Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Niemand beachtete die Schmetterlingsraupe.
Sie war aus einem üppig mit saftigem Grün gefüllten Fahrradkorb gefallen. Ein Student hatte für sein Kaninchen frische Gräser auf einer nahe gelegenen Wiese gerupft. Als der junge Mann mit seinem Rad über die Bordsteinkante geholpert war, hatte die Raupe ihren Halt verloren und war durch das Gitter des Korbs auf die Fahrbahn gerutscht. Hier kroch sie nun. Das erste Auto verfehlte sie knapp. Aber es war nur eine Frage der Zeit .
Stefanie Gruber strebte über die Brücke der Passauer Altstadt zu, und wie jeden Morgen, wenn sie hier entlangging, nahm sie bewusst das Panorama in sich auf und sann darüber nach, was für ein Glückskind sie doch war.
Sie war geliebt und behütet in einem wunderbaren Elternhaus groß geworden. Sie hatte das Glück gehabt, in der idyllischen Landschaft Niederbayerns aufzuwachsen. Und sie hatte den schönsten Beruf der Welt.
Einen Beruf, in dem sie ihre Liebe zur Musik und ihre Liebe zum Holz vereinte.
Zuerst hatte sie ja geplant, Geigenbauerin zu werden. Aber dann .
Geigenbauer hatten einen Namen, gute Geigenbauer wurden berühmt, den Namen Stradivari kannte jedes Kind.
Aber niemand sprach von den Bogenbauern.
Dabei wusste jeder Musiker, der ein Streichinstrument spielte, dass das Instrument nur so gut klang, wie es der Bogen zuließ.
Und Stefanie, die selbst seit ihrem vierten Lebensjahr - nachdem sie beharrlich um Unterricht gebettelt hatte - Geige beziehungsweise später Bratsche spielte, hatte sich, als sie älter wurde, besonders für die Bögen interessiert. Was machte einen guten Bogen aus? Warum krallte sich der eine geradezu in die Saiten und führte einen schwer wie Regenreifen ein Auto auf einer nassen Straße (wie es die berühmte Violinistin Anne-Sophie Mutter in einem Interview beschrieben hatte), während ein anderer Bogen über die Saiten sprang wie ein nervöses Rennpferd?
So hatte Stefanie schon früh gewusst, dass sie Bogenbauerin werden wollte.
Sie hatte nach dem Abschluss der Mittleren Reife eine Lehrstelle in einer Werkstatt für Instrumentenbogenbau angetreten. Die Gesellenprüfung gemacht. Gesellenjahre absolviert.
Und vor sechs Monaten hatte sie ihr Ziel erreicht: Sie hatte erfolgreich ihre Prüfung zur Bogenbaumeisterin abgelegt - als eine der jüngsten, die dies jemals in Bayern geschafft hatten.
Und sie hatte sogar Räume für eine Werkstatt mitten in Passau gefunden. In der Stadt, die sie liebte und die für sie, die aus dem gerade mal zwanzig Kilometer entfernten Vilshofen stammte, auch Heimat war.
Ein Kollege aus dem Orchester, dem sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr semiprofessionell als Bratschenspielerin angehörte, hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass sein Cousin ein Ladenlokal vermieten wolle. Sie hatte sich keine Chancen ausgerechnet: Eine siebenundzwanzig Jahre junge Frau, die sich unmittelbar nach bestandener Meisterprüfung selbstständig machen wollte - nicht unbedingt die Art von solventem Mieter, den man sich als Vermieter wünscht. Wahrscheinlich hatte der Vermieter sie aus reiner Höflichkeit gegenüber seinem Cousin zu einem Gespräch eingeladen. Aber sie hatte ihre Chance genutzt und ihn überzeugen können.
Und so lag ihre Werkstatt nun tatsächlich in der pittoresken Milchgasse in Passau.
Und jeden Morgen, wenn sie von ihrer kleinen Einzimmerwohnung auf der anderen Seite des Flusses über die Brücke Richtung Altstadt ging, schaute sie auf dieses Panorama und war erfüllt von einer unbändigen, dankbaren Freude.
Dass sie diesen Beruf hatte! Dass sie hier in Passau eine Werkstatt gefunden hatte! Dass sie schon viele Kunden gewonnen hatte!
Darüber hinaus bot diese Woche noch einen ganz besonderen Höhepunkt: Am kommenden Samstag hatte sie Geburtstag. Sie würde zu Hause bei ihren Eltern in Vilshofen feiern. Für den Abend war sie mit ihrer »Band« - zwei Freundinnen, mit denen sie schon seit vielen Jahren eher hobbymäßig Jazz spielte - für einen Auftritt im Lieblingscafé gebucht. Und Bertram würde bei allem dabei sein.
Bertram Kogler. Stefanie lächelte in sich hinein. Der ungeduldige, ungestüme Bertram Kogler. Vor zwei Wochen hatte er ihr tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht. Aber das ging ihr nun wirklich zu schnell. Schließlich war es gerade mal vier Monate her, dass das Münchner Unternehmerpaar Kogler sie und ihre Band engagiert hatte. Und schon am nächsten Abend hatte der Sohn und Juniorchef vor ihrer Werkstatt in Passau gestanden. Mit einem riesigen Rosenstrauß im Arm sagte er: »Seit ich Sie gestern bei Ihrem Auftritt gesehen habe, habe ich das Gefühl, es gibt nichts Wichtigeres in meinem Leben, als Sie kennenzulernen. Würden Sie mir die Freude machen, mit mir zu Abend zu essen?«
Mit einem Lächeln, derart schüchtern und bittend und ängstlich wegen einer möglichen Absage . Sie hatte zugesagt.
Der Tisch im Restaurant war bereits reserviert gewesen.
»Darf ich morgen wiederkommen?«, hatte er mit diesem schüchternen Lächeln, das sie so rührte, vor ihrer Haustür gefragt.
Er hatte gedurft. Und den nächsten Abend auch. Und den übernächsten. So waren sie ein Paar geworden.
Bertram faszinierte sie. So schüchtern, wie er einerseits wirkte, so ungestüm war er auf der anderen Seite. Und organisierte ohne langes Grübeln die Dinge, wie er sie haben wollte. So hatte er zum Beispiel auch vor Kurzem ruckzuck ein Kennenlernabendessen für die beiden Elternpaare organisiert.
Trotzdem würde er sich mit der Hochzeit gedulden müssen. Das ging ihr einfach zu schnell. Zumindest ihr Bruder musste Bertram noch kennenlernen, denn die Meinung ihres Bruders war ihr wichtig. Aber am kommenden Samstag bei ihrer Geburtstagsfeier bot sich auch dazu endlich Gelegenheit.
Die Sonne strahlte vom weiß-blauen niederbayerischen Himmel, und der Asphalt warf die Wärme zurück; es war richtig heiß, obwohl es noch nicht einmal neun Uhr war. Dieser Maitag fühlte sich schon wie ein Sommertag an.
Stefanie verharrte kurz, fuhr sich mit den Händen in den Nacken unter die dichten, schulterlangen braunen Haare und fächelte sich mithilfe der Haare frische Luft ins Genick.
Und während sie so stand und die Haare in ihrem Nacken lockerte, fiel ihr dieser intensiv leuchtende grüne Farbklecks auf der Fahrbahn auf.
Sie schaute genauer und erkannte die schwarzen Streifen mit den orangenen Punkten. Die Raupe eines Schwalbenschwanzes. In ganz sattem Grün.
»Oh«, sagte sie bedauernd.
Im Garten ihrer Eltern in Vilshofen konnte man die Raupen auch manchmal finden. In der Schule hatten sie sogar einmal unter Anleitung des Biologielehrers einen Raupenkasten gebaut und die Verpuppung beobachtet. Sie erinnerte sich, dass der Lehrer die Raupe extra irgendwo bestellt hatte, weil die Raupen unter Naturschutz standen und es verboten war, eine Raupe aus der Natur zu nehmen.
Nun, das nutzte dieser hier wenig, diese würde gleich platt gefahren.
Schade.
Stefanie schaute über die Schulter. Gerade sprang hinten die Ampel um. Das Rotlicht hatte der Raupe eine Gnadenfrist gewährt. Aber jetzt fuhren die Autos an. War vielleicht ausreichend Zeit, um gefahrlos .?
Stefanie trat einen Schritt vom Bordstein, stellte sich breitbeinig auf die Fahrbahn und wedelte mit den Armen. Es war Platz genug, der Fahrer des roten Sportcabrios, das auf sie zurollte, ging sofort vom Gas und kam einige Meter vor ihr zum Halten.
Der junge Mann am Steuer mit der tief in die Stirn gezogenen Stoffkappe sah nett aus, fand Stefanie. Obwohl er sie mit seiner ganzen Aufmachung, vor allem mit dem weißen Hemd und der bunt gemusterten Seidenkrawatte, an den Bankangestellten erinnerte, mit dem sie vor wenigen Monaten über ein Darlehen für ihre Existenzgründung verhandelt hatte.
»Was ist passiert?«, fragte er, während die ihm folgenden Fahrzeuge eines nach dem anderen abbremsten. Sie waren ja alle erst im Anfahren begriffen gewesen, sie hatten keine Schwierigkeiten, zum Stehen zu kommen. Stefanies Rechnung war aufgegangen. Aber schon hupte einer der hinteren ungeduldig.
Ein Fahrer - vielleicht der Huper - kurbelte sein Fenster herunter und streckte weit den Kopf hinaus, wohl um die Ursachen für diesen unvorhergesehenen Stopp zu erkennen.
Der weit aus dem Fenster ragende und sich hin und her bewegende Kopf sah witzig aus, und Stefanie musste lächeln, während sie auf das rote Cabrio zuging.
»Da ist ein Tier auf der Fahrbahn«, sagte sie zu dem Mann mit der Kappe.
»Oh!«, meinte der Mann. »Das kann gefährlich werden! Hund? Katze? Wo ist das Viech?«
Er versuchte, an Stefanie vorbeizuschauen.
Sie nickte ihm beruhigend zu. »Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Sie wandte sich ab, ging zu der Raupe, bückte sich und zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche.
Wieder hupte es vom Ende der Schlange. Eine zweite Hupe fiel ein.
Jetzt stoppte auch auf der Gegenfahrbahn ein Auto. Neugierig schaute die Fahrerin zu ihr herüber. Das darauf folgende Auto musste bremsen und ebenfalls anhalten. Dessen Fahrer hupte ebenfalls sofort. Der allerdings bevorzugte Stakkato: kurze Signale mit noch kürzeren Pausen.
Das Hupen hatte offensichtlich eine ansteckende Wirkung; jetzt wollten mehr oder weniger alle Fahrer ihre Hupen vorführen. Die unterschiedlichen Temperamente zeigten sich in der Variation der Hupsequenzen, aber für das Resultat machte es keinen Unterschied: Der Lärm war ohrenbetäubend.
Stefanie, die wusste, dass Schwalbenschwanzraupen eine übel riechende Substanz absondern konnten, wenn...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.