Schweitzer Fachinformationen
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Gwin reißt aus
Es war einer dieser Abende im Herbst, die besonders dunkel waren. So, als versteckte er sich unter einer grauen Bettdecke. Der frühe Mond hing wie eine verstaubte Glühbirne am Himmel. Neugierig wühlten seine silbernen Strahlen sich durch die Regenwolken und erleuchteten einen Garten, der irgendwann einmal ein wilder Dschungel gewesen war.
Doch das war lange her.
Das Mondlicht fiel über Bäume und Büsche, die an frisch frisierte Pudel erinnerten. In der Wiese lag noch die Schere des Gärtners, der jeden Sonntag ungezogene Grashalme auf die richtige Länge stutzte: Zweieinhalb Zentimeter, so war es angeordnet.
Die milchweißen Wände des uralten Herrenhauses schimmerten gespenstisch in der Dunkelheit. Gold funkelte, als die Silberfinger des Mondes über Dach und Fenster tasteten. Suchten sie etwas?
Das Licht wanderte weiter. Über Säulen, goldene Fensterläden und Treppenstufen aus Marmor hinauf . bis es in das Maul eines Löwen blickte. Schnell huschte es weiter, weg von dem grimmigen Türklopfer und hinüber zu einem Türschild, auf dem in schnörkeligen Buchstaben ein Name geschrieben stand: Erlstein.
Herr und Frau Erlstein waren in aller Munde. Sie, ihre dreizehn beheizten Kloschüsseln und ihre diamantbesetzten Salatgabeln. Niemand schien zu wissen, dass noch jemand hinter den goldenen Fenstern schlief.
Vielleicht kümmerte es auch niemanden.
Gwin saß am Fenster, die Stirn gegen die kalte Scheibe gelehnt, und starrte nach draußen in den Regen. Vor dem Zaun sammelte sich das Wasser in schlammigen Pfützen am Straßenrand. Das Herbstlaub klebte wie buntes Kaugummipapier auf dem Asphalt. Eine Spatzenfamilie saß auf dem Fenstersims und zwitscherte dem Unwetter gehörig die Meinung. Drinnen aber war es so still, als hielte das Haus sich die Ohren zu.
Gwin zerrte an dem steifen Kragen ihrer Seidenbluse. Ihre Mutter hatte sie schon wieder viel zu eng zugeknöpft. Sie bekam ja fast keine Luft mehr!
Da sah sie eine Katze über die Straße huschen. Ein violetter Schatten jagte ihr nach. Ein . Umhang?
Nein, Katzen trugen keine Umhänge . oder? Gwin rieb sich die Augen, doch die Katze war längst in einer Seitengasse verschwunden.
Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr.
Dong! Dong! Dong! Dong! Dong!
Schweren Herzens schulterte Gwin ihren kleinen Rucksack, trottete die gewundene Treppe nach unten in die Eingangshalle und setzte sich auf die vorletzte Stufe.
Das Innere des Herrenhauses war noch protziger als seine Hülle. Drei schwere Kronleuchter baumelten von der Decke und malten mit ihrem Licht goldene Muster auf die Marmorfliesen. Rosen aus Bernstein rankten sich das Treppengeländer empor. Links und rechts neben der Eingangstür thronten zwei mannshohe Statuen mit Schwertern aus Elfenbein in den Händen. Der Elefantenkopf, dem dieses Elfenbein vor langer Zeit einmal gehört hatte, hing ausgestopft über dem Kamin. In den toten, leeren Augen flackerte nur der Widerschein des Feuers. Gwin sah ihn nicht an.
Klack. Klack. Klack.
Frau Erlstein kam in die Eingangshalle gestöckelt. In ihrem kunterbunten, mit Perlen bestickten Kleid hätte sie jeden Paradiesvogel-Wettbewerb gewonnen. Und das mit Ehrenurkunde! Herr Erlstein watschelte hinterdrein. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als seine Frau. In seinem glänzenden schwarzen Anzug wirkte er wie ihr zu kurz geratener Schatten. Gwin musste sich ein Kichern verkneifen.
Frau Erlstein trat vor den Garderobenspiegel und begann, ihre Frisur zu richten, die wie eine übergroße Zwiebel auf ihrem Kopf saß. Als sie Gwin hinter sich sitzen sah, hob sie ihre streichholzdünnen Augenbrauen.
»Liebes, willst du nicht endlich diesen Dschungel zähmen, der dir aus dem Kopf wächst?«
Gwin verdrehte die Augen. Ging das schon wieder los .
Herr Erlstein tüftelte derweil fleißig an dem Knoten seiner Krawatte. »Deine Mutter hat recht, Mäuschen«, stimmte er seiner Frau zu, wie er es immer tat. »Du verwandelst dich langsam in einen richtigen Zottelbären.«
Gwin strich ihre buschigen Locken zurück und zuckte wortlos mit den Schultern. Lieber zotteliger Dschungelbär als aufgetakelte Zwiebel.
Sie kramte in ihrem Rucksack herum und zog Federmappe und Malblock heraus.
»Oooh nein!« Frau Erlsteins schrille Stimme katapultierte beinahe den Stift aus Gwins Hand. »Keine Kritzeleien, du bringst nur wieder Farbe an die Ärmel! Na los, weg damit, hopp hopp!« Sie fuchtelte so dramatisch mit den Händen herum, als könnte sie Gwins Malsachen damit zum Verschwinden bringen. »Außerdem kommt Edith jede Minute, um dich abzuholen.«
Mit hochrotem Kopf stopfte Gwin Federmäppchen und Papier zurück in den Rucksack. »Ich brauch keinen Aufpasser«, murmelte sie.
»Hm?« Frau Erlstein wandte sich wieder ihrer Zwiebel zu. Ein Härchen leistete hartnäckig Widerstand, aber sie streckte es mit einer gewaltigen Sprühladung Haarspray nieder. Herr Erlstein, der neben ihr stand und die Chemiewolke direkt ins Gesicht bekam, schnappte röchelnd nach Luft.
Gwin ballte die Hände zu Fäusten. »Ich sagte, ich brauche keinen Aufpasser! Und schon gar nicht Tante Edith!« Der Name schmeckte wie saure Milch. »Die kann mir gestohlen bleiben!«
Frau Erlstein presste die Lippen zu einem fadendünnen Strich zusammen. Ihr Kopf färbte sich puterrot und machte das kunterbunte Federkleid perfekt.
Jetzt brüllt sie gleich los, dachte Gwin trotzig.
»Gwendolin .«
Frau Erlsteins Stimme klang überraschend sanft. Seufzend stöckelte sie durch die Eingangshalle und setzte sich neben Gwin auf die Treppe. Der Duft von Flieder und Nelken umnebelte sie. Gwin kannte dieses Parfüm nur zu gut. Es erinnerte sie an Türenknallen, an das Rattern des Automotors . und ans Alleinsein.
Frau Erlstein schob ihre Goldarmreifen zurück und drehte an ihren Ringen. Bestimmt hatten sie irgendwann einmal irgendeiner Pharaonin gehört. Gwins Eltern liebten es, kreuz und quer um den Globus zu reisen und uralte, funkelnde und vor allem teure Dinge zu kaufen. Wie Elstern, die ausschwärmten und irgendwann wieder vollbepackt mit Glitzerkram in ihr Nest zurückkehrten.
»Natürlich brauchst du einen Aufpasser«, sagte Frau Erlstein. »Du bist erst zehn. Und diese Welt ist nun mal kein Abenteuerspielplatz, auf dem Kinder tun und lassen können, was sie wollen.« Sie strich Gwin eine buschige Locke aus der Stirn. »Ich weiß, dass Edith nicht immer einfach ist, aber . tu, was sie sagt, dann kommt ihr schon gut miteinander aus, ja?«
Ohne Gwins Antwort abzuwarten, stand sie auf und stöckelte zurück zum Spiegel, um weiter an ihrer Zwiebel zu rücken.
Gwin war so wütend, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Nie hörte ihre Mutter zu! Nie!
Nicht immer einfach? Tante Edith war vollkommen und absolut unmöglich!
Das Einzige, was noch schlimmer war als sie, war ihr alter Gutshof. Und den kannte Gwin mittlerweile in- und auswendig. Wann immer Herr und Frau Erlstein auf Geschäftsreise gingen, ihre Elsternflügel ausbreiteten oder einfach nur ungestört Urlaub in der Südsee machen wollten - Gwin wurde bei Tante Edith abgeladen wie ein alter Wäschesack.
Der Gutshof lag am anderen Ende der Stadt und hatte einst Tante Ediths und Frau Erlsteins Ururgroßvater gehört. Jetzt regierte die Tante dort mit eiserner Faust. Arbeiter bestellten die Felder und kümmerten sich um die Tiere, während die Hausangestellten Tante Ediths grellbunte Rüschenkleider bügelten. Die Regentin selbst saß tagaus, tagein in ihrem pompösen Salon, schlürfte Tee aus winzigen Porzellantassen und schnauzte den Butler an, wenn er vergaß, ihren Sessel mit der Sonne zu verrücken.
Gwin kannte den Salon nur aus einer Perspektive: von draußen durchs Fenster. Die meiste Zeit verbrachte sie in der modrigen Scheune beim Stiefelputzen. Tante Edith besaß Hunderte Paar und eines müffelte abscheulicher als das andere. So, dass jedes anständige Stinktier vor Scham seinen Beruf an den Nagel gehangen hätte. Doch immer wenn Gwin sich über die Sklavenarbeit beschwerte, stellte ihre Mutter sich taub. Sie wollte einfach kein schlechtes Wort über ihre ältere Schwester hören.
Als Herr Erlstein endlich mit seinem Spezial-Krawattenknoten zufrieden war und auch die Zwiebel seiner Frau »Zum Anbeißen!« fand, nahmen die beiden ihre tonnenschweren Koffer und spazierten zur Tür.
»Edith wird in einer Viertelstunde da sein!«, rief Frau Erlstein über ihre Schulter. »Und Gwendolin - ich will, dass du dir Mühe gibst, ja? Wir sehen uns nächste Woche. Tschüss!«
Und - rumms! - knallte die Tür ins Schloss.
Gwin hörte, wie das Auto vom Hof ratterte. Dann war sie allein. Die Uhr über der Anrichte zeigte kurz nach fünf.
Eine Viertelstunde .
Sie sah aus dem Fenster, wo der Regen immer heftiger prasselte. Es war nicht weit bis in Stadt .
Sie überlegte genau zwei Sekunden, bevor sie die Treppe nach oben in ihr Zimmer preschte. Sollte Tante Edith ihre Käsestiefel doch selbst putzen!
In Windeseile schälte Gwin sich aus der steifen Bluse, schlüpfte in ihr Lieblingskleid und warf sich eine Jacke über. Zurück in der Eingangshalle durchwühlte sie die Schubladen der Garderobe. Vielleicht hatte ihr Vater wieder sein Handy vergessen! Im Gegensatz zu ihrer Mutter war er ziemlich schusselig. Letztes Mal hatte Gwin es eingesteckt und anstatt Stinkstiefel zu putzen lieber heimlich Videos im Internet geschaut. Jetzt wäre das Ding mindestens genauso nützlich. Sie suchte und wühlte - aber vergebens. Vermutlich hatte Frau Erlstein diesmal die Koffer gepackt.
Gwin...
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