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Sebastian Morselli lief auf der Bühne des Theaters auf und ab. An diesem Nachmittag gab es keine Proben, er war allein im Haus. Das Theater Vorwärts!, so hieß seine Spielstätte, hatte keinen umfangreichen Stab von Angestellten, die irgendwelche Büros besetzten. Es gab nur ein Büro. Das war im selben Gebäude.
Sebastian beruhigte sich. Dieser Lukasch war ein paranoider Widerling, keine Frage, alle wussten es und gingen ihm aus dem Weg; das Widerliche war nicht der Mann selbst, sondern seine Paranoia - nein, Paranoia war das falsche Wort, darüber hätte man hinwegsehen können wie über eine Depression, das war, bitteschön, die Privatsache des Betreffenden. Bei Lukasch lag der Fall anders: diese kleinen, giftigen Bemerkungen - nicht giftig im Sinne, dass sie Häme oder Missgunst gegen jemanden ausdrückten, das taten sie nicht, im Gegenteil. Lukasch war besorgt. Seine Bemerkungen drückten Sorge um diesen Jemand aus. Wenn er so drauf war wie jetzt, konnte er einem den ganzen Tag vermiesen. Als ob der Tag das noch nötig gehabt hätte.
Es lief nicht gut beim Theater Vorwärts!. Sebastian Morselli leitete es seit nunmehr dreizehn Jahren, hatte es in dieser Zeit durch beharrliche Arbeit und Ausnutzung aller Beziehungen, über die er dank seiner weitverzweigten und in der Lokalpolitik verwurzelten Familie verfügte, zu einer auch überregional beachteten Spielstätte des zeitgenössischen Theaters entwickelt. Aber nun lief es nicht mehr gut, ganz entschieden nicht mehr gut. Die Prahlerei mit seiner Schulfreundschaft zum Landesrat Pontisek war nicht mehr als das, eine Prahlerei. Jedenfalls, wenn er die Zeichen richtig deutete. Und wie anders sollte er ihn deuten, diesen Anruf, der ihn eine knappe Stunde nach dem Gespräch mit Lukasch erreicht hatte. Das nennt man wohl Ironie .
Er ging in die kleine Küche neben der Bühne und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er trank noch im Gehen, ließ am großen Schaltschrank die Saalbeleuchtung angehen. Er stellte sich in die Mitte der Bühne, vorn an die Rampe. Von hier sah der Zuschauerraum aus wie ein Kino aus den Sechzigern. Es war ein Kino aus den Sechzigern, da halfen keine Wandverkleidungen und Designerlampen. Es war mit hundertachtzig Sitzen zu groß für eine Experimentierbühne, aber eine reine Experimentierbühne hatte er sowieso nie leiten wollen. Für eine Kommerzbühne war es wiederum zu klein. Es hielt so ungefähr die Mitte. Wie Sebastian selbst auch. Er spielte ein breites Spektrum. "In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod" - der Sinnspruch des Friedrich von Logau war ihm wohlbekannt; oft war ihm der Satz auch von Wohlmeinenden vorgehalten worden, die ihn davor warnten, unentschlossen in einem ungefähren Raum des "sowohl-als-auch" hängen zu bleiben; daraus könne nichts werden, hieß es, man müsse künstlerisch Stellung beziehen. Meistens waren das Lehrer oder sonst wie abgesicherte Kulturkonsumenten, die ihm die Gefahren des Mittelwegs ausmalten. Sie sahen nicht, dass die geheime Landeslosung "sowohl-als-auch" hieß. Das eine tun, das andere aber nicht lassen, darin erblickten die Entscheidungsträger des Landes das Heil. Dass dabei Wischiwaschi herauskam, lag in der Natur der Sache und entsprach, freundlicher formuliert, der "ausgleichenden Natur des Alemannen" in der Selbstbeweihräucherungsliteratur der Region. Sebastian Morselli hatte sich nach seiner Sturm-und-Drang-Phase damit abgefunden. Und bis jetzt war es ja auch nicht schlecht gelaufen. Sich mit Theophil Pontisek in der Schule nie gestritten zu haben, zahlte sich noch nach Jahrzehnten aus. Bis heute Nachmittag. Da hatte ihm der Landesrat mitgeteilt, dass er ihm die Subvention kürzen müsse. Warum? Wegen einer "Restrukturierung" des ganzen Kulturunterstützungssystems, einer "Neubewertung".
Sebastian gehörte zu den Menschen, die auf Herausforderungen nicht adäquat reagieren. Bei Explosionen rennen diese Menschen nicht weg, sondern fallen erst in Schockstarre und dann um. Bei ihm äußerte sich die Erstarrung darin, dass er auf die forsch vorgetragene Kürzungsdrohung Pontiseks mit "aha" und "ah so" antwortete, wofür er sich noch tagelang schämte, statt dem Landesrat zu sagen, er solle sich doch die "Restrukturierung" in eine dafür geeignete Körperöffnung schieben und die "Neubewertung" gleich hinterher - aber der Spruch fiel ihm erst nach einer Stunde ein, die er, die Hände auf dem Bauch gefaltet, auf dem Sofa in der Kammer mit dem Kopierer hinter seinem Büro verbrachte. Das Kabuff war schlecht belüftet und nicht größer als eine Gruft, er fühlte sich passend: tot. Ich bin schon tot, fiel ihm ein, ich kann genauso gut hier liegen bleiben. Schön ruhig, niemand stört. Er brauchte eine Stunde, bis seine Lebensgeister wieder erwachten. Wenn man es genau nimmt, war es eigentlich nur ein Geist, der wieder erwachte, der dafür umso mächtiger. Der Geist der Rache. Der Geist der Rache ließ ihn aufstehen, ein zweites Bier trinken und sein Notizbuch durchblättern. Sebastian Morselli war gut vernetzt. In seinem Buch standen viele Menschen, denen er nun das Herz ausschütten, von denen er Rat erbitten konnte - darunter solche, bei denen dieses Vorhaben eher zu einer öffentlichen Verlautbarung führen würde, aber auch solche, die ihm helfen würden. Als er schon den ersten von ihnen anrufen wollte, zögerte er. Diesen Menschen (der Name tut nichts zur Sache) kannte er seit etwa vier Jahren - damals war der Betreffende in die Kulturabteilung des lokalen Radios eingetreten. Er hatte die Aktivitäten des Theater Vorwärts! von Anfang an mit größtem Wohlwollen verfolgt und dieses Wohlwollen auch in seine Berichterstattung einfließen lassen, ein Freund also.
Wenn man es aber genau überlegte, konnte die Freundschaft dieses Menschen auch auf die bekannte Tatsache zurückzuführen sein, dass Sebastian mit dem Landesrat in dieselbe Klasse gegangen war. Die ersten Interviews mit dem Landesrat und dem Radiomenschen hatte Sebastian vermittelt, wie ihm nun einfiel, obwohl das schon vier Jahre her war; der Geist der Rache ist ein überaus lebendiger Geist, er aktiviert die seltsamsten Regungen und Fähigkeiten des Menschen, bringt Vergessenes wieder ins Bewusstsein, das er mit seinem gleißenden Licht durchdringt. Dass er mit dem Landesrat gut war, wusste jeder in seinen Kreisen, mit Ausnahme von Theodor Lukasch vielleicht, aber diese Schriftsteller waren sowieso etwas eigen, das hieß nichts.
Er blätterte weiter. Und bei jedem Namen, den er heranzog, war er nicht sicher, wie der auf seine schlechten Nachrichten reagieren würde. Für keinen von ihnen würde er seine Hand ins Feuer legen. Ernüchternde Erkenntnis: Er hatte keine Freunde. Alle hatten ihn nach dem Landesrat kennengelernt, soll heißen, als Theophil Pontisek schon Landesrat war und seine Freundschaft mit ihm schon bekannt war. Ja, genau: war. Pontisek war sein Freund gewesen von der Schule her. Wer einen subventionierenden Landesrat hat, braucht im Grunde keine anderen Freunde und hat darum auch keine. Wenn allerdings der Landesrat kein Freund mehr ist, hat man gar keine mehr. Null. Was man aber immer noch hat, ist die Familie. Also rief Sebastian keine Nummer aus seinem Büchlein an, sondern eine, die dort nicht drinstand, weil er sie im Kopf hatte. Er rief seine Schwester an und erzählte ihr alles. Die hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, dann sagte sie:
"Komm her."
Das bedeutete, sie würde ihm einen Rat geben, der zu kompliziert für das Telefon war. Die meisten ihrer Ratschläge umfassten nur zwei, drei Sätze. Damit kam er dann auch durch. Michaela hatte ihm noch nie einen schlechten Rat gegeben. Sie war die große Rückversicherung in seinem Leben und hatte ihn durch jede seiner zahlreichen Krisen getragen. Michaela war zehn Jahre älter als er und mehr mit seiner Erziehung befasst gewesen als die von ihren Stressberufen in Beschlag genommenen Eltern (beide Mediziner). Michaela war die "ältere Schwester" in der idealtypischen, klassischen Ausprägung, wie er wohl wusste. Sie tat das, was ältere Schwestern tun sollen: den kleinen Bruder vor allem Unbill der Welt beschützen. Sich selbst in Acht zu nehmen kam bei dem Job eventuell ein bisschen zu kurz, was ihm erst nach vielen Jahren auffiel. Aber da war es zu spät. Auch die zweite Ehe der Schwester war gescheitert. Er selbst war das Wagnis einer festen Beziehung erst gar nicht eingegangen; eine Frau wie seine Schwester hatte er trotz langer Suche nicht gefunden.
Er sperrte ab und trat in den beginnenden Herbstabend hinaus. Alles um ihn herum nass und grau, besonders die Einfamilienhäuser aus den Sechzigerjahren, keines von ihnen mit grauem Anstrich, sie sahen bei der Beleuchtung nur so aus. Sein Theater strahlte sonnengelb aus der vorstädtisch-ländlichen Tristesse hervor wie ein Sommerversprechen. Die teure Farbe hatte sich gelohnt. Auswärtige...
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