Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am Morgen des 7. April 1977 bin ich schon früh unterwegs, sehr früh. Ich habe wie so oft die Aufgabe, einen Kassiber aus dem Knast zu den im Untergrund lebenden Mitgliedern der RAF zu bringen, diesmal nach Amsterdam. Wer von den RAF-Gefangenen ihn geschrieben hat, was drinsteht - das weiß ich nicht. Aber was von den Stammheimern, also von den damals in der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Gefangenen der RAF (Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Irmgard Möller) kommt, ist immer wichtig. Ihre Befehle werden sofort ausgeführt. Und ich selbst, die diesen Botengang machen soll, fühle mich ebenfalls wichtig.
Ich habe die Reise sehr genau geplant. Als Mitarbeiterin der Verteidiger der Gefangenen stehe ich unter Beobachtung des BKA. Ich muss sicher sein, dass ich eventuelle Verfolger abgeschüttelt habe, bevor ich die Illegalen treffe, denn die müssen sich auf mich verlassen können. Also wälze ich das Kursbuch der Bahn, ein dickes Buch, das ich auf meinen Reisen fast immer dabeihabe. Ich suche Verbindungen heraus, die es meinen möglichen Verfolgern schwer machen sollen. Das ist logistisch eine ziemliche Herausforderung, zumal ich zu einer bestimmten Zeit am Treffpunkt sein muss. Die Fahrten sind zeitaufwendig, weshalb ich an diesem Donnerstag schon seit fünf Uhr unterwegs bin. Ich fahre nicht zum ersten Mal nach Amsterdam. Von Stuttgart aus geht es erst einmal Richtung Hamburg, das ist unverdächtig. Auf der Strecke steige ich irgendwo aus, fahre dann in eine andere Richtung, wechsle zum Regionalverkehr, bis ich dann irgendwann in Herzogenrath an der Grenze zu den Niederlanden ankomme. Inzwischen bin ich sicher, dass mir niemand gefolgt ist.
Ich steige in den lokalen Bus, der nach Kerkrade fährt, dem Ort direkt hinter der Grenze. Es ist der sogenannte Hausfrauenbus, der von der Grenzpolizei so gut wie nie kontrolliert wird, weil eben vorwiegend Frauen drinsitzen, die zum Einkaufen in die Niederlande fahren. Unter den wenigen Mitreisenden falle ich nicht auf. Das kleine Stück Papier mit der wichtigen Botschaft steckt im BH und ist zudem verschlüsselt. Ich habe keine Angst und fühle mich ziemlich sicher. Ich sehe harmlos und unverdächtig aus, davon bin ich überzeugt. Von Kerkrade aus nehme ich den nächsten Zug nach Amsterdam zum verabredeten Treffen mit den Illegalen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich mit ihnen zu verabreden. Die erste ist einfach: Ich arbeite nachts bei der Telefonauskunft der Post in Hamburg. Zu dieser Zeit arbeiten nicht viele und wenn, dann sind es Studenten, die ich kenne. Wenn also ein privater Anruf für mich ankommt, werde ich informiert, kann mit dem Anrufer sprechen - und bin im Bilde. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich abgehört werde. Die andere Methode ist kompliziert. Es gibt zwei Gaststätten in Stuttgart und Hamburg, in die ich jeweils an einem bestimmten Tag in der Woche zu einer festgelegten Zeit gehen kann. Mein falscher Name ist dort bekannt. Ich sitze und warte, bis ein Anruf kommt. Im Gespräch wird mir dann das Land oder die Stadt, in die ich kommen soll, zwar nicht direkt genannt, aber umschrieben. Der genaue Treffpunkt wird nicht erwähnt, denn das ist immer der »Wienerwald« - den gibt es damals in jeder größeren Stadt.
Ich komme rechtzeitig in Amsterdam an. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, und ich gehe direkt zum Wienerwald in der Nähe des Bahnhofs - dass dies der Treffpunkt ist, ist wahrscheinlicher wegen seiner Lage. Wen ich treffen werde, weiß ich nicht. Ich habe mit der Zeit schon einige der Illegalen kennengelernt. Aber erst einmal ist niemand da. Das ist ungewöhnlich. Ich warte eine ganze Weile. Vielleicht sind sie doch in dem zweiten Wienerwald? Der liegt mitten in der Stadt. Ich frage mich durch, es ist ziemlich weit. Aber auch dort ist niemand. Also wieder zurück, langsam werde ich nervös. Ich habe mich gerade auf die Terrasse gesetzt, da kommen zwei Frauen, Sieglinde Hofmann und Brigitte Mohnhaupt. Ich freue mich, Sieglinde zu sehen. Sie war - wie ich - Mitglied im »Komitee gegen Folter«, bei gemeinsamen Aktionen hatten wir uns kennengelernt. Diese Komitees waren nach der Verhaftung von Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Holger Meins in mehreren Städten gegründet worden, um die Gefangenen der RAF im Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart-Stammheim mit aktuellen, meist politischen Infos zu versorgen, sie bei ihren Hungerstreiks zu unterstützen und gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Dabei spielten die Anwaltskanzleien, die die Gefangenen verteidigten, eine wichtige Rolle.
Brigitte treffe ich zum ersten Mal. Sie ist erst vor Kurzem aus der Haft entlassen worden und kennt die Stammheimer Gefangenen persönlich. Schon allein deshalb habe ich großen Respekt vor ihr. Ich kenne sie nur von Bildern. Jetzt sitzt sie mir gegenüber, eine kleine Frau, die gerade fünf Jahre Knast hinter sich hat. Ich bin voller Bewunderung und neugierig. Aber das lasse ich mir nicht anmerken.
Sieglinde und Brigitte entschuldigen sich für ihre Verspätung, aber sie haben einen guten Grund: Ihre Aktion war erfolgreich - Generalbundesanwalt Siegfried Buback ist tot! Die beiden wollten erst sicher sein, dass ihre Leute in Sicherheit sind. Natürlich weiß ich, wer Buback ist. Bin ich entsetzt? Will ich genauer wissen, wie die Aktion gelaufen ist? Nein. Er ist verantwortlich für den Tod von Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof, sagt die RAF. Und was sage ich? Ich nehme ihn hin, diesen Mord.
Heute, mit dem Abstand von über vier Jahrzehnten, kann ich mein damaliges Verhalten noch immer nicht begreifen. Am 47. Jahrestag des Anschlags auf Siegfried Buback lese ich im Internet noch einmal den Ablauf dieser brutalen Tat, lese den Namen des Fahrers und den des Polizisten. Drei Menschen wurden erschossen. Und was machte ich? Just an jenem Apriltag im Jahr 1977 entschloss ich mich, Mitglied der RAF zu werden. Warum? Was war mit mir los? Diese Fragen beschäftigen mich mein Leben lang. Auch an diesem 7. April 2024 kann ich nicht einschlafen, denke zurück an diesen für mich und mein weiteres Leben entscheidenden Tag. Warum habe ich die Information von der »erfolgreichen« Aktion einfach so hingenommen, warum habe ich nicht einmal wissen wollen, wie genau sie abgelaufen ist?
Auf der Terrasse des Wienerwald in Amsterdam bin ich vor allem froh, die beiden Frauen zu sehen. Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Wort, aber wohl daran, dass sie gut drauf waren, schließlich ist es die erste gelungene Aktion, die diese neu gebildete Gruppe legitimieren konnte, sich mit Billigung der in Stammheim einsitzenden Gefangenen von nun an RAF zu nennen. Brigitte und Sieglinde haben nicht viel Zeit, sie müssen wieder los. Aber sie fragen mich tatsächlich, ob ich denn nicht gleich bei ihnen in Amsterdam bleiben wolle, es sei ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis ich verhaftet werden würde. Die Frage schmeichelt mir, und sie kommt nicht überraschend. Sie wurde mir schon vor ein paar Wochen gestellt. Da hatte mich während meiner Arbeit bei der Telefonauskunft ein Hilferuf erreicht. Ich sollte umgehend in die Schweiz kommen und dort jemanden treffen. Es lief wie immer: Hastig den Dienst tauschen, von irgendwoher Geld für die Reise beschaffen, Kursbuch wälzen, früh losfahren, umständliche Absetzbewegungen machen und schließlich in der ausgemachten Kneipe in Genf ankommen und warten. Es kamen Knut Folkerts und Rolf Heißler. Sie saßen fest. Für sie sollte ich einen sicheren Grenzübergang nach Frankreich finden.
Sofort machte ich mich an die Arbeit, besorgte mir genaue Karten der Grenzregion und erkundete einen möglichst sicheren Übergang. Ich übernachtete im selben Hotel wie die beiden. Als wir abends zusammensaßen, hatten sie mich gefragt, warum ich nicht gleich mit ihnen mitkommen würde. Da war sie gewesen, die Frage, die sich schon lange angekündigt hatte. Damals hatte ich Einwände, fühlte mich nicht mutig und gut genug, um einfach mitzumachen.
»Meinst du, wir haben keine Angst?«, hatten die beiden gesagt. Das machte mich sicherer. Warum eigentlich nicht, fragte ich mich selbst nach diesem Gespräch, als ich mühsam versuchte, die Zeit bis zum ersten Zug nach Deutschland im Bahnhofsklo in Zürich zu verbringen, und übernächtigt nach Hamburg eilte, weil ich meinen Job nicht verlieren wollte. Ich hatte schon lange kein »normales« Leben mehr, hatte mich von Freunden und sogar den Komiteeleuten entfernt. Ständig war ich auf Reisen, organisierte meine Nachtschichten bei der Telefonauskunft so, dass ich jederzeit Aufträge für die Gruppe übernehmen konnte, war immer allein unterwegs, immer im Bewusstsein, dass die Polizei mich überwachte. Seit der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 war klar, dass die Mitglieder der Komitees gegen Folter unter Verdacht standen, sich früher oder später an Terroraktionen zu beteiligen. Bei den Illegalen fühlte ich mich sicher, hatte das Gefühl, endlich auf der richtigen Seite angekommen, nicht mehr allein zu sein. Ja, ich konnte sogar Verantwortung abgeben, weil die anderen ja wussten, was getan werden musste.
Jetzt hier in Amsterdam stellt mir sogar Brigitte die Frage. Ich fühle mich geschmeichelt, wertgeschätzt. Als sie mich fragt, ob ich nicht in Amsterdam bleiben wolle, sage ich »Ja« und höre ihr zu. Sie beschreibt mit drastischen Worten, was Illegalität bedeutet. Ich nehme zwar wahr, wie sie spricht, welche Worte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.