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Genau wie Mirko Czentovic kam Sonja Graf auf eigene Faust und ohne einen festen Turnierplatz ins Land. Mit dem Naziregime konfrontiert, war sie nach London ins Exil gegangen, von wo aus sie anreiste, um - unter welcher Flagge auch immer - gegen Vera Menchik de Stevenson zu spielen, die absolute Meisterin bei den Frauen.
Mit genau dieser Vera Menchik spazierte sie nun durch die einzige ausländische Niederlassung von Harrods, wo gerade das Ende des Geschäftsjahrs mit einem »Großen Schlussverkauf vor der Inventur« gefeiert und »wirklich sensationelle« Preise versprochen wurden. Auch wenn keine unserer beiden Schachspielerinnen sonderlich daran interessiert war, ein heruntergesetztes englisches Porzellanservice zu erstehen, waren sie doch fasziniert davon, dass dieses Gebäude, das selbst in London imposant gewirkt hätte und sogar in Berlin schwer aufzutreibende Luxusgegenstände feilbot, in dieser fernen, unwahrscheinlich südlich gelegenen Stadt stand, obgleich es in Buenos Aires im Grunde genommen - angefangen bei der Kälte - fast nichts gab, das nicht den Eindruck erweckte, fehl am Platz zu sein.
An einem überdachten Ort spazieren zu gehen, hatte noch einen weiteren Vorteil neben dem, sich vor den überzeugend winterlichen Temperaturen im Freien zu schützen. Vor der Reise nach Argentinien hatte Sonja Graf gehört, dieses Land werde von halbwilden Indios bewohnt und grundlegende Bequemlichkeiten wie das Automobil seien unbekannt. Kaum war sie von Bord gegangen, wurde ihr jedoch klar, dass die größte Gefahr in der Stadt nicht die Ureinwohner, sondern genau die Autos waren, dabei fuhren sie damals noch wie in London links. »Passanten zu sehen, die beim Überqueren der Straße Pirouetten zwischen den tausend Automobilen drehten, war für mich neu und machte mir Freude und Angst zugleich. Bei jedem Schritt erwartete ich einen Unfall«, würde Sonja Graf später in Así juega una mujer (zu Deutsch: So spielt eine Frau) schreiben, einem der beiden Bücher, die sie nach ihrer Übersiedlung ins Land in den Jahren 1941 und 1946 veröffentlichte.
»Nein, nicht mein Vater, der meiner Freundin!«, wiederholte Sonja in diesem Moment und sprang mit einem Satz von der Treppe.
»Welche Freundin?« Vera folgte ihr langsam und behäbig. Sie fragte sich in wehmütiger Erinnerung an die elektrischen Rolltreppen bei Harrods in London, was heutzutage wohl der größere Luxus war, der Marmor oder die technische Ausstattung.
»Die, von der ich dir erzählt habe. Die mich zu sich nach Hause eingeladen hat, weil es zu spät war, zu mir zurückzufahren.«
Bei ihrem holprigen Englisch und der begrenzten Aufmerksamkeit, die ihre Kollegin ihr schenkte, lief Sonja Grafs spontanes Geständnis Gefahr, missverstanden zu werden (wie es, den in Zeitschriften und im Internet kursierenden Hinweisen auf einen Missbrauch in ihrer Kindheit nach zu urteilen, auch tatsächlich geschah). Zwar stimmte es, dass ihr Vater sie schlug und die Mutter sie mit beißender Gleichgültigkeit misshandelte, doch sexuellen Missbrauch hatte sie bei sich zu Hause nicht erlitten. Andernorts war sie jedoch Zeugin eines solchen Missbrauchs geworden, eben genau bei jener Freundin, die sie zum Übernachten eingeladen hatte. Das erzählt sie ganz klar in ihrer konfusen Autobiografie Yo soy Susann (zu Deutsch: Ich bin Susann), dem anderen Buch, das sie ebenfalls auf Spanisch veröffentlichen würde, wenn bei der Übersetzung das Original auch vermutlich sotto voce mitlief, denn sie klingt so wörtlich, dass man stellenweise das verlorene Original ohne Einbußen rekonstruieren kann.
Zu einer Zeit wurde Susann - Graf benutzt ihren wirklichen Namen und spricht dann in der dritten Person von sich selbst - von ihren Eltern tagsüber immer zu einer verheirateten Schwester geschickt, um auf deren kleine Kinder aufzupassen und ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Das tat sie nur zu gern, denn es war eine Möglichkeit, der Tyrannei ihrer Eltern zu entkommen. Normalerweise kam sie erst spät zurück.
Eines Tages traf sie eine alte Mitschülerin wieder, und fortan besuchten die beiden gemeinsam Tanzveranstaltungen, Feste und Kinovorführungen und gingen mit jungen Männern aus. Wenn ihr Vater sie fragte, warum sie abends so spät zurückgekommen sei, sagte Susann als Ausrede: »Ich war bei meiner Schwester.«
Eines Abends wurde es sehr spät, und die erschreckte Susann vertraute ihrer Freundin an, dass sie um diese Zeit weder zu sich nach Hause noch zu ihrer Schwester gehen könne. Was sollte sie nur machen? Die Freundin bot ihr an, dass sie ruhig mit bei ihr im Zimmer schlafen könne. Susann nahm an. Bevor sie hineingingen, sagte ihre Mitschülerin jedoch: »Pass auf, zieh die Schuhe aus und sei leise, ich schlafe im Zimmer meiner Eltern.«
Leise schlichen sie hinein, und niemand bemerkte ihr Kommen. Nach einer langen Stille hörte Susann den Vater flüstern:
»Bist du das, Tochter? Du bist spät gekommen. Ist dir nicht kalt .?«
»Ja, mir ist kalt.«
»Warum kommst du dann nicht zu mir ins Bett? Ich kann dich ein bisschen aufwärmen.«
Die Freundin verließ ihr Bett und kroch in das des Vaters. Es vergingen ungefähr zwanzig Minuten; auf einmal wollte Susann ihren Ohren nicht trauen, doch zweifellos hatten Tochter und Vater gerade intimen Verkehr miteinander .
Riesiger Abscheu befiel das Herz der Besucherin und verschloss ihre Kehle. Noch vor dem Morgengrauen stand sie auf und verabschiedete sich, ohne ein Wort über das zu verlieren, was sie beobachtet hatte. Von da an mied sie das Mädchen und vergaß das hässliche und unglaubliche Ereignis allmählich.
Etwas Derartiges gesehen zu haben, und insbesondere, diesen Schluss aus dem gezogen zu haben, was ihren Augen verborgen geblieben war, schockierte sie nicht nur schrecklich, es hatte auch unmittelbare Konsequenzen für ihr eigenes Leben. Zwei Monate später stand ein Detektiv bei ihr vor der Tür und sagte, er ermittle wegen Gerüchten über die inzestuösen Beziehungen dieses Mannes. Er fragte sie, ob ihr, als Freundin des Opfers, etwas Merkwürdiges aufgefallen sei. Zwar dachte sie zuerst daran zu lügen, doch der Mann blieb hartnäckig, »auf ganz geschickte Art, er schwor, dass er niemals ihren Namen nennen würde, und dass sie vor Gott verpflichtet sei, zu sagen, was sie wisse, denn eine solche Sache verstoße gegen alle menschlichen Gesetze«.
Susann-Sonja erzählte also, was sie gesehen hatte, und weitere zwei Monate später erhielt sie eine Vorladung zu dem entsprechenden Gerichtsverfahren, dem aktuellen Stadtgespräch. Im Gericht erlebte sie zum ersten Mal Schüchternheit und sogar Angst. Nachdem sie ihren Eid und ihr Zeugnis abgelegt hatte, erlebte sie dann auch noch die Tricks der Rechtsanwälte.
Mit einem aufgesetzt freundlichen Gesichtsausdruck kam er auf Susann zu und fragte:
»Hast du schon mal mit Männern zu tun gehabt?«
Rot bis zu den Ohren, antwortete die Befragte:
»Das sind ganz persönliche und private Dinge, und ich weigere mich zu antworten.«
Worauf der Fragensteller erwiderte:
»Aber, aber! Denk noch einmal gut darüber nach, willst du uns nichts sagen?«
Ihre wiederholten Worte waren klar und deutlich zu vernehmen:
»Ich weigere mich zu antworten!«
Das Mädchen erkannte eine immense Bosheit in den Augen ihres unangenehmen Befragers, der wieder das Wort ergriff und sprach:
»Wie kannst du dann wissen, dass Vater und Tochter intim miteinander waren .?«
Die völlig verzweifelte Susann wurde des Meineids für schuldig befunden, während der wahre Schuldige und seine Tochter frei und unschuldig blieben. Und das nennt man Gerechtigkeit!
Sonja-Susann verbrachte zehn Tage im Gefängnis. Anschließend erfolgte die körperliche Züchtigung durch ihren Vater. Noch später wurde sie in ein von Nonnen geleitetes Erziehungsheim gesteckt. Vom Heim würde ihr nur, voll Glück und ein klein wenig Schuldgefühl, eine feurige Begegnung mit einer Gefährtin in einem dunklen Treppenhaus in Erinnerung bleiben. Aber davon erzählte sie ihrer Kollegin Vera Menchik nichts. Erst Jahre später würde sie sich in ihrem Buch trauen, das publik zu machen, vielleicht aufgrund des irrealen Anflugs, den das eigene Leben bekommt, wenn man es in einer fremden Sprache darstellt (was bei diesem Gespräch ja auch Englisch für sie war!).
Nennenswert ist jedoch nicht, was Sonja Graf Vera Menchik nicht erzählte, sondern dass sie beschloss, etwas so Intimes wie jene grauenhafte Erfahrung einer Person anzuvertrauen, die nichts weniger als ihre schärfste Rivalin war. Vielleicht lag es daran, dass sie nie ganz verstanden hatte, ob ihre Freundin sie mit zu sich nach Hause genommen hatte, weil sie sich nicht bewusst war, wie merkwürdig ihre Lebensverhältnisse waren, oder eben, um eine direkte Zeugin für das zu haben, was sie erdulden musste. An Bord des Schiffs hatte Sonja sich diese Frage erneut gestellt, auch weil ihr ein Spielpartner fürs Schach abging, und jetzt wiederholte sie sie einer Schachspielerin gegenüber, als könnte diese sie mit ihrer Antwort in einen sicheren Hafen führen. Höchstwahrscheinlich war es jedoch eine mehr oder minder unbewusste Strategie, ein Spielzug, der dem ersten, den sie später am Brett machen würde, voranging, eine heimliche Eröffnung.
Ihre Chancen zu gewinnen waren dennoch gering. Die Repräsentantin für Russland, die zur Repräsentantin für...
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