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Ich fuhr schon seit einiger Zeit nicht mehr mit meinen Eltern in Urlaub, als ich wieder eine Einladung nach Garopaba bekam, einem kleinen, zu einem Touristenort gewordenen Fischerdorf in der Provinz Santa Catarina im Süden Brasiliens. Von meiner Geburt an hatten mich meine Eltern jedes Jahr mit zu einem Besuch bei Oma genommen, wir verbrachten ein paar Tage bei ihr zu Hause und fuhren dann weiter an den Strand, manchmal mit ihr, manchmal ohne sie. Ich mag den Gedanken, dass ich, alle diese Ferienmonate zusammengenommen, ein paar Jahre in Brasilien gelebt habe. Ich bin schicksalhaft argentinisch und blutsmäßig deutsch, doch wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich wohl am liebsten als brasileiro betrachten.
Vielleicht, um die etwas beunruhigende Perspektive dieser gemeinsam zu verbringenden Tage zu ertragen, kam mir die Idee, die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Reportage über Oma zu nutzen. Die Shoah-Stiftung hatte das bereits 1996 gemacht, jedoch mit so wenig Taktgefühl, dass sie für das Videointerview einen Typen schickten, der nicht mal den Namen Hitler korrekt auf Deutsch aussprechen konnte. Dazu gezwungen, vor laufender Kamera auf Portugiesisch zu antworten, tobte Oma, die nur Deutsch spricht und es nach 60 Jahren im Exil gerade mal schafft, sich irgendwie mit ihren brasilianischen Mitbürgern zu verständigen, hinterher vor Wut. Gerüstet mit den gemeinsamen Sprachen und unserer Verwandtschaft, war es mein Plan, ihr Zeugnis in einem vertrauensvolleren Setting einzuholen, die Rohaufnahme zu transkribieren, ohne von meiner Seite etwas hinzuzufügen, und es an eine jüdische Einrichtung in Deutschland zu geben. Selbst darüber zu schreiben schien mir Zeitverschwendung; es gibt schon genug Bücher zu dem Thema, Bücher, denen gegenüber ich immer einen gewissen Widerwillen empfunden hatte und in die ich konsequenterweise keinen Blick warf. Ich bat meinen Onkel und meine Eltern, Fragen vorzubereiten, formulierte auch selbst einige und rief Oma an, um ihr mein Projekt anzukündigen. Das alles erschreckte mich fast selbst. Ich empfand es als journalistische und verwandtschaftliche Pflicht, verstand jedoch nicht, warum dieser Impuls nach so vielen Jahren kam, in denen ich mich nicht im Geringsten für die Geschichte meiner Oma oder den Holocaust überhaupt interessiert hatte. Vielleicht fühlte ich mich erst damals reif genug, mich dem zu stellen, oder die Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache und meine kürzliche Rückkehr zum Journalismus vermittelten mir die Illusion, dies sei ein einfaches Unterfangen. Meine Unschuld in allen Ehren.
Eines Vormittags im Januar 2002, in Omas Zimmer vor der gleißenden Sonne geschützt, die meine Eltern und Geschwister am Strand genossen, begann die Tortur.
»Was willst du denn wissen?«, bellte mich Oma an, nachdem sie mir ein Ticket für die Schwebebahn in Wuppertal (von ihr habe ich außerdem Tickets für die Pariser Metro, holländische Münzen, Rabattmarken für deutsche Geschäfte .) und alte Fotos (»Dann müsst ihr sie nicht wegschmeißen, wenn ich mal tot bin«) gegeben hatte.
»Alles«, bat ich in meinem zaghaften Deutsch. »Ganz von vorne. Wo du geboren wurdest, wer deine Eltern waren .«
»Olha«, sie zeigt mir ein paar vergilbte Papiere. »Das hab ich auf dem Schiff geschrieben. Eine Gefährtin aus dem KZ hat mir ein Tagebuch geschenkt. >Mach es wie die Sonnenuhr<, sie liest die Widmung im Tagebuch, >zähl die heit'ren Stunden nur!< Das war am 18. September 1946. An meinem Geburtstag, am nächsten Tag, bin ich von Stockholm nach Paris geflogen und von da mit dem Zug nach Rouen und in Rouen haben wir das Schiff benutzt bis Rio. Aber in Rouen war Streik und da konnten wir nicht aufs Schiff. Wir haben in einer Pension gewohnt, da hat es reingeregnet. Dort oder in Paris hab ich zum ersten Mal ein Bidet gesehen, ich wusste nicht, was das war. Eines der skandinavischen Konsulate hat uns erlaubt, jeden Tag Mittag zu essen. Aber ohne Wein.«
»Im Konsulat?«
»Nein, in einem Restaurant. Denn wir hatten Geld bezahlt, aber die HIAS [Hebrew Immigrant Aid Society], die uns hergebracht hatte, hat sich nicht mehr gekümmert .« (Sie lächelt)
»Sie haben das Geld genommen, meinst du?«
(Aufgeregt) »Nein! Wir haben die Fahrt bezahlt, nachher in Rouen haben sie sich nicht mehr gekümmert. Die wussten nicht, dass gestreikt wurde und das Schiff nicht abfuhr. Wir sind auf einem Frachtschiff gefahren, wir waren sechs, die von ihren Verwandten gerufen worden waren, jeder an einen anderen Ort in Südamerika. In Schweden waren doch 20 000 Flüchtlinge, manche sind nach Amerika gegangen, einige sind geblieben, aber wir . Não, ich wollte gern nach Amerika, aber die Cousine meiner Mutter, Frida Harzen, die hier gewohnt hatte, wollte, dass ich nach Brasilien kam. Denn die ganze Familie, alle sind umgekommen, ich war die einzige Überlebende von über 30 Familienangehörigen.«
»Und warum wurdest du nicht nach Amerika gerufen?«
»Ich hätte auch nach Amerika gehen können. Nach dem Krieg hat eine Kollegin, die auch befreit worden war und Krankenschwester in Amerika war, zu mir gesagt: >Komm, du kannst Nachtwachen machen, du musst kein Englisch können.< Aber da war das mit Brasilien schon abgemacht. In Amerika hätte ich mich viel wohler gefühlt. In Brasilien trugen die Dienstmädchen Uniform, das war für mich schrecklich, verstehst du? Ich hab gesagt, die Mädchen sollen die Schürze ausziehen. Wie kannst du das machen? Ich kann das nicht sehen. Schließlich sind wir alle gleich, der eine hat ein bisserl mehr wie der andere, aber sonst nichts. Die von hier haben uns die Freiheit wiedergeschenkt und jetzt müssen die Dienstmädchen bei unseren Leuten Uniform tragen . Aber davon will niemand was hören. Sicher, so wie ich eben bin, nutzen sie mich manchmal aus. Der Hausmeister zum Beispiel, der weiß, wie gutmütig ich bin, und manchmal denkt er, ich sei ein Depp, verstehst du? Man hat ein anderes Gefühl für die Menschen, eine offene Hand, geht mit den Leuten um . und das wollen viele nicht verstehen.«
»Und warum bist du nicht nach Amerika gegangen?«
»Ich hatte niemanden. Es wurde im Aufbau veröffentlicht und Rays Eltern haben geantwortet und mir Pakete geschickt, weil ich zuletzt, ehe ich deportiert worden bin, noch die Großeltern von Ray besucht hatte. Seine Familie hatte eine Weinhandlung und meine Mutter mochte sie sehr gern. Rays Großvater war der Vetter meiner Mutter und die haben sich sehr gut verstanden. Wir wohnten in der Nähe und ab und zu haben wir uns besucht. Später, im Aufbau .«
»Was war Aufbau?«
»Das ist bis jetzt noch die deutsch-englische Zeitung, die in New York herausgegeben wird. Man hat sie die Zeitung der Emigranten genannt. Ich habe sie jahrelang in Brasilien weitergelesen, aber nachher war es mir zu teuer, ich weiß nicht, wie viele Dollar die kostet. Und die hat alle Schiffe veröffentlicht, die damals von Deutschland nach Schweden kamen, durch den . wie hieß er noch gleich? Später haben sie ihn umgebracht. Bernadotte. Ich bin auf der Prinzessin Ingrid gereist, mit der fuhren wir nach .«
»Rio«, riskiere ich, in der Annahme, dass sie von dem Schiff spricht, das sie von Schweden nach Brasilien brachte.
»Nein.« Sie spricht von dem Schiff, das sie von Deutschland nach Schweden brachte. »Von Bergen-Belsen sind wir nach Lübeck und dann mit dem Schiff nach Helsingborg [Schweden]. Und im Aufbau, in dieser Zeitung, stand jede Woche, wer [von Deutschland aus] angekommen war. Die Vettern meiner Tante [väterlicherseits], die haben aus Amerika ein Telegramm [nach Brasilien] geschickt: >Emma ist gerettet in Schweden; kümmert euch, wir sind arme amerikanische Soldaten, wir können nicht helfen.< Und sofort haben die mir aus Brasilien geschrieben.«
»Wer war in Brasilien?«
(Sie schreit) »Die Cousine meiner Mutter, hab ich dir doch schon gesagt!«
»Und in Amerika?«
»Die Nichte von Tante Harzen. Die Familie Harzen war sehr groß und ist nach Amerika gegangen, die hier waren die Einzigen, die nach Südamerika sind. Und die Vettern, die waren amerikanische Soldaten und haben im Aufbau meinen Namen gelesen und sofort . weil es hat sich niemand mehr gemeldet aus der Familie, alle sind umgekommen.«
»Brauchtest du einen Ruf von Verwandten oder konntest du wählen?«
»Ja, man konnte auch wählen. Ich wollte nicht in Schweden bleiben, weil als Krankenschwester hätte ich noch mal fünf Jahre lernen müssen. Ich war ja schon . 25, 26 Jahre alt. Aus Helsingborg hatten wir nachher Bauch. Wie heißt diese Krankheit? Nicht Cholera, ach, ich hab's vergessen .«
»Koliken?«
»Nein, nein, nein.« (Murmelt vor sich hin) »Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich es aufgeschrieben.«
»Wie hast du dich gefühlt?«
»Wir waren alle krank. Na, wie heißt denn diese Krankheit, sag mir mal eine Krankheit .«
»Sag mir die Symptome.«
»Durchfall, Bauch.«
»Bauchschmerzen?«
»Die Durchfälle, das hat einen Namen gehabt. Es wird mir wieder einfallen. Jedenfalls, wir waren in Quarantäne und auch auf dem Schiff haben wir nichts bekommen, weil es hatten sich schon einige der Schweden, die uns betreut haben, auch angesteckt. Was ist das, wo du nachher .? Das ist auch so eine ansteckende Krankheit . im Bauch, es hat mit dem Darm zu tun . du hast Durchfall und Erbrechen und so weiter.«
»Ja, ich...
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