Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
Merry
»Mom, ich muss Überstunden machen, deswegen kann ich nicht rechtzeitig zu Hause sein, um dir bei der Vorbereitung fürs Abendessen zu helfen.«
»Schon wieder?«, stöhnte ihre Mutter ins Telefon.
»Ja. Tut mir leid.«
Merry hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrer Mutter bei solchen Dingen nicht half und sie allein mit dem Kochen sitzen ließ. Robin Knight hatte nämlich aufgrund von fortschreitender Multipler Sklerose zunehmend mit Mobilitätsproblemen zu kämpfen. So sehr Merry den Gedanken auch verabscheute - ihre Mutter würde bald an den Rollstuhl gefesselt sein.
»Das ist diese Woche bereits der dritte Abend.«
Ja, sie wusste es und hätte diese Erinnerung nicht gebraucht.
Drei Abende von vieren. Matterson Consulting, die Firma, für die sie in Zeitarbeit tätig war, hatte ein großes Projekt an Land gezogen, ihr bislang größtes, einen Auftrag des Flugzeugherstellers Boeing immerhin. Natürlich herrschte von vornherein Zeitdruck, und so wurden alle Angestellten zu Überstunden verpflichtet.
Normalerweise beschwerte sich kaum jemand, doch jetzt, da Weihnachten vor der Tür stand, sah es anders aus. Die Leute waren damit beschäftigt, Partys zu planen, Geschenke zu kaufen, zu dekorieren und zu backen oder Ferienpläne zu schmieden, wenn man an den Feiertagen Familienangehörige besuchen wollte. Alles normale Dinge, die Vergnügen bereiteten und zu dieser Jahreszeit gehörten - für diejenigen allerdings, die bei Matterson arbeiteten, hätte das Fest genauso gut aus dem Kalender gestrichen werden können.
Weihnachtsvorfreude und Weihnachtsvorbereitungen fanden dieses Jahr für keinen von ihnen statt.
»Keine Sorge, Liebes«, versicherte die Mutter sanft. »Patrick wird mir mit dem Essen helfen.«
Eine Notlösung, wusste Merry. Patrick war ein lieber Junge und sehr hilfsbereit, aber als Haushaltshilfe dennoch nicht gerade erste Wahl, weil er dazu neigte, das gesamte Geschirr im Haus schmutzig zu machen, wenn man ihm das Kochen anvertraute. Bloß war ihm ein sparsamerer Umgang nicht beizubringen, denn der Achtzehnjährige litt unter dem Downsyndrom, und seine kognitiven Fähigkeiten waren begrenzt. Merry liebte ihn über alles, was indes nichts daran änderte, dass seine Hilfe in der Küche von sehr begrenztem Wert war und als eher fragwürdig bezeichnet werden musste.
»Mach Suppe warm und lass Patrick Sandwiches belegen«, schlug Merry eine einfache Lösung vor.
»Das wäre eine Idee, nur ist außerdem das Hundefutter für Bogie ausgegangen.«
Gottergeben seufzte sie. Patricks Golden Retriever hatte einen Appetit, der dem des gesamten Footballteams einer Highschool gleichkam. Merry wusste das sehr genau, weil sie das Einkaufen übernommen hatte, als sich der Zustand ihrer Mutter verschlechterte. Derzeit jedoch schaffte sie es einfach nicht. Nicht bei all den Arbeitsstunden, die sie zusätzlich ableistete, da blieb für anderes keine Zeit mehr.
»Oh Mom, ich hoffe, er hält durch, bis ich nach Hause komme. Auf dem Heimweg springe ich schnell am Supermarkt raus und hole welches. Dann kann ich gleich noch ein paar andere Sachen mitbringen, die ausgehen. Milch und Brot sind ziemlich alle. Und vielleicht etwas Eiscreme für Patrick. Dafür dass er nie mault, wenn er dir helfen soll.«
»Dein Vater kann das auf dem Nachhauseweg .«
»Bitte Dad nicht darum«, unterbrach Merry sie.
Ihr Vater war Arzneimittelvertreter, reiste kreuz und quer durch den Pazifischen Nordwesten und war ständig unterwegs. Was ohnehin ziemlich anstrengend war und an der Substanz zehrte. Sie sah es schließlich, wie erschöpft er war, wenn er abends zurückkam. Da mochte sie ihm keine zusätzlichen Aufgaben aufbürden. Nein, für die Lebensmitteleinkäufe war sie zuständig.
In der Familie Knight arbeiteten alle im Team, bildeten eine aus Notwendigkeit und Liebe heraus geborene verschworene Gemeinschaft. Nicht zuletzt deswegen hatte Merry einen Zeitarbeitsjob bei Matterson Consulting angenommen. Sie wollte noch länger das College besuchen, um eine Zusatzausbildung zur Sonderschullehrerin zu machen. Aber das Geld für die Studiengebühren hätte das durch die Krankheit der Mutter ohnehin strapazierte Familienbudget gesprengt, und so kam es ihr gerade recht, dass Matterson Consulting seinerzeit eine Mitarbeiterin für die Datenerfassung suchte. Dass sie dadurch in ein extrem arbeitsintensives Projekt eingebunden sein würde, stand allerdings anfangs nicht zur Debatte. Egal, bald war es geschafft, und zum Jahresende lief ihr Vertrag aus. Die ihr zustehenden Urlaubstage abgerechnet, würde der Tag vor Heiligabend ihr letzter Arbeitstag sein.
Fast ein Jahr lang hatte sie daran mitgearbeitet. Eine lange Zeit, in der sie neben neuen Erfahrungen ebenfalls neue Freunde gewonnen hatte, wie beispielsweise die beiden Kolleginnen, die außer ihr in der Datenerfassung beschäftigt waren. Obwohl sie lediglich einen Zeitarbeitsvertrag hatte, war ihr die Verantwortung für die kleine Abteilung übertragen worden, da ihre Sachkenntnisse weit über denen der anderen lagen. Für sie war es gleichermaßen ein Glücksfall gewesen wie für die Firma, die plötzlich ohne ihre wichtigste Mitarbeiterin in der Datenerfassung dastand, als diese nach einer Zwillingsgeburt unerwartet eine einjährige Auszeit beantragt hatte.
Merry hatte gerade in ein Erdnussbuttersandwich gebissen, als der Anruf ihrer Mutter wegen des Abendessens eingegangen war. Für gewöhnlich aß sie an ihrem Schreibtisch und arbeitete die Mittagspause durch, während die Kollegen zumeist in ein Café um die Ecke gingen, wo man schnell und preiswert essen konnte. Sie selbst hingegen gönnte sich diesen bescheidenen Luxus höchstens einmal in der Woche, alles andere würde sich verheerend auf ihr schmales Budget auswirken. Schließlich musste der Großteil ihres Verdienstes fürs College angespart werden, und deshalb nahm sie sich immer ein Sandwich oder einen anderen kleinen Imbiss von zu Hause mit.
Obwohl die Sache mit dem Abendessen geklärt war, legte ihre Mutter zu ihrem Erstaunen nicht auf, schien vielmehr zu einem ausgedehnteren Telefonschwatz aufgelegt zu sein.
»Wann bist du zum letzten Mal ausgegangen?«, erkundigte sie sich unvermittelt.
»Was meinst du damit«, wich Merry der Frage aus.
»Was wohl? Wann du dein letztes Date hattest, will ich wissen.«
»Mom! Wann habe ich bitte schön Zeit für ein Date?«, wandte Merry ein.
Sie wusste sehr gut, was ihre Mutter zu der Frage bewog. Ihre beste Freundin aus der Highschool nämlich hatte kürzlich verkündet, dass sie schwanger sei.
»Genau das ist der springende Punkt. Du bist vierundzwanzig Jahre alt und lebst wie eine Nonne.«
»Mom!«
»Patrick hat mehr Dates als du.«
In der Tat. Merry musste lächeln, wenngleich ihre Mutter recht hatte. Gewissermaßen zumindest. Ihr Bruder war Mitglied einer Gruppe von jungen Leuten, die wie er an einer Behinderung litten. Dort wurden allerlei Unternehmungen und Veranstaltungen, einschließlich Disco, organisiert. Er wirkte bei Theateraufführungen mit, spielte im Fußballteam seiner Sonderschule und hatte eine Freundin.
»Es wird Zeit, dass du aufhörst, dir Sorgen um deine Familie zu machen, und selbst ein bisschen Spaß hast.«
»Ich habe Spaß genug«, hielt Merry dagegen, wohlwissend, dass ihre Mutter etwas anderes meinte.
Natürlich hatte sie Freunde, das schon, doch viele lebten nicht mehr in Seattle, und der Kontakt beschränkte sich häufig auf soziale Medien, E-Mails und Textnachrichten. Wenn Merry viel zu tun hatte, was häufig der Fall war, kommunizierte sie per Emojis. Es war lustig festzustellen, wie viel man mit einem oder zwei schlichten Symbolen ausdrücken konnte.
»Hast du eigentlich mal daran gedacht, dich bei einer dieser Onlinepartnerbörsen anzumelden?«, fragte ihre Mutter bedeutungsvoll.
»Nein«, gab Merry mit Nachdruck zurück und verdrehte genervt die Augen. Sie hoffte, dass sich ihr Beziehungsstatus änderte, sowie sie ans College zurückkehrte. Was hoffentlich bald der Fall sein würde. Zwar war es nicht so, dass sie sich als Märtyrerin betrachtete, aber manchmal kämpfte sie trotzdem mit der Last der familiären Verpflichtungen. Und um Bitterkeit erst gar nicht aufkommen zu lassen, dachte sie lieber nicht zu gründlich darüber nach, wie viel ihr entging.
Eine Menge mit Sicherheit. Lauter Dinge, die für ihre Freunde, die keine finanziellen Sorgen hatten, selbstverständlich waren. Es war nun einmal so, wie es war, ohne Geld musste man eben auf vieles verzichten, und Merry fand es sinnlos und zudem deprimierend, deshalb in Selbstmitleid zu versinken. Dadurch wurde schließlich nichts besser, im Gegenteil.
»Warum probierst du es nicht einfach mal aus? Es würde dir sicher Spaß machen«, drängte ihre Mutter sie.
»Mom, hast du mal die ganzen Formulare und Fragebögen gesehen, die man für diese Datingsites ausfüllen muss? Bestimmt nicht. Und nimm's mir nicht übel, für solch einen Unsinn habe ich keine Zeit. Vor allem jetzt nicht, weil im Büro alle unter Hochdruck arbeiten müssen und entsprechend unter Hochspannung stehen.«
»Dann nimm dir die Zeit, Mädchen.«
»Das werde ich irgendwann tun, keine Sorge«, erwiderte sie in der Hoffnung, ihre Mutter mit diesem vagen Versprechen beschwichtigen zu können.
»Irgendwann, Merry? Wer an der Planung scheitert, plant zu scheitern.«
»Mom. Du klingst wie so ein...
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