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»Bei >Fräulein Stein< muss ich mir überlegen, was das für ein Ding ist.«
»Je länger dieser Sommer 1933 dauerte, umso unwirklicher wurde alles. Die Dinge verloren mehr und mehr ihr volles Gewicht, verwandelten sich in skurrile Träume.«1, schrieb Sebastian Haffner 1938 im Rückblick. Es war der Sommer, in dem Edith Stein, sechzehn Jahre älter als Haffner, aber nicht weniger preußisch als er, das letzte Mal ihre Heimat und ihre Mutter besuchte. Aus Sicht Edith Steins war es vor allem ihr letzter Sommer als Edith Stein. Es ist das Jahr, in dem sich das Schicksal Deutschlands, aber auch Edith Steins Bestimmung entscheiden sollte.
Ein halbes Jahr zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die große Transformation, die von den Nationalsozialisten angestrebt wurde, nannten sie pompös nationale oder nationalsozialistische Revolution. Doch das falsche Pathos und der Begriffsbombast übertönte nur die Zerstörung der Kultur, erwies sich bei näherem Hinhören nur als Tosen der Wellen des Irrationalismus, wie sie von Zeit zu Zeit in der Geschichte die menschliche Vernunft unter sich begraben. Diese tiefgreifenden, radikalen Veränderungen zwangen auch Edith Stein, Lebensentscheidungen zu treffen. Was sich vor ihren Augen ereignete, war kein schlichter Regierungswechsel, sondern der 1918 eingeleitete und sich nun vollziehende Zusammenbruch der Kultur und der Gesellschaft in Deutschland.
Durch das Ermächtigungsgesetz, dem auch das katholische Zentrum zustimmte, wurde Hitler zu einem scheindemokratischen Diktator, die Schlägerbanden der SA zur Hilfspolizei gemacht, der Terror gegen Andersdenkende eröffnet und die Juden diskriminiert und an Leib und Leben bedroht. Deutschland versank in einem Paroxysmus des Hasses. Am 1. April 1933 organisierten die Nationalsozialisten den ersten Boykott jüdischer Geschäfte, wenig später wurde Unrecht unter dem demagogischen Titel »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« kodifiziert, das unter anderem vorschrieb, jüdische Beamte, sofern sie nicht Kriegsteilnehmer waren, in den sofortigen Ruhestand zu versetzten. Als Edith Steins erster Philosophielehrer, Richard Hönigswald, inzwischen weithin geschätzter Ordinarius in München, aufgrund dieses Gesetzes, wie es euphemistisch hieß, in »den Ruhestand versetzt« werden sollte, protestieren seine Kollegen der Philosophischen Fakultät I, außerdem 13 ordentliche Professoren verschiedener Universitäten, zudem zwei italienische Gelehrte, deren einer der ehemalige faschistische Erziehungsminister Italiens Giovanni Gentile war. Erst drei Negativgutachten, eines von ihnen wurde von Martin Heidegger verfasst, gaben der verunsicherten bayerischen Staatsregierung die Grundlage zur Abberufung Hönigswalds. Heidegger, der Edith Stein in der Assistenz Husserls 1918 nachgefolgt war, denunzierte den Kollegen: »Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes Bewusstsein überhaupt und dieses schliesslich verdünnt zu einer allgemein logischen Weltvernunft. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut . Es kommt aber hinzu, dass nun gerade Hönigswald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht. Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaftlichkeit erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat. Ich muss auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen, der nur darin seine Erklärung findet, dass das katholische System solche Leute, die scheinbar weltanschaulich indifferent sind, mit Vorliebe bevorzugt, weil sie gegenüber den eigenen Bestrebungen ungefährlich und in der bekannten Weise >objektiv-liberal< sind.«2 Nicht nur, dass Heidegger den Katholizismus als seine Herkunft denunzierte, der Philosoph argumentierte im Grunde wie diejenigen, die den Philosophen Sokrates, der angeblich die Jugend verdarb, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt hatten. Für seinen Lehrer Edmund Husserl tat der Rektor Heidegger nichts, auch ignorierte er ihn nach 1933, da Husserl jüdischer Herkunft war. Nicht nur für Edmund Husserl begann 1933 die Zeit der Isolation, der Ausgrenzung, der Herabwürdigung. Auch der erfolgreiche Holzhandel der Mutter seiner ehemaligen Assistentin wurde durch Boykott ruiniert und in ihrem großen Haus standen Wohnungen leer, für die Auguste Stein keinen Mieter fand. In einem Brief an die Freundin Hedwig Conrad-Martius schrieb Edith Stein am 5. April 1933 die bedrückenden Worte: »Meine Lieben in Breslau sind natürlich sehr erregt und bedrückt. An unserem Geschäft macht es leider seit langem keinen Unterschied, ob es geöffnet ist oder nicht. Auch mein Schwager erwartet täglich seine Entlassung (Oberarzt an der Universitätshautklinik). Kuznitzky hat seine Stellung als Chef der Hautstation eines städtischen Krankenhauses bereits verloren. Jeder Brief enthält neue schlimme Nachrichten.«3 Die Verhältnisse in Deutschland verdüsterten sich.
Der komplette Zusammenbruch der Kultur, des Rechts und der Demokratie vollzog sich gründlich und so schnell, weil die Staatsorgane zuvor ihre Legitimität selbst infrage gestellt hatten. Das böse Wort von der Honoratiorenrepublik machte die Runde. Vor dem Hintergrund der als alte, ergraute, dekadente Honoratiorenrepublik geschmähten Republik vermarkteten sich die Nationalsozialisten geschickt als revolutionär, modern, dynamisch, jung, als Hoffnung und Aufbruch und vor allem als diejenigen, die Deutschlands Demütigung beenden werden. Eine Regierung kann zwar gestürzt werden, aber niemand vermag die Organe des Staates zu delegitimieren - außer die Organe des Staates selbst. Grundlegende Veränderungen in Verfassung und Wesen des Staates treten nur ein, wenn zuvor die Organe des Staates sich selbst delegitimiert haben, wenn in der Hauptsache zwei äußerst komplexe und häufig ineinander verschränkte Prozesse stattfinden: Den Organen des Staates, wozu in der Demokratie Parlament, Regierung und Justiz zählen, misslingt erstens der Interessenausgleich zwischen wesentlichen Gruppen der Gesellschaft und zweitens die Staatsorgane setzen ihre eigene Legitimität außer Kraft, indem sie das Recht nicht mehr achten, aus dem sie ihre Vollmacht herleiten. Das alles ereignete sich zwischen 1929 und 1933, in der Notverordnungszeit in Deutschland, die eingeleitet wurde durch die famose Idee der SPD, ihren eigenen Reichskanzler zu demontieren. Es ist - aus welchen Gründen auch immer - zuallererst die Regierung, die den common sense praktisch aufkündigt und gewollt oder ungewollt signalisiert, dass nun alles möglich ist. Ab diesem Zeitpunkt ist dann auch alles möglich.
Nach dem Preußenschlag, dem Schlag gegen den Föderalismus, der in Deutschland traditionell zur Gewaltenteilung gehört, der Entmachtung der demokratisch gewählten Regierung des Landes Preußen durch den Reichspräsidenten per Notverordnung am 20. Juli 1932, durch den die legale Regierung des Freistaates Preußen durch den Reichskanzler Franz von Papen (Zentrum) als Reichskommissar ersetzt wurde, und überhaupt nach drei Jahren Notverordnungen war die Zeit 1933 für das Ermächtigungsgesetz reif. Ab dem 30. Januar 1933 wurde dann sukzessive und mit erstaunlich schnellem Tempo die Republik aufgelöst. Der Zeitzeuge Curzio Malaparte schrieb schon 1932 in seinem hellsichtigen Buch Technik des Staatsstreiches, dass für Hitler die »Eroberung des Staates . nur durch die Eroberung des Reichstages vorstellbar« ist4, weil er weiß, dass »er sich auf diese Weise Sympathien immer größerer Wählermassen sichert und für sein politisches Programm die Zustimmung der großen Mehrheit des Kleinbürgertums gewinnt, die er braucht, um die gefährliche Rolle des Catilina aufzugeben und die ungefährliche eines plebiszitären Diktators zu übernehmen.«5 Das erinnert an den Ausspruch, der Wladimir Lenin zugeschrieben wird: »Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!« Malaparte vermutete, dass die Erringung politischer Macht in Deutschland nur über die Gewinnung des juste milieus erfolgt. Alles hatte ordentlich zu geschehen, auch das Ende der Ordnung. Die Figur des »plebiszitären Diktators« ist eine interessante, besonders in Deutschland beliebte, politische Figur. Malaparte wagte 1931 einen Blick in die Zukunft, der sich bestätigen sollte: »Wie alle Diktatoren liebt Hitler nur die, die er verachten kann. Sein Ehrgeiz ist, eines Tages das ganze deutsche Volk im Namen der Freiheit, des Ruhms und der Macht Deutschlands zu verderben, demütigen und knechten zu können.«6 Wie schleichend der Vorgang in den beginnenden Dreißigerjahren, wie der vollständige Zusammenbruch sowohl der politischen Linken, als auch des bürgerlichen Lagers vor sich ging, schilderte der junge Raimund Pretzel 1938 im Rückblick im englischen Exil. Der Journalist, der unter dem Pseudonym Sebastian Haffner berühmt werden sollte, schrieb in seinem posthum veröffentlichen Buch Geschichte eines Deutschen: »Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu...
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