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»Ich habe nicht vor zu sterben.«[85]
Sergey Brin
Jedes Zeitalter hat sein Menschenbild. Das Mittelalter hatte eine vollkommen andere Antwort auf die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, als die Antike oder die Renaissance. Die Antwort, die sich der Mensch auf diese Frage gibt, hat Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen, was für eine Gesellschaftsform wir als gerecht empfinden, was wir als moralisch richtig oder falsch ansehen, was wir im Leben anstreben, welche Ziele wir uns setzen und was wir als gutes Leben bezeichnen. Unser Menschenbild steckt in allem drin, was wir denken und tun, folglich spiegelt sich auch sein Wandel in allem, was wir denken und tun.
Nehmen wir als Beispiel die Art und Weise, wie der Mensch in der Kunst dargestellt wird. Der Historiker John Hirst hat in einer einfachen wie einprägsamen Gegenüberstellung deutlich gemacht, wie sich das menschliche Selbstverständnis im Verlauf der Epochen gewandelt hat:
Dar. 3: Selbstdarstellungen des Menschen (Quelle: John Hirst, Die kürzeste Geschichte Europas, S. 41)
Diese Gegenüberstellung zeigt unmittelbar, dass das Menschenbild der Renaissance trotz der größeren zeitlichen Distanz eine viel größere Nähe zur Antike hat als zum Mittelalter. Doch sie zeigt noch mehr. Sie vermittelt einen Eindruck davon, wie sich das Selbstbild verschoben hat. In der Antike und in der Renaissance wird der Mensch als Akt dargestellt. Der Mensch erscheint in idealisierter Gestalt. Seine Körperlichkeit ist wesentlicher Teil seiner selbst und wird als schön und kraftvoll dargestellt. Die mittelalterliche Darstellung ist kein Akt, sondern eine Darstellung von Nacktheit. Anders als ein den Körper feiernder Akt ist ein nackter Mensch ein entblößter Mensch, der sich seiner Körperlichkeit schämt und sie zu verdecken versucht. Hier scheint ein gänzlich anderes Selbstverständnis auf, in dem der Körper mit seinen Begierden und Trieben zum Ort der Sünde geworden ist.
So wie in der Kunst findet sich unser Menschenbild in allem, was wir denken und tun, wieder. Der Philosoph Immanuel Kant postulierte, es gäbe drei Grundfragen allen Nachdenkens über die Welt: 1.) Was kann ich wissen? 2.) Was soll ich tun? 3.) Was darf ich hoffen? Während die erste Frage die Möglichkeit und Reichweite menschlicher Erkenntnis hinterfragt, führt die zweite Frage in das Feld der Ethik und zu dem Streben nach gutem menschlichen Handeln. Die dritte Frage berührt die »letzten Dinge« und führt in das Feld der Metaphysik. Etwas später fügte Kant noch eine vierte Frage hinzu. Diese, so Kant, gehe allen anderen Fragen voraus. Sie lautet: »Was ist der Mensch?«[86].
Was Kant damit meint, ist, dass jedes Nachdenken über die Welt immer auf einem bestimmten Menschenbild aufbaut, und dass dieses Menschenbild die Möglichkeiten des Denkens vorstrukturiert. So kann man beispielsweise nicht darüber nachdenken, was gutes menschliches Handeln ist, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was »menschlich« sein bedeutet. In der Regel ist das Menschenbild eine implizite und nicht bewusst ausformulierte Voraussetzung des Denkens. Bisweilen wird sie, wie etwa im Bild des Homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften, auch expliziert. Implizit oder explizit: Unser Selbstbild ist unserem Denken immanent.
Dass wir dabei sind, ein neues Zeitalter zu betreten, können wir auch daran erkennen, dass wir im Begriff sind, ein neues Verständnis unserer selbst, zu entwickeln. Um besser zu verstehen, welche Verschiebungen hierbei im Gange sind, lohnt es sich, einen konkreten Menschen anzuschauen.
Schauen wir uns den Menschen Neil Harbisson an.
Während ich diese Zeilen hier schreibe, ist Neil Harbisson 40 Jahre alt. Er wurde mit einer seltenen Form der Farbblindheit, der Achromatopsie, geboren, bei der man nur Abstufungen von grau sehen kann. Das war für Neil ein unbefriedigender Zustand, und da es keine Behandlung für diese Krankheit gibt, hat er sich selbst an die Arbeit gemacht und einen Sensor gebaut, der Farben erkennen und in Töne, bzw. Schallwellen, übersetzen kann. Das ist erstmal nicht weiter bemerkenswert. Farbe ist physikalisch betrachtet Licht, d. h. elektromagnetische Strahlung einer bestimmten Wellenlänge. Einen Sensor zu bauen, der elektromagnetische Strahlung detektiert und in Schallwellen überführt, ist, technisch betrachtet, trivial. Das Bemerkenswerte ist, dass dieser Sensor über Neils Stirn hängt und über eine Konstruktion zusammen mit einem Mikrochip fest in seinen Hinterkopf implantiert ist. Der Sensor detektiert also die Farben in Neils Umgebung und erzeugt unterschiedlich abgestuft Töne, so dass Neil, wie er es selbst formuliert, »Farben hören« kann[87].
Neil ist britischer Staatsbürger und zu den Pflichten eines Staatsbürgers gehört es, einen Pass zu besitzen. Als sein Pass 2004 auslief, geschah etwas von historischer Bedeutung: Er reichte seine Unterlagen zusammen mit einem neuen Passfoto ein. Die Behörden prüften die Dokumente und meldeten zurück, dass einer Passverlängerung nichts im Wege stünde. Er müsse lediglich ein neues Foto einreichen, auf dem er ohne die vor seinem Gesicht herumbaumelnde Sonde zu sehen sei, da auf einem Passfoto nur der originäre Mensch abgebildet sein dürfe. Mit anderen Worten: Die Passbehörde war der Ansicht, dass die in Neil Harbissons Schädel implantierte Antenne kein Bestandteil des Menschen Neil Harbisson sei. Neil war anderer Meinung. Was folgte war ein längerer Prozess, in dem er Stellungnahmen von Ärzten und Wissenschaftlern einholte, um zu belegen, dass die Antenne ein genauso integraler Bestandteil seiner selbst sei wie seine Augen, Nase oder Ohren. Letzten Endes akzeptierten die britischen Behörden diese Argumentation und machten ihn dadurch zum »ersten offiziell von einer Regierung anerkannten Cyborg«[88]. Mit diesem Label wird er zumindest immer wieder versehen, und es entspricht seinem Selbstverständnis, das er in Interviews und auf Zukunftskonferenzen diskutiert. Wenn darin auch eine medienwirksame Positionierung zu erkennen ist, so muss man doch anerkennen, dass er sich mit gewissem Recht als solcher bezeichnet. Nicht weil er der erste »cyborgisierte« Mensch ist, sondern weil er der erste ist, in dem die Technik zum anerkannten Teil der Identität als Staatsbürger geworden ist.
Dar. 4: Neil Harbisson (Quelle: Wikipedia)
Was ist ein Cyborg? Der Begriff steht für »cybernetic organism« (kybernetischer Organismus) und bezeichnet ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. Doch das ist noch recht vage und ungeeignet, um ein tieferes Verständnis zu entwickeln, wie sich Mensch-Sein im 21. Jahrhundert verändert. Philosophen und Anthropologen haben sich die Formen des Zusammenwachsens von Mensch und Maschine genauer angeschaut, um zu einem besseren Verständnis zu kommen. Was sich zeigt, ist ein Stufenmodell der immer weitergehenden Verschmelzung[89]. Die unterste Stufe besteht darin, dass sich der Mensch mit Technologie umgibt, sie nutzt und so sehr in seinem alltäglichen Leben darin verwoben ist, dass er ohne sie kaum mehr handlungsfähig ist. In diesem sehr weitgesteckten Verständnis ist der Mensch schon lange ein Cyborg: Wir tragen Brillen, bewegen uns mit Auto, Zug oder Flugzeug von A nach B, wir organisieren unseren Alltag mit dem Handy und unsere Arbeit mit dem Computer, und wir sind völlig hilflos, wenn die Technik einmal versagt. Als sein Computer einen halben Tag lang ausfiel, formulierte einmal ein Arbeitskollege sehr treffend: Er fühle sich ohne Rechner wie »ohne Arme«, vollkommen handlungsunfähig. Dieses Gefühl beschreibt gut die erste Stufe der Cyborgisierung, doch es ist nicht das, worauf die Geschichte von Neil Harbisson hindeutet.
Auf der nächsten Stufe der Cyborgisierung geht die Technik »unter die Haut« und nistet sich im Körper des Menschen ein. Zwar lässt sich dies auch über Neil Harbisson sagen, doch es ist noch immer nicht das, was den Fall so relevant macht. Würde man das Kriterium ...
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