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Als Gregor aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich von schwärzester Dunkelheit umgeben. Nicht dass es ihn überrascht hätte, war dies doch seit jenem ersten Morgen so. Noch leicht benommen tasteten seine Finger sofort Brust und Bauch ab, als habe er Angst, etwas Seltsames sei während des Schlafes mit ihm und seinem Körper passiert. Er verspürte jedoch nichts Ungewöhnliches, keine panzerartige Versteifung seines Bauches etwa, die ihn in einen ungeheuren Käfer verwandelt hätte, oder etwas vergleichbar Beängstigendes. Selbst seine Beine lagen unverändert schwer auf der harten Matratze, ohne zu dünnen Insektengliedmaßen geschrumpft zu sein.
Er wusste nicht, woher diese Ängste kamen, die ihn in letzter Zeit so häufig heimsuchten, vermutete jedoch, dass sie mit seiner gegenwärtigen Situation zu tun hatten. So war es nur wahrscheinlich, dass der Verlust seiner Freiheit und das damit verbundene Gefühl von Hilflosigkeit Bilder in ihm wachriefen, deren Vorhandensein ihm längst entfallen war. Warum in aller Welt sollte er sonst - wenn auch nur im Traum - auf den Gedanken kommen, in einen Zustand tierhaften Dahinvegetierens zurückgeworfen zu werden?
Er richtete sich auf seiner Pritsche auf, lauschte in die Schwärze hinein, kniff die Augen zu, bis ein Blitzen hinter geschlossenen Lidern die Illusion weckte, von lichter Helligkeit umschlossen zu sein.
In dem Augenblick war ein schepperndes Geräusch zu hören, wurde irgendwo in seinem Rücken eine Tür geöffnet, sodass mit einem Mal graues Licht in den Raum drang. Er wusste, dass es Marek war, der ihm, wie jeden Morgen, das Frühstück brachte. Marek, der kein Wort sprach, der ihm auf seine Fragen keine Antworten gab, Marek, der ihn stets aus blassen slawisch-blauen Augen ansah, als wollte er ihn allein durch die Intensität seines Blicks zu einem Eingeständnis seiner Schuld zwingen.
Marek war es auch, der ihn, manchmal mitten in der Nacht, aus dem Schlaf riss, ihn zu einem der Verhöre am Ende des Ganges brachte und ihn nach den endlos langen Fragen, auf die er keine Antworten wusste, wieder zurück in seine Zelle führte. Irgendwann hatte er begonnen, jede Aussage zu verweigern. Sollten sie ihn doch verhören, er würde nicht mehr auf ihre Fragen antworten. Ohnehin würde nichts dabei herauskommen, zumindest nichts Wahres. Er wusste ja selbst nicht, was passiert war.
Dennoch änderte sich nichts an den Abläufen: Marek, der ihn abholte und nach hinten brachte, die Fragen, auf die er nicht zu antworten wusste, der Weg zurück in seine Zelle. Und Marek, der jegliches Gespräch verweigerte.
»Hier ist es unerträglich dunkel«, sagte Gregor.
Marek stellte das Tablett auf den klobigen Metalltisch neben der Pritsche, ohne die Andeutung einer Reaktion zu zeigen. Gregor beobachtete ihn, verfolgte jede seiner Bewegungen mit großer Anstrengung.
»Eigentlich will ich nur wissen, warum ihr mich hier immer noch festhaltet«, fuhr er fort.
In den letzten Tagen und Wochen hatte er Marek und den Männern, die ihn verhörten, diese Frage wieder und wieder gestellt, doch nie eine Antwort erhalten. Seine Stimme hatte im Lauf der Zeit einen flehenden Ton angenommen, wofür er sich gelegentlich schämte. Warum, so fragte er sich in solchen Momenten, warum sollte er sich wie ein Bittsteller verhalten, der jeglichen Anspruch auf Freiheit verwirkt hatte? War es denn nicht eher so, dass seine Inhaftierung ohne jede Berechtigung erfolgt war?
Das Licht, das durch die geöffnete Tür in die Zelle drang, gewann an Intensität, und die Kargheit des Raumes war nun deutlich zu erkennen. Auch Marek war nicht mehr nur ein Schatten, der schwerfällig und stoisch seine Arbeit verrichtete. Immer, wenn er Gregor besonders nahe kam, nahm dieser das struppige weiße Haar des Mannes wahr, die Pupillen in seinem müden Gesicht, die konzentriert seinen Verrichtungen folgten, den gebeugten Rücken, die abgetragene Uniform. Einen Moment lang glaubte er jetzt gar, dass sich im Gesicht des alten Mannes etwas regte. War da etwa ein Flackern in seinen Augen? Es schien ihm, als habe Marek seine Worte verstanden . Aber vergebens hoffte er und schnell wurde ihm klar, dass nur das hereinfallende Licht die Züge in Mareks Gesicht mit Leben gefüllt hatte.
Auch heute würde er keine Antwort erhalten.
Warum nur war er hier? Er hatte doch nichts Böses getan. Sie hatten ihm zuerst nicht einmal sagen wollen, wo er sich befand. Erst nach Tagen war ihm aufgrund so mancher Andeutung klar geworden, dass er in einem tschechischen Gefängnis gelandet war. Zumindest vermutete er dies. Seine Fragen nach dem Grund seiner Inhaftierung und den gesetzlichen Voraussetzungen dafür hatten sie ignoriert, ihn damit getröstet, dass er demnächst über sämtliche Hintergründe informiert werden würde. Nichts war jedoch bislang geschehen.
Immer wieder hatte er zu Protokoll gegeben, dass er sich an die Zeit vor seiner Inhaftierung nicht erinnern könne. Auch nicht an seine Festnahme. Die verhörenden Beamten - es waren nicht immer dieselben - notierten seine dahin gehenden Aussagen zwar, aber er hatte nicht den Eindruck, als würden sie ihm glauben. Als er ihnen auch auf die Frage nach seinem Namen eine Antwort schuldig blieb - schuldig bleiben musste -, hatten sie angefangen, ihn Gregor zu nennen. Anfangs empfanden sie dies wohl als erheiternd, denn bei jeder Nennung dieses Namens lachten sie herzhaft und ein Anflug von Menschlichkeit spiegelte sich - so erschien es zumindest Gregor - in ihren Zügen. Ihm selbst sagte der Name jedoch nichts.
Auf seine Bitte, ihm ein Gespräch mit dem Botschafter seines Heimatlandes zu ermöglichen, reagierten sie eher ironisch. Welchen Botschafter er denn sprechen wolle, hatten sie gefragt, den deutschen oder österreichischen oder gar den Schweizer Vertreter. Vielleicht sogar den Niederländer . Da hatte er nicht gewusst, was er antworten sollte.
Was wusste er überhaupt? Es war nicht viel. Als er irgendwann zu sich gekommen war, hatte er, ohne dass er einen Grund dafür nennen konnte, eine Erektion gehabt, und er hatte sich dabei ertappt, dass die Finger seiner rechten Hand sein Glied umschlossen hatten. Es war ein eigenartiges Gefühl gewesen, aber keines, das er als unangenehm empfunden hatte. Gleichzeitig waren Bilder in seinem Kopf gewesen, die wohl etwas mit seiner den flüchtigen Träumen geschuldeten Erregtheit zu tun hatten. Kaum fassbare Bilder, die sich sofort wieder in Nichts aufgelöst hatten. Einen winzigen Moment lang waren sie, zwischen unbeschreiblicher Glückseligkeit und blankem Entsetzen treibend, da gewesen. Erst Sekunden später hatte sein Denken eingesetzt, und es war nicht die Frage, wer er war, die ihn in Panik versetzte, sondern seine Verlorenheit in der Dunkelheit, die ihn umhüllte. Er hatte das Gefühl gehabt zu schweben, nicht mehr in der Lage zu sein, zwischen oben oder unten unterscheiden zu können.
Als er sich von seiner ersten Verwirrtheit befreit hatte, beschloss er, sich mit dem Dunkel, das ihn umfing, vertraut zu machen. Er richtete sich auf, wobei ihn ein Gefühl von Schwindel überkam Erst aber, als er - vorsichtig tastend - einen Fuß auf festen Grund gesetzt hatte, empfand er ein Gefühl von Sicherheit und der Schwindel ließ nach, verschwand schließlich gänzlich. Dennoch dauerte es eine Ewigkeit, bis er mit beiden Beinen auf einem Boden stand, der sich - er hatte sich gebückt und die Fläche vor ihm ertastet - als kalter Betonboden erwies.
Mit nach vorn gestreckten Armen war er dann Schritt für Schritt erst in die eine, dann in die andere Richtung gestolpert, ständig gewärtig in ein dunkles Nichts hinabzustürzen. Er war jedoch nur gegen blanke Wände getaumelt - fand in einer Ecke ein Waschbecken, eine stinkende Kloschüssel, eine hölzerne Tür - feuchte Wände, die ihn von jeder Seite umschlossen. Zumindest eine Vorstellung von den Ausmaßen des Raumes erhielt er dabei:
Ein Kerkerloch von circa drei Metern Länge und drei Metern Breite.
Wie nur war er hierhergekommen? Jegliche Erinnerung fehlte.
Dann ging Marek, nachdem er seine Arbeiten verrichtet hatte, ließ ihn allein zurück. Zumindest hatte dieser, ehe er die Tür schloss, eine vergitterte Luke geöffnet, durch die fahles Licht hereinfiel, sodass er, Gregor, sein Frühstück nicht in absoluter Dunkelheit einnehmen musste.
Von irgendwoher konnte er Geräusche unbekannter Herkunft vernehmen: Das ferne Gepolter von Straßenbahnen, ihr gelegentliches helles Klingeln, das Scheppern der Müllabfuhr, das Gestotter eines Presslufthammers. Stimmen, die der Wind herübertrug.
Ein Gefühl totaler Vereinsamung bemächtigte sich seiner. Was ihn aber am meisten quälte, war die Tatsache, dass er keine Vorstellung von seinem Gesicht, von seinen Gesichtszügen hatte. Ihm war, als habe er die Grenze zwischen sich und seiner Umwelt verloren. Wer war er nur? Hunderte Male hatten seine Finger tastend versucht, ein Bild herbeizurufen, an das er sich hätte erinnern können. Vergeblich. Kurzes, volles Haar, eine hohe Stirn, die Nase kräftig, schmale Lippen - mehr war es nicht, was sie ihm sagen konnten. In seiner Zelle gab es keinen Spiegel, keine reflektierende Scherbe, nichts, das ihm eine Ahnung davon hätte geben können, wie er aussah. Und selbst als er sich vor die Kloschüssel in seiner Zelle hingekniet hatte, um sich im trüben Wasser, das darinstand, zu erkennen, hatte sich ihm nur übel riechende Dunkelheit gezeigt.
Marek kam hin und wieder, rasierte ihn. Aber auch er brachte nie einen Spiegel, der ihm ein Bild von sich hätte verschaffen können. Nicht...
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