Schweitzer Fachinformationen
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Ein langsames Auftauchen, wie vom Grunde eines Sees hinauf. Sie spürt ein leichtes Frösteln auf der Haut. Wie lange hat sie geschlafen? Eine Stunde oder wenige Minuten? Vorsichtig dreht Almut den schmerzenden Kopf zur Seite, nur ein bisschen zur linken Seite, wo auf dem Nachtisch neben dem Bett der Wecker steht. 14:52 Uhr. Es braucht eine Weile, bis die Zahlen den Weg in ihren Kopf finden. Dann hat sie doch beinahe eine Stunde geschlafen. Ein leichter, fast traumloser Schlaf, bis auf das Gesicht von Hans, das sie in sich trägt. In den Nächten wie am Tag. Das dumpfe Pochen hinter den Schläfen ist noch da, der Schnee vor dem Fenster ist noch da. Weiße Schneeflocken wie dicke, taumelnde Hummeln. White bumblebees. Auf seine alten Tage wollte Hans unbedingt noch Englisch lernen (oder vielmehr: endlich Englisch lernen), ein grauhaariger Siebzigjähriger, der mit einer vergilbten DDR-Ausgabe eines englisch-deutschen Wörterbuchs neben ihr im Bett liegt und Vokabeln wie Gedichte rezitiert. Es gibt Tage, da scheinen ihr die drei Jahre seit seinem Tod eine halbe Ewigkeit, an anderen Tagen muss sie sich nach dem Aufwachen erst orientieren, wie in den ersten Tagen und Wochen. Almut blinzelt abermals in Richtung der rot leuchtenden Anzeige ihres Weckers. Noch eine Stunde, bis Kristine kommt, sicher wieder mit dem Fahrrad, trotz des Schneetreibens draußen. Es wird besser sein, heute drinnen zu bleiben, aber kräftig durchlüften muss sie vorher noch mal. Almut weiß, dass es im Zimmer nach Alter und Tabletten riecht, sie riecht es ja selbst jedes Mal, wenn sie nach einem Spaziergang an der frischen Luft in die Wohnung zurückkehrt. In ein, zwei Monaten wird sie die Fenster wieder Tag und Nacht offen lassen können, tagsüber weit offen und nachts zumindest angekippt, dann wird sie auch wieder auf einer der Bänke unten im Park sitzen können, erst auf der Sonnenseite mit Blick auf die große Wiese, wo sich die Jongleure und Hundebesitzer treffen, und später, wenn die Sonne schon morgens heiß im Nacken und auf den Schultern brennt, wird sie in den Schatten unter die Bäume am Spielplatz wechseln. Gleichmäßig atmet sie gegen das Pochen in ihren Schläfen an. Vier Zählzeiten ein, vier halten, vier Zählzeiten aus, wie sie es bei einer Kur im Harz vor einigen Jahren gelernt hat. Und vor dem Fenster taumeln die weißen Flocken dazu.
Nun muss sie aber langsam aufstehen, die Dinge brauchen ihre Zeit. Sich mit leichtem Schwung über die Seite aufrichten, die bestrumpften Füße ertasten das glatte Laminat, einen Punkt an der Wand gegenüber fokussieren. Sich auf die nächste Bewegung konzentrieren, damit das Gleichgewicht (der untreue Gefährte) sie nicht verlässt. Es gibt die guten und die schlechten Tage. An guten Tagen beschränkt sich die Krankheit auf den Tremor in den Händen und das Gesicht im Spiegel wirkt einigermaßen vertraut. An schlechten Tagen scheint der gesamte Körper wie eingefroren. Wenn sie an schlechten Tagen zu schnell aufsteht, kann es passieren, dass sie das Gleichgewicht verliert.
Dabei ist es ihr Kopf, der die Kontrolle verliert. In den Patientenbroschüren und Fachbüchern steht geschrieben: Im Gehirn eines Parkinson-Patienten können Bewegungsimpulse nur noch ungenügend weitergeleitet werden. Die Broschüren und Bücher sagen aber auch: Betroffene mit einem Tremor können auf einen günstigeren Verlauf der Krankheit hoffen. Es ist möglich, dass der Tremor hier über Jahre das hauptsächliche Symptom bleibt. Doch auch bei diesen Patienten werden die Phasen guter Beweglichkeit mit der Zeit immer kürzer. Im Spätstadium wird ein Hilfsbedarf bei der Ernährung, der Körperpflege und anderen Verrichtungen des Alltags anfallen. In vielen Fällen kommt es zur Bettlägerigkeit, dann muss gegen Lungenentzündung und Thrombose vorgebeugt werden.
Über all das weiß Almut Bescheid. Sie hat sich frühzeitig informiert, was auf sie zukommen wird. Sie hat in den Wochen nach der Diagnose, zusammen mit Hans, all die Broschüren und Bücher gelesen. Das war 1994. Und ihre Tochter Elli, damals erst zwanzig und gerade zurück aus New York, hat sich ebenfalls informiert. Die Tochter im Arm halten und ihre Angst und Sorge aushalten. Die eigene Angst für sie zurückhalten. Zuversichtlich sein. Mit der Zeit haben sie sich an die Krankheit wie auch an die Zuversicht gewöhnt.
Mit flatternden Händen drückt sich Almut von der Bettkante hinauf in den Stand. Das Bett hat genau die richtige Höhe für ihren Körper. Eine Maßanfertigung aus dem Holz ihres alten Ehebetts, sie habe da eine Idee, hatte Elli nach Hans' Tod gesagt, und ihren Entwurf in der Werkstatt eines befreundeten Bildhauers eigenhändig in die Tat umgesetzt. Mit dem Tod des Vaters kehrte die Sorge zurück, und ist seitdem ein Dauergast in Ellis Kopf, egal was Almut dagegen vorzubringen weiß. Am Telefon, und neuerdings auch per Skype. Almut will keine Last sein. Das wollte sie nie. Wozu sollen die Erfahrungen, das Lernen aus dem eigenen Tochtersein sonst gut sein, wenn nicht dafür, die Abzweigungen in der Wiederholung zu finden, diese kleinen, selbst geschaffenen Pfade, die mit ein bisschen Glück auf neue, unbekannte Wege führen. Es ist nicht Aufgabe der Kinder, sich um die Eltern zu sorgen. (Eine im Laufe vieler Jahre hart erarbeitete und inzwischen tief sitzende Überzeugung.) Es ist Aufgabe der Kinder, für sich selbst und irgendwann auch für die eigenen Kinder Sorge zu tragen. Letzteres: Ein wunder Punkt ihrer Tochter. Almut umrundet das Bett, das ihre sichere Insel ist, berührt das abgeschliffene, hell geölte Holz. Wie begabt und geschickt die rauen Hände ihrer Tochter Elli sind, das konnte man bereits an den ersten Basteleien im Kindergarten sehen und später an den Schnitzereien mit Hans' Taschenmesser und noch später an den Arbeiten mit Feile, Säge und Lötkolben im Werkunterricht. In der Kindergartenzeit hat sie ihr Mädchen noch Eliska genannt, die tschechische Koseform von Elisabeth, doch in der Schule hat sich schnell die Kurzform Elli durchgesetzt. Der alte Kosename überdauert als Anrede in Briefen, auch kommt er Almut in den Sinn, wenn sie sich verabschiedet oder die Tochter Kummer hat.
Vom Bett geht es über die Schwelle zum Flur, im Flur an den Jacken, dem Wintermantel und dem Schuhregal vorbei, am Staubsauger vorbei, bis zur Tür des kleinen, fensterlosen Badezimmers. Lichtschalter an, Lüftung an. Vor allem der Toilettengang braucht seine Zeit, das umständliche Nesteln an den Sachen, heute stürmt es wieder mächtig, hat sie zu Hans gesagt, wie beiläufig und etwas spöttisch zugleich, wenn er wieder einmal vor ihr in die Knie ging, um ihr mit den Knöpfen oder Reißverschlüssen zu helfen, und sie die Gelegenheit nutzte, sein weiches, immer dünner werdendes Haar zu zerzausen. Hans war es auch, der Elli nach ihrem Jahr in den USA von einem Medizinstudium ab und zum Theater hingeraten hatte: Du brauchst eine Bühne für deine Hände und keinen OP-Saal! Am Theater sind sie sich dann über den Weg gelaufen, Elli und Kristine, bei einem dieser Praktika während des Studiums, die Bedeutung des Wortes musste sich Almut erst erfragen. Ich habe jemanden kennengelernt, hatte Elli damals erzählt, und Almut dachte im ersten Moment an einen Mann. Doch die Männer kamen und gingen in dieser Zeit noch unerzählt und wurden ihr erst Jahre später vorgestellt. Almut lächelt zufrieden, als sich der Reißverschluss endlich schließt.
Auf dem Weg zur Küche fällt ihr Blick wieder auf den Wecker neben dem Bett, jetzt ist es schon kurz vor vier. Wasser aufsetzen für den Tee, Teller raussuchen, das Klirren der Hände im Besteckkasten. Elli wird nun schon vierzig dieses Jahr, und wenn Almut genau hinschaut, sieht sie die kleinen Fältchen unter den Augen, da wo die Haut am sichtbarsten müde wird, aber sonst? Seit Jahr und Tag trägt Elli ihre grauen oder schwarzen Jeans und einfarbige T-Shirts dazu, das dicke, gewellte und orangerot gefärbte Haar am Hinterkopf mit einem Gummi verknotet, und ab Herbst holt sie den obligatorischen Parka aus dem Schrank, mal grün, mal braun, mal dunkelblau mit Fellkragen. Wie Almut dagegen als junge Frau aussah, mit Mitte zwanzig im Grunde schon wie Mitte vierzig, sie erinnert sich noch gut an die schlecht sitzenden, dunklen Kostüme und den unvorteilhaften Pagenschnitt. Inzwischen sind die Haare kurz und pflegeleicht wie nie und die Falten trotz jahrelanger Cremerei wie feine Schnitte auf einem alten Küchenbrett verteilt, einundachtzig Lenze in den Knochen und im Fleisch, und im September wird wieder ein Jahr draufgerechnet. Im Wasserkocher brodelt es, Almut legt ein gefaltetes Geschirrtuch um die Kanne und gießt mit beiden Händen vorsichtig das heiße Wasser auf. Was dabei danebengeht, saugt das Geschirrtuch sofort auf. Dann greift sie nach den Aluminiumstreifen neben dem Brotkorb und drückt sich drei Tabletten in die Hand. Die große weiße geht am schwersten, die ovalen, farbigen sind mit einer Art Plastikfilm überzogen, das hilft beim Schlucken. Das Schwerste immer zuerst, dann hat man es hinter sich. Almut gießt sich ein Glas Leitungswasser ein, schiebt sich die weiße Tablette in den Mund und verspürt einen leichten Würgereflex. Sie schließt die Augen und trinkt das lauwarme Wasser hinterher. Langsam schiebt sich das gepresste, bittere Pulver durch die enge Speiseröhre, eine halbe Ewigkeit, so kommt es ihr vor, dann schickt Almut die beiden anderen Tabletten hinterher.
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