Schweitzer Fachinformationen
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I
Der kleine Strauß bunter Papierblumen in der Mädchenhand zittert. Rosl hat jede einzelne Blüte mit Sorgfalt angefertigt, als Gabe für die liebe Muttergottes, die sie in der Lourdesgrotte im kleinen Kirchlein nicht weit von ihrem heimatlichen Hof verehrt. Doch als sie heute zur Kirche kommt, ist die Grotte herausgerissen und steht fremd unter dem Himmel, ebenso wie die Gebetbänke und der Altar. Viel lärmendes Volk macht sich in der Kirche zu schaffen.
Es ist das Jahr 1923. Längst ist die romanische Welt versunken, in der die Fresken entstanden. Jahrhundertelang lagen sie unter Übermalungen verborgen. In dieser Zeit änderte die ländliche Welt nur langsam ihr Gesicht - die romanische Sprache wurde vom Deutschen immer weiter in den Westen gedrängt, bis sie nur noch in einigen zerklüfteten Alpentälern der Schweiz überlebte. Der schmale Streifen menschlichen Lebens wurde zunehmend größer. Die Wälder wichen Almen, Äckern und Wiesen und verloren ihren Schrecken. Und selbst die Etsch, dieser wasseratmende Lindwurm, ist nun gezähmt und eingepfercht, "reguliert", wie es heißt, dem menschlichen Willen unterworfen. Der langsame Strom der Zeit beginnt sich zu beschleunigen, und was zuvor in Jahrzehnten und Jahrhunderten geschah, wird jetzt in wenigen Jahren erzwungen. Die dreizehnjährige Rosl mit ihren vollen, roten Backen und dem blanken, immer ein wenig verwunderten Katzenblick hat noch nicht viel davon bemerkt. Jetzt aber, im Angesicht des aus seinem angestammten Platz herausgerissenen Altars und der umgestürzten Heiligenfiguren, die im Gras liegen, fährt ihr der Schmerz des Fortschritts in die Glieder. Ihre Finger schließen sich fester um den Papierblumenstrauß. Es ist nicht recht, was hier geschieht, das spürt Rosl mit jeder Faser ihres Körpers. Sie dreht sich um und läuft den schmalen Pfad zurück, den sie gekommen ist, hinauf zu ihrem Heimathaus, dem Sunnpichler Hof. Sie möchte ein großes Geschrei anheben, eine wilde Anklage gegen die Verletzung des Heiligsten, aber jeder Ton in ihrer Kehle erstirbt, als sie ihren Vater sieht, der mit großen Schritten aus dem Heustall kommt. Er ist ein untersetzter, düsterer Mann, der Sunnpichl-Bauer, der allen seinen Kindern die hellen blauen Augen vererbt hat, die seinem finsteren Gesicht einen seltsam eisigen Glanz verleihen. Rosl wagt in seiner Nähe kaum zu atmen. Wie angewurzelt bleibt sie vor ihm stehen, den Mund halb geöffnet. Er sieht sie kaum an und geht an ihr vorbei ins Haus. Kurz danach kommt sein Bruder Willi aus dem Heustall und klopft sich den Staub aus dem Hemd. Als er Rosl sieht, bleibt er stehen. Lacht.
"Ja, Rosl, was ist denn mit dir? Hast du einen Geist gesehen?"
Da sprudelt es aus Rosl heraus. Die Muttergottes! Rausgeworfen! Der Altar! Die Grotte! Die Bänke, die Heiligenstatuen, alles hat man aus der Kirche entfernt!
Willi hört aufmerksam zu, nickt. Also haben sie begonnen.
Er legt seine Hand auf Rosls Schulter, drückt sie sanft. Sei unbesorgt, Kind. Es hat seine Richtigkeit. Dann fügt er freundlich hinzu: "Und die schönen Blumen? Schenkst du sie mir?"
Als später alle um den Esstisch sitzen, ist es Rosl, als verstehe sie zum ersten Mal, was die Erwachsenen reden.
"Ich habe es euch gesagt, dass es mit diesen Welschen kein gutes Ende nehmen wird."
"Ach was, diese Arbeiten haben sie doch noch vor dem Krieg beschlossen. Die Unsrigen hätten genau dasselbe getan."
"Es sind aber keine Unsrigen mehr."
"Deswegen muss es nicht falsch sein, was sie tun. Wenn nun etwas Wertvolles gefunden wird."
"Dann werden sie es italienisieren wie alles andere auch. Wir kennen doch das welsche Diebsgesindel."
Rosl hat den Vater schon oft hasserfüllt von den neuen italienischen Herren sprechen hören, die sich nach Kriegsende des Landes bemächtigt haben. Bisher war es ein fremder, unverständlicher Hass für sie. Doch nun fühlt sie erstmals, wie er auch in ihr zu sengen beginnt, ein glühender Schmerz, der alles niederbrennen will. Beim Nachtgebet wird sie Gott für diesen Hass danken, der sie von nun an mit dem gefürchteten Vater verbindet.
Papierblumen bastelt sie von diesem Tag an keine mehr.
II
Bald spricht es sich im ganzen Dorf herum: In der Prokuluskirche ist eine Sensation entdeckt worden, uralte Fresken von großem Wert. Noch streiten sich die Gelehrten aus Innsbruck und Trient um die Details. Verbindungen zu Irland und St. Gallen sehen die einen, zu Verona die anderen - der Kulturkampf, der in Südtirol entbrannt ist, ergreift auch die Wissenschaften. Auch Naturnser Gelehrte mischen sich in die Debatte ein, zuvorderst August Kleeberg. Für den Herrn von Schloss Hochnaturns und Präsidenten der neu gegründeten "Sanct Prokulus-Bruderschaft" ist klar: Die Fresken stammen aus dem 8. Jahrhundert und sind somit die ältesten im deutschen Sprachraum. Denn hier, in Naturns, und darum geht es ihm, ist deutscher Sprachraum, deutsche Kultur, deutscher Boden seit alters. Es ist eine neue Selbstwahrnehmung, die hier entsteht. Wenige Jahre zuvor hatte Südtirol noch zum österreichischen Kaiserreich gehört, einem multikulturellen Imperium, in dem über ein Dutzend Sprachen gesprochen wurden, drei davon allein in Tirol. Menschen aus Österreich, Ungarn, Böhmen, der Bukowina, aber auch aus Istrien, Triest, weiten Teilen Norditaliens bewegten sich frei in diesem riesigen Gebiet. Auch in Naturns weht noch in den Zwanzigerjahren der Geist dieses Vielvölkerstaates: Seit 1915 bewirtschaften Trappistenmönche aus Banja Luka in Bosnien den Unterhilbhof und stellen ihren weit über das Dorf hinaus begehrten Trappistenkäse her. Doch seit dem Ende des Weltkriegs ist Tirol geteilt - Südtirol steht nun unter italienischer Flagge. Und seit 1923 ist das Wort Tirol in allen seinen Formen verboten; Hochetsch muss es jetzt heißen, auf Italienisch Alto Adige. Den Menschen, die sich ihrer altösterreichischen Identität beraubt sehen, bleibt nur noch eines als Mittel der Abgrenzung gegen die neuen Herren im Land: die Sprache. Mit ihr manifestieren die Südtiroler ihre Eigen- und Widerständigkeit. Kaiser und Vaterland mögen sie verloren haben, doch ihr "Deutschtum" ist ihnen geblieben, jener mit "germanischem" Überlegenheitsdünkel getränkte Begriff, der schon im Habsburgerreich das Zusammenleben vergiftete. So ist es wenig erstaunlich, dass auch die Fresken, die unter der Leitung von Giuseppe Gerola vom Ufficio Belle Arti aus Trient freigelegt wurden, für die Südtiroler von Anfang an ganz klar vor allem eines sind: keltisch-irisch oder eben: deutsch. Wenn auch ein wenig hässlich, wie die Naturnser enttäuscht feststellen müssen, die den Sensationsfund zum ersten Mal erblicken. Im Sunnpichler Hof zumindest ist man sich einig: Man hätte die vorherigen Fresken ruhig an ihrer Stelle belassen können, statt sie für diese älteren Malereien abzutragen. Naive Strichzeichnungen seien das, mehr nicht. Pater Coelestin, ein Vetter der Sunnpichler Bäuerin, der häufig zu Besuch weilt, hebt die Augenbrauen und setzt zu einer kurzen erbaulichen Belehrung der um den Esstisch Versammelten an. Erst jetzt, doziert er, erkenne man so recht die eigentliche Schönheit der vormaligen Ausstattung des Kirchleins, nämlich im Vergleich zu den nunmehr zum Vorschein gekommenen Kritzeleien einer primitiveren Kunst. Willi hält dagegen. So schlecht seien sie nicht, diese mit wenigen Linien umrissenen Gesichtszüge und schematischen Körper. Das sei doch jetzt geradezu modern, in Paris und Berlin, das sei die aktuelle Kunst von Weltruf. Coelestin verzieht das Gesicht. Von diesen zeitgenössischen Schmierfinken hält er nichts. Jedes Kind könne es besser als diese Herren Picasso und Klee und wie sie alle hießen. Man solle sich doch besser an die akademischen Künstler der klassischen Schule halten. Ja, in Gottes Namen, haucht die Sunnpichlerin. Mit diesem ergebenen Stoßseufzer pflegt sie die Gespräche der Männer zu beschließen, ehe sie den Tisch abzuräumen beginnt. Der Sunnpichler Bauer ist über die Unterbrechung nicht unglücklich. Ihn langweilt das hochgestochene Geschwätz des Paters ebenso wie die Großspurigkeit seines Bruders, der sich für den Kunstverständigen am Hof hält, nur weil er bei der Dilettantenbühne vor leeren Rängen den Hanswurst gibt. Dass er dafür nicht nur in der Familie, sondern auch im Dorf wenig Ansehen genießt, weiß Willi spätestens seit der durchgefallenen Aufführung von "Doktor Fausts Hauskäppchen" am Tag von Christi Himmelfahrt 1922. Auf halb neun war die Premiere angesetzt, doch erst um Viertel nach neun fanden sich einige wenige Zuschauer ein, die überhaupt erst eine Vorführung ermöglichten. Seither genügt es, wenn der Sunnpichler Bauer seinen Bruder spöttisch als "Doktor Faust" anspricht, um Willi verlässlich zur Weißglut zu treiben.
Sie sind sonst keine Luftikusse, die Sunnpichler Leute. Einfach und fromm, arbeitsam und anständig, so führen der Sunnpichler Sepp und seine Moidl Hof und Haushalt. Sie dulden keine Extravaganzen und Überspanntheiten, weder beim Gesinde noch bei den Kindern. Von den acht, die sie geboren hat, sind Moidl sechs geblieben, und alle werden mit derselben Strenge zu Fleiß und Tüchtigkeit erzogen. Sepp, der Älteste, hat mit seinen knapp achtzehn Jahren schon das kantige Gesicht eines Erwachsenen, und er spricht zu seinen Geschwistern im selben forschen Befehlston wie der Vater. Gottl, der mittlere Sohn, ist gehorsam und nach innen gekehrt. Pfarrer möchte er werden, doch er kann mit seinen vierzehn Jahren immer noch kaum lesen und schreiben. Dafür weiß er alle Gebete auswendig....
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