriellen«, »die Staatsbourgeoisie« und »die neue Klasse«15 unterscheidet. Letztere wurde durch betrügerische Geschäfte, Bestechungsgelder und Schmuggel unter dem Schutz von Regierungsbeamten reich. Diese neuen Klassen haben dazu beigetragen, die soziale Basis des Regimes zu verbreitern, wobei Korruption notwendig wurde, um ihre Positionen zu erhalten: »Korruption ist kein Problem, solange diejenigen, die sie praktizieren, ihre Loyalität zum Regime beweisen. Denn Korruption bildet in diesem Sinne ein Netzwerk, das die Kreise des Regimes verbindet und zu einem Mittel wird, um Gruppen aus allen gesellschaftlichen Kategorien anzuziehen.«16
Gleichzeitig übernahm das Regime die meisten der politischen Parteien, indem es sie domestizierte und Spaltungen in ihren Reihen verursachte. 1972 schuf es die »Nationale Progressive Front«, die kommunistische, nationalistische und sozialistische Parteien zusammenbrachte, die aber nur eine Fassade war und keine Entscheidungsgewalt hatte. Gleichzeitig diente diese Front als Deckmantel für die Unterdrückung von »Dissidentinnen« oder Mitgliedern von Parteien, insbesondere Kommunistinnen, die sich weigerten, sich unter ihr Banner einzureihen.
Auf die gleiche Weise übernahm das Regime die Arbeitergewerkschaften, machte laut Longuenesse zwischen 95 und 99 Prozent der Angestellten des öffentlichen Sektors zu Mitgliedern und verwandelte sie in Instrumente eines neuen »Staatskorporatismus«. Was die Justiz betrifft, so wurde sie mit der Schaffung von Notstands- und Militärgerichten, die für die Anwendung des Notstandsgesetzes zuständig waren, ihrer Substanz beraubt, wodurch sie an den Rand gedrängt und die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit ihrer Mitglieder zerstört wurden.
All dies zeigt,...
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