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Rechts entlang oder links entlang?
Klement erinnerte sich nicht an diese Weggabelung und begann sich zu fragen, ob er vorher wohl die richtigen erkannt hatte und nicht schon seit Längerem zwischen Möglichkeiten wählte, die ebenso falsch wie irreführend waren. Eigentlich lag der Wasserfall von Los Pizarros etwa fünfundvierzig Minuten entfernt an einem Weg, den er schon einmal zurückgelegt hatte, aber sie waren seit fast zwei Stunden unterwegs, ohne auch nur ein entferntes Wasserrauschen zu hören. Dieses Risiko hatte er auf sich genommen, als er auf den ortskundigen Führer verzichtet hatte, um mit seinem ältesten Sohn allein sein zu können und ihm ganz nach Belieben seinen neuen Arbeitsplatz, die Natur, zu zeigen. Wenngleich das eigentliche Problem nicht so sehr darin bestand, dass er sich verirrt hatte, sondern eher darin, dass er nun vortäuschen musste, bestens zu wissen, wo er sich befand. Er hätte nie gedacht, dass dies so viel schwieriger war als umgekehrt: Nichtwissen über etwas vorzutäuschen, von dem er sehr wohl wusste, dass er es gerade tat - war seine Spezialität.
»Bist du froh, dass die Schule fertig ist?«, fragte er Klaus, um diesen und sich selbst abzulenken, denn auch seinem Sohn konnte nicht verborgen bleiben, dass sie, sofern sie nicht auf einem Irrweg, so doch kaum auf dem richtigen Weg sein konnten.
Klaus antwortete mit einer uneindeutigen Kopfbewegung, die eine überzeugte Gleichgültigkeit für das gerade zu Ende gegangene Schuljahr, die Dorfschule, auf die er und seine Brüder seit ihrer Ankunft gingen, und für das angebliche Interesse seines Vaters am Fortschritt seiner Studien durchscheinen ließ. Klement konnte nicht umhin, Verständnis für ihn zu haben, auch er hatte sich in der Schule weder durch seine Noten noch durch sein Engagement hervorgetan, er hatte sie nicht einmal fertig gemacht.
»Die Rektorin meinte, nächstes Jahr muss ich auf die Fahne schwören, damit sie mir den Abschluss geben«, erzählte Klaus, während er sich duckte, um einigen Zweigen auszuweichen, die ihm trotzdem in den Nacken schlugen.
Er war größer als Klement, mit breiteren Schultern und kräftigeren Gliedmaßen, eine dem Vater in physischer Hinsicht weit überlegene Variante, ein Triumph der Evolution. Wie er da auf dem Fuchs saß, den sie am Vortag frisch hatten beschlagen lassen, das blonde Haar wie eine zweite Sonne durch die grünen Wolken des Blattwerks strahlend, sah er aus wie ein homerischer Held, der auf der falschen Insel an Land gegangen ist.
»Wofür willst du einen Abschluss, wenn du mit mir arbeiten kommen kannst?«, wiederholte Klement die Worte seines eigenen Vaters, als der ihn ins Bergwerk geschickt hatte, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, das nie zu tun.
Er wollte einfach nicht, dachte er zu seiner Rechtfertigung, dass Klaus einen Fahneneid ablegte, weder auf die argentinische Fahne noch auf sonst irgendeine. Dadurch, dass er selbst einer Partei und später der Geheimpolizei dieser Partei die Treue geschworen hatte, war Klement letzten Endes in ernste Probleme geraten, weshalb ihm nun keine andere Möglichkeit mehr blieb als die Flucht nach vorn und die Hoffnung, dass der Weg ganz von allein eine Wendung nehmen und ihn wieder auf jenen Weg führen würde, den er verlassen hatte, doch nun ohne Hindernisse. Tröstlich war für ihn nur der Gedanke, dass er vielleicht auch ohne irgendeinen geleisteten Eid dasselbe getan hätte, nur um sich selbst treu zu sein und um das, was er angefangen hatte, zu einem glücklichen Ende zu bringen.
»Hier in der Wildnis?« Klaus schüttelte eine Spinnwebe ab, die in seinem Haar kleben geblieben war, sicherlich einschließlich Spinne.
»Gefällt es dir nicht?« Klement atmete die schwere, feuchte Luft tief durch die Nase bis zur Brust ein und stieß sie mit einem wohligen Seufzer wieder aus.
»Mir gefällt das als Ausflug«, sagte Klaus, auch wenn er keinen anderen Nutzen kannte. »Das ist wie angeln gehen, ich kann mir nicht vorstellen, dass das zu einer Pflicht werden kann.«
»Alles wird irgendwann zu einer Pflicht, mein Sohn.«
Er unterstrich seine Aussage, indem er die Zügel anarchisch nach rechts zog (denn so, meinte er sich zu erinnern, habe man es zu tun, um den Weg aus einem Labyrinth herauszufinden), und sie ritten weiter über eine kaum von einem Grashälmchen bewachsene Spur, was darauf hindeutete, dass hier relativ häufig Pferde entlangstapften. Solange es Wege gab, sagte sich Klement und fing an zu pfeifen, bestand immer die Möglichkeit, dass jemand auftauchte und sie rettete. »Der Wald drückt, aber er erwürgt nicht«, wie der Ortskundige immer zu sagen pflegte, den ihm die CAPRI zugeteilt hatte. CAPRI, das war die Argentinische Gesellschaft für Industrieprojekte und -gestaltung (Compañía Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales), hierzulande auch als Deutsche Gesellschaft für frisch Eingewanderte, Compañía Alemana Para Recién Inmigrados, bekannt, weil fast alle Angestellten jener Herkunft waren. Deutsch sein, das war eine wichtigere Voraussetzung, als Wasserbauingenieur zu sein, vielleicht weil sich alles lernen ließ. Auch Klement hatte nicht studiert, wie man Massendeportationen organisierte, und hatte dennoch seine Aufgabe, die alles andere als leicht gewesen war, überzeugend erfüllt. Jetzt, als arbeitsloser Deportologe, hätte er nirgendwo als im Mittleren Osten echte Arbeit finden können, sofern die Araber sich endlich entschließen würden, die Region zu entjuden, und dafür seine Expertise benötigten. Bis es so weit wäre, musste er sich den Umständen anpassen. Und dasselbe galt für fast alle seine Kollegen. In dieser Hinsicht war auch die hiesige CAPRI eine Insel wie die in Italien, hier bevölkert von den Überlebenden des großen Schiffbruchs, mit dem das grenzüberschreitende Abenteuer zum Gewinn von Lebensraum geendet hatte.
Zudem erwiesen die Arbeitsbedingungen sich als ziemlich mediterran. Das galt besonders für Klement. Er war dafür zuständig, die Tiefe und das Wasservolumen der Flüsse in der Gegend zu vermessen, sodass auf dieser Grundlage Wasserkraftwerke gebaut werden konnten, welche wiederum die Zuckerrohrindustrie ankurbeln sollten (denn auf dem Anbau von Zuckerrohr fußte der Reichtum von Tucumán oder, besser gesagt, der Reichtum von zwei oder drei Familien in dieser Provinz). Diese Aufgabe war nicht mehr als ein schöner Vorwand für tägliche Ausritte, sein größtes Vergnügen in der Natur, das er auch seinen Söhnen und insbesondere Klaus vom Tag ihrer Ankunft an zu vermitteln trachtete. Das Vertrauen dieses jungen Mannes zu gewinnen, mit dem er schon früher nicht sonderlich viele Dinge hatte teilen können, wurde zu seiner Hauptaufgabe in dieser Phase, die er als eine des Übergangs, des diffusen Wartens empfand. Schon seit drei Jahren strich er mit der Sanftmut eines rastenden Kriegers durch diese ursprünglichen Landschaften, wie einer, der nicht so sehr von der Mühsal ausruht, die er bereits hinter sich gelassen hat, sondern eher von der, die - so ahnt er, so ersehnt er es sich - das noch vor ihm liegende Stück Weg für ihn bereithält.
»Alles wird früher oder später zu einer Pflicht, und das hat auch sein Gutes.« Es war ihm ein moralisches Bedürfnis, seinen Gedankengang abzuschließen.
Sein Schimmel trottete langsam weiter voran, vertrieb mit dem Schweif die Bremsen, die es ausschließlich auf das Pferd abgesehen hatten, als wüssten sie, dass durch den anderen Körper verschmutztes Blut, blutbeflecktes Blut floss. Das Tier hieß El Bravo, der Wilde, ein Name, der eher für den Reiter bestimmt zu sein schien, denn selbst war es zahm wie ein Zirkuspferd.
Die dichte und zugleich diskrete Vegetation respektierte die Pfade und verdeckte den Himmel nicht völlig. Trotz des feinen Staubs, der die Farben trübte, schien das Blattwerk noch mehr Spielarten der Farbe Grün aufzuweisen als es die sibirischen Steppen angeblich von der Farbe Weiß taten, wenn auch nur wenige von dort zurückkehrten, die das hätten bezeugen können. Dasselbe galt für die Geräusche, die in allen Tonlagen und Koloraturen vorkamen, obschon seine Karteikarten für die dutzenden Begriffe, über die das deutsche Gehör verfügte, all dieses Murmeln, Säuseln, Plätschern, Prasseln, Brüllen und Rauschen, nur dieselben drei oder vier halb synonymen spanischen Wörter anboten. Eine weitere Gabe der Natur, die die Einheimischen nicht zu nutzen verstanden - Gott gab denen Lebensraum, die nichts hatten, womit sie ihn hätten füllen können.
»Wohin sind wir unterwegs?«, wollte Klaus wissen.
Wenn Klement bei seiner vorherigen Arbeit etwas gelernt hatte, dann, dass es nie empfehlenswert war, die Leute vorab wissen zu lassen, was sie am Ende des Weges erwartete. Die Aufmerksamkeit auf den jeweils nächsten Schritt zu konzentrieren, zwang sie, den Kopf gesenkt zu halten. Im Übrigen ist niemand unterwürfiger als der, der nichts erwartet.
»Erinnerst du dich an Hans-Ulrich Rudel, den Flieger, mit dem wir an der Escaba-Talsperre angeln waren?«, griff Klement auf den alten Trick zurück, eine Frage unbeantwortet zu lassen, indem man selber eine stellte, und zwar nicht irgendeine, sondern eine, auf die es eine einfache, fast rhetorische Antwort gab.
»Der mit der Beinprothese?«
»Mit ihm bin ich auf den Aconcagua gestiegen, bevor ihr hier wart.« Klement machte eine Bewegung, als wollte er in die Tasche mit den Zigaretten fassen, hielt sich aber um seines inneren Versprechens willen, nicht vor seinem Sohn zu rauchen, zurück. »Der Aconcagua ist der höchste Berg auf diesem Kontinent. Deshalb wollen...
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