Schweitzer Fachinformationen
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Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum als bliebe die Wurzel im Boden als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
HILDE DOMIN2
Ich stand vor der Tür. Mein Herz hämmerte. Meine Hände waren schweißnass. Ich schluckte den Kloß im Hals herunter und redete mir selbst gut zu: »Komm schon, du bist erwachsen! Das sollte dir doch eigentlich nichts mehr ausmachen.« Doch mein Herz hämmerte nur weiter und die Stimme in mir wurde lauter: »Du hast schon Neuanfänge hinter dir. Du weißt, wie so etwas abläuft: Am Anfang wirst du dich fremd fühlen, weil du die Neue bist, und nicht dazugehören. Klar, du wirst dir deinen Platz verdienen müssen. Aber irgendwann wirst du Teil der Gruppe sein und dazugehören. Also stell dich gefälligst nicht so an! Heb den Kopf, beiß die Zähne zusammen, steh aufrecht und geh da rein!«
Ich atmete tief durch und drückte langsam die Türklinke runter. Acht Gesichter blickten mich an. Manche offen. Andere kritisch und fragend. Ich schloss die Tür hinter mir, schaute mich nach einem Platz um und setzte mich. Ob das Pochen meines Herzens wohl durch mein T-Shirt hindurch zu sehen war? Da war ich also: die Neue. Die, die die Spielregeln erst noch lernen musste. Die, die fremd war. Und anders. Unsicher.
Dabei war ich bereit zum Aufbruch! Hatte sogar andere Angebote ausgeschlagen, um mich beruflich auf die Gründung einer völlig neuen Arbeit in Deutschland einzulassen. Hinter mir lagen viele Fragen und Zweifel, ob das wirklich der richtige Platz für mich war, und Gespräche über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der neuen Herausforderung. Am Ende dieses Prozesses startete ich mit der Ahnung, dass Gott mich an diesen neuen Platz gerufen hatte. Hinzu kam, dass ich die dringende Notwendigkeit dieser Arbeit sah. Ich war frustriert über den Status quo und genau das half mir bei der Entscheidung, diese Aufgabe anzunehmen. Ich wollte etwas verändern.
Vielleicht hatte ich an diesem ersten Tag insgeheim erwartet, dass sich zu meiner inneren Überzeugung auch das Gefühl, am richtigen Platz zu sein, dazugesellen würde. Dass Gott mir - zumindest ein bisschen - Konfettiregen und Lobeshymnen schenken würde. Ich wollte, dass es sich gut anfühlt bei diesem Neuaufbruch. Immerhin war ich bereit, eine völlig neue Aufgabe zu übernehmen - und das als Mutter von drei Kindern.
Mein Auftrag war es, frische Formen von Kirche für Familien zu entwickeln. Hierfür gab es keine Struktur, meine Stelle war zum großen Teil über Spenden und Stiftungsgelder finanziert, was uns als Familie herausforderte. Mein Mann und ich beschlossen, für meine neue Aufgabe jeweils in Teilzeit zu arbeiten, und jonglierten ab dem ersten Tag zwischen Kindergarten, Vesperbroten, Autofahrten, Kindergeburtstagen, Referententätigkeiten, Hausaufgaben, Mails und Meetings. Ich war überzeugt, dass ich die neue Herausforderung angehen sollte. Dass es nötig war, endlich Kirchen- und Gottesdienstformen zu finden, die Familien in den Blick nehmen. Ich hatte mich immer fremder in meiner eigenen Kirche gefühlt und wollte etwas verändern. Zu lange schon hatte ich an den festgefahrenen Strukturen dieser Kirche gelitten, hatte ich gesehen, was eigentlich längst hätte getan werden müssen - und nie wirklich getan worden war.
In Großbritannien waren solche neuen Formen bereits entstanden, ich hatte es selbst erlebt und war fest davon überzeugt, dass sie auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen könnten. Jahre zuvor hatte ich ein Schlüsselerlebnis auf einem Kongress gehabt, das mir deutlich vor Augen gemalt hatte, dass es dringend nötig war, diese Arbeit hier in Deutschland zu starten. Ja, ich war davon überzeugt, dass Gott mir den Auftrag gegeben hatte, diese neue Arbeit zu beginnen. Außerdem hatte ich Lust darauf, das Neue auszuprobieren. Ich war neugierig auf das Team, den Arbeitsplatz und darauf, ob man auch mit drei kleinen Kindern noch einmal einen Aufbruch wagen kann.
Doch der geheime Konfettiregen und die Lobeshymen Gottes blieben aus. Im Gegenteil: Am ersten Tag und auch in den folgenden Wochen und Jahren fühlte sich meine neue Berufung eher fremd, unsicher, einsam und herausfordernd an. Ich zählte irgendwann nicht mehr die Tage, in denen ich abends zu meinem Mann sagte: »Morgen kündige ich. Ich bin am falschen Platz. Es braucht diese Arbeit, aber ich bin die Falsche dafür.«
Dabei stieß ich von Anfang an auf faszinierend viele offene Türen. Schon in den ersten Monaten erlebte ich, wie Neues entstand und Gemeinden sich auf Vorschläge und Angebote einließen. Ich war fasziniert von den Möglichkeiten, den Neuanfängen und dem Aufbruch. Wir gründeten schon im ersten Jahr mehr als zwanzig Kirche-Kunterbunt-Initiativen in Bayern.3 Und nicht nur das: In ganz Deutschland wuchs die Bewegung, und ich staunte über das, was sich da tat. Pfarrkonvente, Kirchenvorstände, Vereine, Familienzentren luden mich als Referentin ein, und überall stieß ich auf Begeisterung über die Ideen, die wir bei »Kirche Kunterbunt« entwickelt hatten.
Das war die eine Seite. Doch da gab es noch die andere Seite und die war schmerzhaft. So schmerzhaft, dass sie sich nicht einfach wegdrücken ließ.
Ich glaube, niemand meinte es so richtig böse. Vielleicht waren auch alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch als Pionierin war ich allein. Das war nicht nur ein Gefühl, sondern harte Realität. Ich gehörte gleichzeitig drei Teams an und trotzdem nirgends dazu. Auf Deutschlandebene hatte ich Teammitglieder, mit denen ich Material und Öffentlichkeitsarbeit entwickelte, auf bayerischer Ebene waren da Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Kirchen, Konfessionen und Verbänden, mit denen ich gut zusammenarbeitete - aber die kein Team für mich waren. Im eigenen Verband hatte ich eine Sonderrolle und nahm nur teilweise an den regelmäßigen Teamveranstaltungen teil. Auch privat hatte ich zunehmend den Eindruck, dass ich nirgends hingehörte. Im Vorort von Nürnberg waren wir mit unserem verrückten Teilzeitstellenmodell und wenig Fremdbetreuung unserer Kinder immer irgendwie anders. Wir gehörten nicht zu den Eltern, die beide voll arbeiteten und ihre Kinder im Hort betreuen ließen. Aber wir gehörten auch nicht zu den Eltern, die ein klassisches Familienmodell lebten, in dem einer voll arbeitete und der andere sich vorrangig um Kinder und Care-Arbeit kümmerte. Unter meinen Freundinnen fühlte ich mich von Monat zu Monat weniger wohl. Ich stieß auf wenig Verständnis für meine neue Arbeit, und immer hörte ich die vorwurfsvolle Frage, warum gerade ich mich als Pionierin einsetzen müsse. Da draußen gebe es schließlich noch viele andere.
Während die Arbeit von »Kirche Kunterbunt« weiter und weiter wuchs, fühlte ich mich immer einsamer. Trotz vieler Begegnungen wurde ich das Gefühl nicht los, nicht dazuzugehören. Die barsche Stimme in mir klagte mich an: »Du bist fremd, weil du die Regeln nicht beachtest und aus der Reihe tanzt. Spiel mit! Verdiene dir deine Zugehörigkeit! Werde Teil eines Teams! Hör auf, zwischen den Stühlen zu leben! Deine Unzufriedenheit mit dem Status quo treibt dich nur weg von den etablierten Strukturen und damit auch weg von einem Ort zum Wohlfühlen.« Eine sehr viel leisere, behutsamere Stimme in mir entgegnete: »Vielleicht musst du das Spiel ja gar nicht mitspielen. Bleib dir treu! Lass dich nicht verbiegen, nur um dazuzugehören. Du bist anders, und du wirst nie wirklich dazugehören. Traue deiner Berufung. Du bist auf dem richtigen Weg.«
Ich kam mir vor wie eine Teenagerin, die als Einzige nicht zur Party eingeladen wird. Oder wie die Neue in der Klasse, die einfach ignoriert wird. Oder die Fußballspielerin, die jedes Spiel auf der Ersatzbank sitzt und nicht einmal erwähnt wird, wenn es um die Aufstellung der Mannschaft im nächsten Spiel geht. Ich fühlte mich wie diejenige, die als Einzige nicht bei dem Witz mitlachen kann, weil alle Bescheid wissen - nur sie nicht.
In mir wuchs die Ahnung, dass ein Neuaufbruch sich nicht immer als das wundervollste Abenteuer entpuppt. Dass Mut sich nicht zwingend wie Mut anfühlt. Wer einen Aufbruch wagt, dem kann es passieren, dass er sich einsam auf einem Weg wiederfindet. Und dieser Weg kann trotzdem der richtige sein. Wer einen neuen Weg geht, der hat mit Unsicherheit zu kämpfen. Dabei geht es nicht nur um das Gefühl. Nein, vielmehr sind es die tatsächlichen und handfesten Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, wenn wir einen Aufbruch wagen: fehlende Begleitung, Strukturhindernisse, manchmal kommen sogar andersartige Gepflogenheiten oder Kulturgrenzen dazu. Wer aufbricht, ist bereit, sich auf Neues und Fremdes einzulassen.
Damals suchte ich nach Worten, um dieses Gefühl zu beschreiben. Vor meinem inneren Auge tauchten undurchdringliche Wälder und Frühnebel auf. Gefühlt befand ich mich in der Wildnis, und deshalb begann ich, dieses Gefühl auch so zu nennen: Wildnis. Es vereinte beides in mir: Ich fühlte mich fremd und war gleichzeitig fasziniert und voller Neugierde auf das, was nun kommen würde. War einsam und empfand gleichzeitig diese tiefe Klarheit in mir, dass Gott mich zu diesem Aufbruch gerufen hatte. Meine Sinne waren alle auf »Gefahr« eingestellt, ich hatte den Eindruck, fehl am Platz zu sein, und gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich hier richtig war. Ich fühlte mich wie ein Mensch, der alle Annehmlichkeiten der Zivilisation selbstverständlich kennt und nutzt und sich dann plötzlich mit den Herausforderungen der Wildnis konfrontiert sieht und dabei völlig auf sich allein gestellt ist: unberechenbares Wetter, undurchdringliche Wälder, unbekannte Gebiete, wilde Tiere, fremde Geräusche und Gerüche....
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