Schweitzer Fachinformationen
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Donnerstag, 19 Grad, wolkenlos. Ein guter Tag, um große Dinge zu vollbringen
Was für ein Traumtag! Die tief stehende Frühlingssonne fächerte ihre Strahlen verschwenderisch über die bunten Fassaden von Burano, jener vorgelagerten Insel von Venedig, die für ihre Seidenstickereien berühmt war - und für ihren Bewohner Pierre-Paul Chaud.
Dem Beobachter, der sich hinter einer Säule verbarg und immer wieder auf sein Smartphone in der linken Hand starrte, um beschäftigt zu tun, entgingen all diese Bestandteile des schönen Vormittags. Zum einen hatte er Wichtigeres vor, woran ihn die Angelschnur erinnerte, deren Ende er in der rechten Hand hielt. Zum anderen zwickte ihn sein etwas zu enges Shirt unter dem Hemd, denn seine apokrinen Drüsen neigten zu übermäßigem Schwitzen. Vor allem in Stresssituationen. Nun hob er den Kopf, rümpfte die Nase und blickte an der Säule vorbei. Auf den Ständen des kleinen Marktes duftete es leicht salzig und modrig nach fangfrischem Fisch. Er konnte den Geruch nicht ausstehen.
Gerade schoss nicht fern von ihm eine Möwe übermütig übers Wasser, ein paar Fischer plauderten mit Marktfrauen über die nächtlichen Fänge und die neuesten Einfälle der römischen Senatoren und den anstehenden Spieltag, als er endlich kam, der große französische Designer.
Pierre-Paul Chaud war wie immer mit großem Aufwand unrasiert und trug einen legeren hellgrauen Kapuzenpulli (der in Wirklichkeit maßgefertigt war, fünfhundert Euro pro Stück kostete - er hatte immer mehrere identische Modelle - und ihm regelmäßig aus einer Manufaktur in Prato zugeschickt wurde; das wusste der Beobachter hinter der Säule, der ihn über Wochen genauestens studiert hatte). Er war wie jeden Morgen auf dem Weg zur Anlegestelle, um im Fondaco dei Tedeschi nach dem Rechten zu sehen. Das Fondaco, ein Palazzo direkt an der Rialtobrücke und das ehemalige Handelskontor all jener, die die ganz alten Venezianer abschätzig tedeschi nannten (Deutsche, Polen, Ungarn, Tschechen und ähnlich kulturferne Völker, die ihre Minestrone noch mit der Mistgabel auslöffelten), war in den letzten Jahrzehnten zwischen diversen Investorengruppen wie eine heiße Kartoffel hin und her gereicht worden, bis sich endlich ein chinesischamerikanisches Konsortium mit zu viel Spielgeld aus der Bitcoin-Blase erbarmt und die beiden besten Architekten beauftragt hatte, die für Geld zu haben waren.
Dort hatte Pierre-Paul Chaud gemeinsam mit dem belgischen Co-Superstar Rem Kohlhiesel ein neues Luxus-Einkaufszentrum gebaut, das kurz vor der Eröffnung stand. Chaud und Kohlhiesel: Das ist, als ließe man Cristiano Ronaldo und Lionel Messi in einer Mannschaft spielen.
Aus einem Grund, den sich der Beobachter hinter der Säule nicht erklären konnte, blickte Pierre-Paul Chaud für einen kurzen Augenblick nach oben. Dabei hatte es gar keinen offenkundigen Anlass für sein Misstrauen gegeben.
Der Himmel stürzte auf den Designer ein, und zwar in Gestalt der heiligen Muttergottes, einer zwei Meter großen Marienstatue, die in Burano an vielen Häuserecken die Vorbeikommenden segnete und die sich in diesem Moment in all ihrer marmornen Schwere auf Pierre-Paul Chauds lustig belockten Kopf senkte.
Mit einem Reflex, den ihm der Beobachter nie zugetraut hätte und die wohl aus seiner Zeit als agiler Linksaußen in der E-Jugend des katholischen Fußballvereins Étoile des Trois Lacs herrührte - auch das hatte der Beobachter erfahren -, drehte Chaud Kopf und Schultern weg. Es war so knapp, dass der kühle Marmor ihn am Arm streifte und auf seinen rechten Fuß fiel. Der Beobachter hinter der Säule steckte sein Handy ein, zog die Schnur an sich, die sich wie geplant nach dem Sturz gelöst hatte, und entfernte sich rasch.
Später sollte er erfahren, dass die Ärzte in der Raucherpause mit dem Röntgenbild der Designerfußknochen Puzzle spielten. Doch ein Trümmerbruch im Fuß war natürlich immer noch besser als ein Trümmerbruch im Schädelbereich.
Ein paar Stunden später und etwa fünf Kilometer Luftlinie entfernt schälte sich Chris Cock aus dem Bett. Wie immer hatte er ausgiebig seinen Jetlag ausgeschlafen und würde erst weit nach Mittag sein Frühstück zu sich nehmen. Und wie immer bei seinen Aufenthalten in Venedig hatte er die Suite im vierten Stock des Luxushotels Gabrieli gebucht. Über die finanzielle Situation des Luxushotels, eines der ältesten der Stadt, wurde gerade laut gemurmelt oder noch lauter geschwiegen; es gab Schwierigkeiten und die eine oder andere nebulöse Meldung im Wirtschaftsteil der Presse. Das wussten die Gäste eigentlich nicht, seine Agentin hatte ihm aber vorgeschlagen, schon einmal nach einem anderen Hotel Ausschau zu halten, doch mit solchen Entscheidungen wollte sich Cock erst gar nicht belasten. Heute würde sich Cocks neue Assistentin vorstellen, denn die alte Assistentin war untragbar geworden, nachdem sie beim Sortieren der Gummibärchen nach Farben immer wieder kleine, aber störende Fehlerchen gemacht hatte.
Cocks erster Handgriff führte in das Gefrierfach der Minibar, wo er jeden Abend zwei Silberlöffel platzierte, die er sich nach dem Aufwachen auf die Lider legte, um die Tränensäcke zurückzudrängen. Denn auch ein Chris Cock wurde älter, und Tränensäcke konnten in diesem harten Business schnell das Aus bedeuten. Er war noch nicht bereit dafür, den Vater des Hauptdarstellers zu spielen, sondern wollte immer noch gefälligst selbst der Hauptdarsteller sein. Dazu hatten diese verfluchten Paparazzi das himmelschreiende Talent, ihn stets im ungünstigsten Winkel bei schlimmstmöglichem Licht zu fotografieren - gerade hier in Venedig, wo an strahlenden, sonnigen Tagen mit harten Schatten kein gnädiger Nebel die Gesichtszüge in komplizenhafter Unschärfe verschwimmen ließ. Die Fotos, die er sich einmal wöchentlich zukommen ließ, bereiteten ihm zusehends schlechte Laune.
Nachdem er fünf Minuten mit den Silberlöffeln auf den Lidern rücklings auf dem Bett zugebracht hatte, schluckte er die erste der fünf Pillen, die er brauchte, um als gut gelaunter Hollywoodstar durch den Tag zu kommen. Die Pillen steckten in goldenen Röhrchen, waren von seinen Ärzten und Psychiatern speziell für ihn dosiert und in einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge einzunehmen.
Fünf aufgekratzte Zimmermädchen brachten ihm einen Cappuccino mit Sojamilch und einem Glas stillem Wasser in Raumtemperatur. Chris Cock wunderte sich schon lange über nichts mehr. Nicht über die vielen Zimmermädchen, nicht über die verschwundene Schmutzwäsche aus seinen Koffern und nicht über die Blicke, die vielen Blicke, die Millionen Blicke. Sein Leben war eine Truman-Show, aber erstens halfen die Pillen, und zweitens würde er ja bald wieder in Como sein, wo er halbwegs in Ruhe gelassen wurde. Die paar Paparazzi, die sich täglich auf den Booten vor seinem Anwesen sehen ließen, waren zu verkraften. Jedenfalls verglichen zu dem, was ihn bei all seinen Aufenthalten in Venedig erwartete. Natürlich hatte es sich bereits herumgesprochen, dass er seit dem Vorabend in der Stadt war. Wie ein virtueller Kugelblitz war die Nachricht durch die weltweiten Serverfarmen gerast und hatte unter dem Hashtag #chriscockishere für einen zusätzlichen Ansturm der Touristen gesorgt. Vor dem Gabrieli, ein paar Schritte östlich vom Markusplatz gelegen und daher gut fußläufig zu erreichen, dürften sich wie jeden Tag Japanerinnen, Italienerinnen sowie Schulklassen drängen, die zufällig gerade in der Stadt waren und für ihn die Besichtigung des Markusdoms sausen ließen. Gut, dass es einen zwar nicht geheimen, aber für Touristen schwer zu erreichenden Seitenkanal gab, an dem die Privatboote anlegen und Superstars wie ihn dezent fortschaffen konnten.
Während Chris Cock sich bereitmachte, das Hotelzimmer zu verlassen - seine Agentin wartete bereits unten in der Lobby bei einem Lapsang-Souchong-Tee, mit der aufgeregten neuen Assistentin, die sich an einem Caffè nero festhielt -, passierte etwas Ungewöhnliches: Eines der Fenster auf den Bacino di San Marco hinaus zersprang in abertausend millimetergroße Stücke und prasselte auf den schicken, schweren Teppichboden. Außerdem vernahm er ein Surren nah an seinem Ohr. Wie alle Schauspieler war Chris Cock nicht der Allerhellste, aber aus seiner Jugend in Kentucky war ihm dieses Surren von den Jagdausflügen mit seinem Vater vertraut. Auch ließ das kleine Einschlagsloch an der Wand, knapp unter der Decke mit ihren Holzintarsien, keinen Zweifel.
Er verständigte, wen sonst, seine Agentin, während sich draußen auf dem Bacino di San Marco ein Motorboot mit hoher Geschwindigkeit entfernte und ein Mann zunächst ein Fernglas und dann ein Gewehr mit heißem Lauf in einer mit Kieselsteinen gewichteten Ledertasche verstaute, um dann beides ein paar Meilen außerhalb, fast schon auf dem offenen Meer, dezent über Bord zu entsorgen.
Und noch ein weiterer Superstar war in der Stadt. Sebastian Übelkrähe, ehemaliger Bayern-München-Verteidiger, Fußballweltmeister von 2014 (wenn auch ohne Einsatz) und inzwischen Spielertrainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er hatte vor einigen Jahren in Venedig geheiratet, nun suchte er ein Apartment für sich und seine Frau, den spanischen Tennisstar Lisalena Garcia-Vorhantova. Es sollte eine Geldanlage, ein Feriendomizil und vor allem eine Überraschung sein. Daher hatte er ihr nichts gesagt und war inkognito unterwegs. Lisalena spannte derweil auf einer Schönheitsfarm oberhalb des Gardasees aus, denn auch ihre aktive Karriere ging so langsam zu Ende; gegen die neunzehnjährigen osteuropäischen Aufschlagmonster war nicht mehr viel zu holen.
Hinter der Sonnenbrille blieb Sebastian Übelkrähe an diesem Spätnachmittag...
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