Schweitzer Fachinformationen
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Ich hätte es niemals zugegeben, aber eigentlich hatte ich mir geschworen, nie mehr an diesen Ort zurückzukehren. Ich hatte sehr wohl unzählige Male von ihm geträumt, von den geschwungenen Hängen mit den knorrigen Reben, von der Sonne, die in der Hitze nur als weißer Streifen am Himmel zu erkennen war, von dem flirrenden Licht und den Schattenflecken. Doch die Träume gingen stets schlecht aus. Schwere Wolken verdunkelten den Himmel, raue Winde wirbelten Blätter auf, die sich leise Geheimnisse zuflüsterten. Jedes Mal schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Mein Herz pochte beunruhigend, und in meinem Hals saß ein Kloß, der sich auch nicht vertreiben ließ, wenn ich kaltes Wasser trank.
Und dennoch war ich nun hier. Dies war mein erster Morgen im Burgund. Von meinem Zimmerfenster aus sahen die Weinreben genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie es sich für den Spätsommer gehörte, hingen sie voll von üppigen, fast reifen Trauben. In zwei oder drei Wochen begann die vendange, die jährliche Weinernte, und ich würde zu den Erntehelfern gehören, die die Trauben in alter burgundischer Tradition von Hand schnitten. Bis dahin sahen wir zu, wie die Früchte reiften und immer süßer wurden, die Chardonnay-Trauben eine hellgrüne Farbe annahmen und die des Pinot Noir ein tiefes Schwarz.
Ich zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. »Kate?«, rief Heather. »Bist du wach?«
»Guten Morgen!«, gab ich zur Antwort, und sie trat ins Zimmer.
Ihr Lächeln war noch genau so, wie ich es aus der Collegezeit in Erinnerung hatte - fröhlich strahlende Augen umgeben von Lachfalten und kleine ebenmäßige Zähne.
»Ich habe dir einen Kaffee mitgebracht.« Sie reichte mir eine Tasse und strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht. »Hast du gut geschlafen?«
»Wie eine Tote.« Nachdem ich fast vierundzwanzig Stunden von San Francisco nach Frankreich unterwegs gewesen war, war ich eingeschlafen, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt hatte.
»Fühlst du dich hier oben auch wohl? Ich fürchte, das Zimmer ist ein bisschen spartanisch eingerichtet.«
Heather blickte sich um - ein schmales, mit frischen Laken bezogenes Bett, ein Garderobenständer aus Bugholz, der als Kleiderschrankersatz diente, sowie ein verschrammter Schreibtisch vor dem Fenster würden für die kommenden Wochen meine Zuhause sein.
»Alles in Ordnung«, versicherte ich ihr, obwohl sie recht hatte. Trotz des Straußes feuerroter Dahlien auf dem Kaminsims und der glänzenden honigfarbenen Dielen wirkte das Dachzimmer mit dem nackten Fenster und den ausgeblichenen Tapeten, die sich von den Wänden lösten, irgendwie trostlos. »Ich glaube, dieses Zimmer hat schon in meiner Kindheit so ausgesehen.«
»Ach ja, du hast ja früher mit deiner Mutter hier gewohnt. Das hatte ich ganz vergessen. Das Zimmer steht leer, seit dein Großvater gestorben ist. Wie lange ist das jetzt her? Zwanzig Jahre? Aber sei unbesorgt, es gibt keine Geister, das sage ich den Kindern auch immer.« Sie zwinkerte mir zu, und ich lachte. »Wie dem auch sei, im Keller finden wir bestimmt noch ein paar Möbel. Einen Nachttisch habe ich da unten neulich schon entdeckt.«
»Ihr seid so nett«, brach es spontan aus mir heraus. »Ich kann euch gar nicht genug dafür danken, dass ich bei euch wohnen darf.«
Heather und ich hatten uns seit Jahren nicht gesehen, doch als ich sie vor drei Wochen per E-Mail fragte, ob ich bei der Weinlese mithelfen dürfe, schrieb sie umgehend zurück: Komm, sobald du magst. Die vendange beginnt irgendwann Mitte September - bis dahin könntest du mir bei einem anderen Projekt helfen.
Jetzt winkte sie ab. »Sei nicht albern, du gehörst zur Familie! Du weißt doch, dass du hier immer willkommen bist. Und wie gesagt, wir wollten schon ewig den Keller entrümpeln. Der .« Sie zögerte, und ihr Blick fuhr zum Fenster. »Der Zeitpunkt ist perfekt.«
»Dies ist mein erster Urlaub seit Jahren«, gab ich zu.
Zu Hause in San Francisco erforderte meine Arbeit als Sommelière viele Überstunden. Jede freie Minute verbrachte ich mit dem Studium von Wein, jede Reise war Recherchen vorbehalten. Ich buchte stets Nachtflüge, damit ich vom Flughafen aus direkt zur Mittagsschicht ins Restaurant hetzen konnte.
»Ich habe davon geträumt, einmal im Courgette zu essen«, sagte Heather sehnsuchtsvoll. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass es geschlossen ist.«
»Es war für alle ein Riesenschock. Vor allem, nachdem wir den dritten Michelin-Stern bekommen hatten .«
Bevor ich weiterreden konnte, ertönte draußen das Dröhnen eines Motors, und als ich aus dem Fenster blickte, sah ich einen gelben Traktor auf den Hof rumpeln. Am Steuer saß mein Cousin Nico. Neben ihm saß eine große, schlanke Gestalt, deren Gesicht im Schatten lag.
Heather trat neben mich. »Da sind Nico und Jean-Luc. Sie waren in der Werkstatt.«
Ich stellte die Kaffeetasse auf dem Fenstersims ab. »Seht ihr Jean-Luc oft?«
»Oh ja. Er und Nico sind immer noch superdicke Freunde - und natürlich superstarke Konkurrenten.« Sie lachte. »Obwohl Jean-Luc sehr zu Nicos Leidwesen im Vorteil ist. Keine Frau, keine Kinder . Er ist total frei und kann ständig arbeiten.«
Ich verschränkte die Arme und zwang mich zu lächeln. Ich konnte zwar nicht hören, was die Männer sprachen, doch der Klang von Jean-Lucs Stimme drang zu mir herauf. Ich erkannte sie, auch wenn ich sie über zehn Jahre nicht mehr gehört hatte.
Als spürte er, dass ich ihn beobachtete, drehte Jean-Luc sich um und blickte zu mir hoch. Ich erstarrte und hoffte, dass die Fensterläden mich verbargen. Dann ging Nico auf das Haus zu, und Jean-Luc wandte sich ab, er neigte den Kopf über ein Klemmbrett. Langsam atmete ich aus.
»Bruyère!« Nicos Stimme schallte die Treppe herauf. »Hast du meine Gummistiefel gesehen?«
»Ich komme sofort!«, rief Heather.
»Er nennt dich immer noch Bruyère?«
»Ja, nach all diesen Jahren besteht dein geliebter Cousin weiter darauf, dass der Name >Heather< für Franzosen unaussprechbar ist.« Sie verdrehte die Augen, doch in ihrem Blick lag Milde.
Eine weitere Erinnerung aus Collegezeiten. »Eh-zaire? Ehzaire?«, hatte Nico immer gesagt und war zunehmend an ihrem Namen verzweifelt, bis er sie eines Tages einfach bruyère genannt hatte. Das französische Wort für Heather, die Heide.
»Es ist irgendwie süß, dass er einen eigenen Kosenamen für dich hat.«
»Ach, Kate.« Eine Hand auf den Türrahmen gelegt, blieb Heather stehen. »Der ganze Ort nennt mich Bruyère.« Ein wehmütiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, dann schlüpfte sie aus dem Zimmer und rief mir über die Schulter zu: »Ich bin unten, wenn du was brauchst.«
Ich hörte, wie sie die Stufen hinunterflog, und dann Nicos Stimme, die einen Schwall Französisch von sich gab, das Lärmen von Kinderstimmen und das Klappern von einer Million Plastikspielsachen, die auf den Holzfußboden krachten.
»Ach, Thibault!«, schalt Heather ihren Sohn, musste jedoch zugleich lachen.
Ich warf einen weiteren verstohlenen Blick aus dem Fenster. Jean-Luc lehnte am Traktor und hielt einen Arm über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen. Von hinten wirkte er erstaunlicherweise kaum verändert. Er war immer noch schlank, sein braunes Haar glänzte wie früher golden.
Hoffentlich hatte er mich nicht gesehen .
Nachdem ich ausgepackt und mich überwunden hatte zu duschen, obwohl das Wasser in dem lachsfarbenen Badezimmer nur lauwarm war, herrschte Ruhe im Haus. Um einen weiteren Kaffee zu trinken, begab ich mich mit meiner Tasse nach unten in die Küche. Auf dem Tresen fand ich eine Nachricht von Heather: Bringe die Kinder in die Ferienbetreuung. Nimm dir Kaffee und Toast. Pfeile deuteten auf eine Stempelkanne und einen Laib Brot.
Ich steckte eine Scheibe in den Toaster und wartete an die Arbeitsplatte gelehnt, dass sie heraussprang. Alle Räume in diesem Haus waren sonnendurchflutet, das Licht fiel durch saubere Leinenvorhänge auf Bücherregale und breite Holzdielen. Doch die Morgensonne brachte Spuren von Altersschwäche zum Vorschein, die mir am Abend zuvor nicht aufgefallen waren: verblasste Tapeten, Risse in den Decken, an einer Wand blätterte die Farbe ab. Auf den Sims über dem Kamin hatte Heather einige silbergerahmte Familienfotos gestellt. Wie jung sie und Nico auf ihrem Hochzeitsfoto aussahen! Ihre Wangen waren glatt und rund wie bei einem Baby. Die steife Korsage von Heathers trägerlosem Kleid verbarg ihr Geheimnis: Sie war bereits mit ihrer Tochter Anna schwanger. Ich hatte das Kleid in einem Brautgeschäft in San Francisco mit ihr zusammen ausgesucht, sah es jedoch heute zum ersten Mal wieder. War das tatsächlich schon zehn Jahre her? Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich die Hochzeit damals verpasst hatte.
Heather und ich hatten uns an der University of California in Berkeley kennengelernt - wir waren Freundinnen und Kommilitoninnen. Wir studierten beide Französisch im Hauptfach und nahmen am selben Auslandsprogramm teil. Als wir in Paris eintrafen, konnte Heather gerade in einer boulangerie ein Croissant kaufen und litt derart unter Heimweh, dass sie eigentlich früher abreisen wollte. Doch dann stellte ich ihr meinen französischen Cousin Nico vor, und sieben Monate und eine ungeplante Schwangerschaft später war aus einer stürmischen Romanze eine ernsthafte Beziehung geworden. Ich wäre skeptisch gewesen,...
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