Schweitzer Fachinformationen
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Es war eine Adresse seitlich der Bahnhofstraße in der Nähe des Sees, ein gut erhaltenes mehrstöckiges Gebäude mit Türmchen und Giebeln, das wie die gesamte Häuserzeile der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu entstammen schien. Emilio Volpe wusste nicht viel über europäische Baustile, dieser war wohl als klassizistisch zu bezeichnen und stand für die Epoche einer Stadt, die es während der Industrialisierung zu großem Wohlstand gebracht hatte.
Er ging in den zweiten Stock hinauf. Dr. Andreas Leuthard & Partner, Rechtsanwälte, las er auf dem Schild. Er wartete, bis sich sein Atem beruhigt hatte, bevor er auf die Klingel drückte. Die Tür schwang auf, und eine junge Frau in einem dunklen Kostüm lächelte ihn an. Sie begrüßte ihn auf Englisch und bat ihn herein. Nachdem sie ihm den Mantel abgenommen hatte, sagte sie mit dem gleichen Lächeln, Dr. Leuthard werde gleich bei ihm sein. Ob er Platz nehmen wolle? Und ob sie schon ein Getränk vorbereiten dürfe?
Er bedankte sich, später vielleicht. Während sie hinter einer Tür verschwand, blickte er sich um. Es gab einiges zu sehen. Die Anwaltspraxis war weitläufig, sehr modern eingerichtet und mit Repliken bekannter Designermöbel ausgestattet. Zeitgenössische Kunst hing an den Wänden, sehr gute Stücke, wie er bei näherer Betrachtung entdeckte, davon verstand er etwas, er war selbst Sammler.
Ein hochgewachsener, sehr schmaler Mann mit spitzen Gesichtszügen eilte auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
"Grüezi, Herr Doktor, ich bin Andreas Leuthard. Willkommen in Zürich. Verzeihung, vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn wir uns auf Englisch unterhalten?"
"Ja, mein Deutsch ist nicht gut genug für eine solche . Angelegenheit."
"Selbstverständlich." Leuthard machte eine einladende Geste und ging voraus in sein Büro, in dem Kunst nicht nur an den Wänden zu finden war, sondern auch auf dem Schreibtisch, verspielt angeordnete kleinere Objekte und ein Mobile von Calder. Er deutete auf den Sessel gegenüber. "Bitte."
Die Assistentin schwebte herein, beide Männer baten nun um Espresso und Wasser. Sie rührten in ihren Tassen, bis Leuthard den Blick hob, sich räusperte und begann: "Herr Dr. Volpe, dürfte ich zunächst um Ihren Pass bitten, damit wir eine Kopie für unsere Unterlagen machen können? Nur eine Formalität natürlich", sagte er in fehlerlosem Englisch und mit gewinnendem Lächeln. Wortlos wurde das Dokument überreicht. Leuthard warf einen Blick darauf. "Ja, alles bestens. Dr. Emilio Volpe, geboren 1962, wohnhaft in Buenos Aires, Argentinien, Beruf Arzt." Er stutzte einen Moment. "Volpe klingt für mich nach einem italienischen Namen."
"Ein Teil meiner Familie stammte aus Norditalien, aus dem Friaul, das ist mehrere Generationen her."
"Ich verstehe", murmelte Leuthard. Er zog eine Mappe mit Papieren hervor, legte sie auf den Schreibtisch und sah seinem Gegenüber ins Gesicht.
Aus der Nähe erschien der Anwalt weniger jugendlich, als sein Auftreten es vermuten ließ, ein Experte wie Emilio Volpe wusste die Zeichen zu deuten, er erkannte in jedem Gesicht das erbarmungslose Wirken der Schwerkraft. Zu seiner Verblüffung stand Leuthard jetzt auf und trat ans Fenster.
"Verzeihen Sie mein Zögern", sagte der Anwalts leise, "aber dieser Fall wirft Fragen auf, und ich weiß noch nicht, wie ich einige Aspekte einschätzen soll. Deshalb hoffe ich, dass Sie ein paar Antworten für mich haben." Er wandte sich um und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. "Wie Sie bereits informiert worden sind, vertrete ich die Interessen der kürzlich verstorbenen Enrietta da Silva. Vor vielen Jahren haben wir sie in einer Urheberrechtsfrage beraten, und daraus entstand eine langjährige Geschäftsbeziehung. Meine Mandantin ist vor Kurzem im Alter von fünfundachtzig Jahren friedlich eingeschlafen, und sie hat ihre letztwilligen Dinge in meine Hände gelegt."
Leuthard nahm eines der Objekte auf seinem Schreibtisch in die Hand und bewegte es zwischen den Fingern, die kleine, rundlich geformte Skulptur eines Elefanten aus geschwärztem Eisen.
"Sie hat ein Testament hinterlassen. Darin sind Sie als einer der Erben eingesetzt. Ich verstehe allerdings bisher nicht, warum, um ehrlich zu sein, denn sie hat Sie mir gegenüber nie erwähnt. Als sie das Testament bei mir aufgesetzt hat, war sie aber trotz unserer vertrauensvollen Beziehung nicht bereit, nähere Angaben zu Ihrer Person zu machen und mir die Gründe für diese Erbeinsetzung zu erläutern." Leuthard legte die Fingerspitzen gegeneinander und richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Bild an der Wand neben der Tür.
Volpe, der bei den letzten Worten des Anwalts reglos in seinem Stuhl gesessen hatte, drehte sich um. Es war ein abstraktes Gemälde, in aggressiven Rot- und Gelbtönen gehalten, sehr unruhig, mit kräftigem Strich. Er mochte es nicht.
"Ich bin als Testamentsvollstrecker eingesetzt", fuhr Leuthard fort. Er hüstelte. "Bei einem Nachlass dieser Größenordnung muss geklärt sein, in welcher Beziehung Sie beide zueinander standen, Sie verstehen sicher."
Er misstraut mir, dachte Volpe, als er in Leuthards schmale graue Augen blickte. "Wie ich schon in meiner Antwort auf Ihre Mail geschrieben habe, bin ich äußerst überrascht", sagte er nach kurzem Überlegen. "Sie erwähnten, dass es sich um ein bedeutendes Erbe handelt. Darf ich fragen, um wie viel?"
"Natürlich", erwiderte Leuthard geschmeidig. "Es geht zunächst um einen Betrag von etwa fünfzehn Millionen Schweizerfranken an Barvermögen. Dazu kommen Sachwerte, die aus Immobilien, Kunstgegenständen und Schmuck bestehen. Insgesamt dürfte es sich um ein Volumen von mehr als zwanzig Millionen handeln."
"So viel .?"
"Ja, sie hat mit ihren Büchern sehr gut verdient."
"Nur mit ihren Büchern?" Volpe versuchte erst gar nicht, seine Skepsis zu verbergen.
"Auch wenn Sie sich das vielleicht kaum vorstellen können, war es so." Leuthard gestattete sich ein schmales Lächeln. "Ihre Romane haben sich über einen langen Zeitraum weltweit verkauft, dazu kamen die Filmrechte. Außerdem hat sie ihr Vermögen sehr geschickt angelegt."
Volpe blinzelte, er begriff immer weniger. "Sie sagten, ich sei einer der Erben. Wie darf ich das verstehen?"
"Es gibt einen Miterben. Das Vermögen von Frau da Silva wird zwischen Ihnen beiden aufgrund des Testaments zu gleichen Teilen aufgeteilt."
Volpe war vorerst verstummt.
"Jetzt bitte ich Sie", meldete sich Leuthard wieder, "mich darüber aufzuklären, welcher Art die Beziehung zwischen meiner verstorbenen Mandantin und Ihnen gewesen ist."
Und als der Arzt immer noch nicht reagierte: "Lieber Herr Dr. Volpe, Sie leben in einem sehr fernen Land, und von hier aus ist es für uns schwierig, die Fakten zu eruieren. Deshalb ist im Interesse einer raschen Abwicklung Ihre Kooperation erforderlich."
Volpe hob die Hände und ließ sie sinken. "Was erwarten Sie von mir, was soll ich tun?"
"Da Sie in erheblichem Maße begünstigt sind, ist ja wohl davon auszugehen, dass Sie mir eine Erklärung dafür liefern können." Leuthards eben noch so verbindliche Gesichtszüge verschlossen sich wieder.
"Es tut mir leid, das kommt alles so plötzlich", murmelte Volpe. Seine Großeltern waren gleich nach dem ersten Weltkrieg aus Deutschland nach Argentinien ausgewandert, der Großvater war Lehrer gewesen und ein großer Liebhaber hispanischer Geschichte und Kultur. Bevor er eine Anstellung an einer deutschen Schule in Buenos Aires gefunden hatte, schlug er sich mit Privatstunden für die Sprösslinge der begüterten Familien durch, die er in spanischer Geschichte und in Englisch unterwies. Emilio Volpes Vater Ernesto wurde 1925 geboren und heiratete Ende der Fünfzigerjahre eine viel jüngere Frau. Ernesto war Universitätsprofessor gewesen und hatte einen Lehrstuhl für spanische Literatur in Buenos Aires. Seine Frau war die Tochter eines Kollegen. Die Ehe verlief glücklich, doch der 1962 geborene Emilio blieb das einzige Kind, seine Mutter starb früh bei einem Verkehrsunfall.
Der heranwachsende Emilio zeigte zwar andere Interessen, als sein Vater es sich gewünscht hätte, denn er interessierte sich nicht für die intellektuelle Welt, in der sein Vater zu Hause war. Doch als er sich für ein Medizinstudium entschied, gab es darüber keine Diskussionen. Vor dreizehn Jahren war Emilios Vater gestorben, er hatte dem Sohn eine umfangreiche Bibliothek hinterlassen und einige persönliche Dokumente, darunter einen Briefwechsel zwischen Emilios Großeltern kurz vor deren Heirat, in dem es um die bevorstehende, gemeinsam geplante Auswanderung gegangen war. Ein berührendes Zeugnis über die Ängste und Hoffnungen, die mit einem solchen Schritt verbunden gewesen waren. Für die Großeltern hatte demnach die desaströse politische Lage im Europa jener Zeit eine entscheidende Rolle gespielt.
All das erzählte Emilio Volpe in verkürzter Form dem Zürcher Anwalt, dessen Gesichtszüge sich während dieses Berichts etwas entspannten. "Ich danke Ihnen sehr, Herr Dr. Volpe", sagte er, "zumindest verstehe ich Ihren familiären Hintergrund jetzt besser. Aber .", seine Miene verdüsterte sich erneut, ". aus dieser Familiengeschichte erklärt sich noch immer nicht Ihre Verbindung zu Enrietta da Silva." Er zog die Brauen zusammen und starrte auf seine Schreibtischplatte. "Da die Erblasserin unseres Wissens ja keine leiblichen Abkömmlinge hat, ist die Situation nicht kompliziert. Sie und die andere begünstigte Person bilden eine Erbengemeinschaft."
Volpe...
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