Schweitzer Fachinformationen
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London, 1850. Iris schuftet unter harten Bedingungen in einer Puppenmanufaktur, doch heimlich malt sie Bilder und träumt von einem Dasein als Künstlerin. Als sie für den Maler Louis Frost Modell stehen soll und von ihm unterrichtet wird, eröffnet sich ihr eine völlig neue Welt: Künstlerische Meisterschaft, persönliche Entfaltung und die Liebe zu Louis stellen ihr Leben auf den Kopf. Sie ahnt jedoch nicht, dass sie einen heimlichen Verehrer hat. Einen Verehrer, der seinen ganz eigenen, dunklen Plan verfolgt.
Silas sitzt am Präpariertisch und hält eine ausgestopfte Turteltaube in der Hand. Im Keller ist es totenstill wie in einer Gruft, und man hört nichts als seine ruhigen Atemzüge, unter denen das Gefieder sich plustert.
Bei der Arbeit kräuselt Silas die Lippen, und im schummrigen Licht der Lampe wirkt er nicht einmal unattraktiv. Er ist jetzt siebenunddreißig, doch sein Haarschopf ist immer noch voll und ganz ohne Silberfäden. Er sieht sich um: In den Regalen stehen Gläser aufgereiht, jedes mit einem Etikett versehen und gefüllt mit den aufgeschwemmten Leibern der eingelegten Präparate. Aufgedunsene Lämmer, Schlangen, Eidechsen und Kätzchen drücken sich von innen an ihr gläsernes Gefängnis.
»Zappel nicht so, du kleiner Schlingel«, murmelt er, greift zur Zange und strafft die Drähte an den Vogelkrallen.
Er spricht gern mit seinen Präparaten, oft denkt er sich Geschichten darüber aus, wie sie auf seinem Tisch gelandet sind. Nachdem er für die Taube verschiedene Szenarien durchgegangen ist - explodierende Lastkähne auf dem Kanal, ein Nest in Odysseus' Segel -, legt er sich auf eines fest, das ihm besonders gut gefällt; er tadelt das Tier ausgiebig für dessen vermeintliche Unart, kleine Kresseverkäuferinnen zu belästigen. Er lässt die Taube los, sie bleibt starr auf dem Holzständer sitzen.
»Na bitte!«, ruft er, lehnt sich zurück und streicht sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Und du hast deine Lektion hoffentlich gelernt. Was hast du dir dabei gedacht, dem Mädchen die Kräutersträuße aus dem Arm zu rupfen?«
Silas ist mit seiner Arbeit zufrieden, ganz besonders angesichts der Tatsache, dass er sich zum Schluss so beeilen musste, um rechtzeitig fertig zu werden. Bestimmt wird der Künstler an der Taube Gefallen finden; wie besprochen ist sie wie mitten im Flug erstarrt, die Flügel bilden ein symmetrisches V. Außerdem hat Silas ein doppeltes Geschäft gemacht, weil ein weiteres Taubenherz seinen Weg in eines der gelblichen Gläser gefunden hat. Die kleinen braunen Kugeln schwimmen in der Konservierflüssigkeit und warten darauf, für einen guten Preis an Quacksalber und Apotheker verkauft zu werden.
Silas räumt seinen Arbeitsplatz auf, säubert die Instrumente und legt sie zurück. Er nimmt die Taube an sich und erklimmt die Leiter, und als er die Falltür mit der Schulter in die Höhe stemmt, hört er das heisere Bimmeln des Glöckchens.
Albie, denkt er voller Hoffnung; es wäre noch nicht zu spät für sein Erscheinen. Er lässt den Vogel auf einer Vitrine stehen, eilt durch den Laden und fragt sich, was das Kind ihm heute bringen wird. Die letzten Beutezüge des Jungen waren mehr als dürftig - madenzerfressene Ratten, alte Katzen mit zertrümmertem Schädel, einmal sogar eine überfahrene Taube mit nur einem Beinstumpen. (»Aber Sir, wenn Sie wüssten, wie schwer es ist, wo doch die Lumpensammler die besten Exemplare an sich reißen .«) Wenn Silas sich mit seiner Kollektion einen Namen machen will, muss er sie durch ein aufsehenerregendes Glanzstück ergänzen. Er denkt an den Bäcker vom nahe gelegenen Boulevard The Strand, der mit dem Verkauf seiner klotzigen Vollkornbrote, die allenfalls gute Türstopper abgaben, kaum über die Runden kam. Aber dann, schon auf der Schwelle zum Schuldturm, hatte er den Einfall, Erdbeeren in Zucker einzulegen und in kleinen Gläsern zu verkaufen. Auf einmal florierten die Geschäfte, der Laden wurde berühmt, und heute steht sein Name sogar in den Londoner Touristenbroschüren.
Das Problem ist nur, dass Silas mehr als einmal glaubte, er hätte dieses besondere, einzigartige Stück gefunden. Aber wenn sein Werk vollendet ist, überkommen ihn immer wieder Zweifel und eine Sehnsucht nach mehr. Die von ihm bewunderten Pathologen und Sammler - gebildete Mediziner wie John Hunter oder Astley Cooper - haben keinen Mangel an Präparaten. Er hat die Gespräche der Chirurgen belauscht, grün vor Neid saß er in den Spelunken gegenüber dem Londoner University College, während sie über die Sektionen des Vormittags diskutierten. Leider verfügt er, anders als sie, über keinerlei Beziehungen, doch eines Tages wird Albie ihm ganz gewiss etwas Spektakuläres bringen. Seine Hände beginnen zu zittern. Eines Tages wird sein Name den Eingang eines Museums zieren, und dann wird man seiner Arbeit und seinem Lebenswerk endlich die gebührende Anerkennung zollen. Er stellt sich vor, wie er mit seiner liebsten Jugendfreundin Flick die Steintreppe hinaufsteigt und innehält, um die Gravur im Marmor zu betrachten: »Silas Reed«. Sie wird ihren Stolz nicht verhehlen können und ihm eine Hand auf den Rücken legen, und er wird ihr erklären, dass er das alles nur für sie getan hat.
Doch da ist nicht Albie an der Tür, und auch jedes weitere Klopfen und Klingeln entpuppt sich als Enttäuschung. Eine Magd wurde von ihrer Herrin geschickt, einen ausgestopften Kolibri für den neuen Hut zu besorgen. Ein Junge im Samtjackett stöbert endlos lange herum und entscheidet sich zum Schluss für eine Schmetterlingsbrosche, die Silas ihm mit verächtlichem Schulterzucken verkauft. Ungerührt lässt er die Münzen in den Hundefellbeutel fallen. In der Stille zwischen den Besuchen fährt sein Daumen wieder und wieder über denselben Satz in The Lancet: »Tu-mor spal-tet den os navi . navi-colare.« Das Läuten der Glocke und das Klopfen an der Tür bilden den Rhythmus seines Lebens. Oben unter dem Dach wartet das Bett, unten der dunkle Keller.
Es ist wirklich zum Haareraufen, denkt Silas und schaut sich in seinem schäbigen Laden um, dass er ausgerechnet mit den geistlosesten Objekten seinen Lebensunterhalt bestreitet. Für den armseligen Geschmack der Massen gibt es keine Entschuldigung. Die meisten Kunden übersehen die wahren Wunderwerke - den Schädel eines hundertjährigen Löwen, den Fächer aus dem Lungengewebe eines Wals, den präparierten Affen unter der Glasglocke - und gehen direkt zur Schmetterlingsvitrine im hinteren Teil durch. Sie bestaunen zinnoberrote Schmetterlingsflügel, die zwischen zwei dünnen Glasscheiben stecken. Manche dienen als Kettenanhänger, andere sind reine Dekoration. Billiger Tand, den sie mit ein wenig Fantasie selbst anfertigen könnten, denkt Silas. Nur die Maler und die Apotheker sind bereit, für die wirklich interessanten Stücke zu zahlen.
Als die Uhr elf schlägt, hört er ein zaghaftes Klopfen und das leise Stottern des Kellerglöckchens.
Er eilt zur Tür. Sicher nur ein dummes Kind, das nicht mehr in der Tasche hat als ein Zweipencestück; und falls es doch Albie ist, wird er ihm nur eine weitere verflixte Fledermaus anschleppen oder einen räudigen Hund, aus dem sich höchstens noch ein Eintopf kochen lässt. Trotzdem schlägt Silas' Herz etwas schneller.
»Albie«, sagt er mit bemüht fester Stimme und öffnet die Tür. Sofort kriecht der Londoner Nebel herein.
Der Zehnjährige lächelt ihn schief an. (»Zehn, Sir, das weiß ich, denn ich wurde genau an dem Tag geboren, als die Queen ihren Albert geheiratet hat.«) Von seinem Oberkiefer ragt ein einziger gelber Zahn herunter wie ein Galgenstrick.
»Heute habe ich Ihnen eine vorzügliche frische Kreatur mitgebracht«, sagt Albie.
Silas wirft einen Blick in die dunkle Sackgasse. Die verlassenen, baufälligen Häuschen stehen aneinandergelehnt wie Betrunkene, ein jedes beugt sich weiter vor als sein Nachbar.
»Nur heraus damit, Junge«, sagt er und kneift das Kind ins Kinn, wie um seine Überlegenheit zu demonstrieren. »Was hast du mitgebracht? Das Bein eines Megalosaurus oder vielleicht den Kopf einer Meerjungfrau?«
»Um diese Jahreszeit ist es im Regent's Canal zu kalt für Meerjungfrauen, Sir, aber der andere - Megalo-dingsda - lässt ausrichten, dass Sie seine Knie haben können, wenn er tot umgefallen ist.«
»Wie nett von ihm.«
Albie bläst sich in den Ärmel. »Ich habe Ihnen ein echtes Schmuckstück mitgebracht, das ich für nicht weniger als zwei Shilling weggebe. Aber ich muss Sie warnen, es ist nicht so blutig, wie Sie es sonst mögen.«
Der Junge knüpft seinen Sack auf. Silas' Blick folgt seinen Fingern. Würzig-süße, faulige Luft entweicht, Silas hält sich eine Hand vor die Nase. Den Geruch der Toten hat er nie gut ertragen. Seine Werkstatt ist so sauber wie die eines Drogisten und jeder Tag ein neuer Kampf gegen Kohlequalm, Fellstaub und Gestank. Am liebsten würde er den kleinen Lavendelölflakon aus seiner Westentasche ziehen, ihn entkorken und sich die Oberlippe betupfen, aber er will den Jungen nicht unnötig ablenken. Albie hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Spitzmaus, bestenfalls.
Der Junge zwinkert, wühlt und tut so, als wäre der Sack lebendig.
Silas zwingt sich zu einem Lächeln. Es fühlt sich falsch an. Dass dieser Bengel, dieses Straßenkind sich einen Scherz mit ihm erlaubt, ist kaum zu ertragen. Bei Albies Anblick krümmt er sich innerlich, denn der Junge erinnert ihn an seine eigene Kindheit, als er schwere Säcke mit nassem Ton über den Hof der Keramikfabrik schleppen musste und seine Arme schmerzten von den Faustschlägen der Mutter. In diesen Momenten fragt er sich, ob er, wenn er sich jetzt sogar von einem einzahnigen Wicht verhöhnen lassen muss, der Vergangenheit tatsächlich entkommen ist.
Silas schweigt. Er schützt ein Gähnen vor und verfolgt den Jungen aus den Augenwinkeln, doch sein starrer Krokodilblick verrät sein Interesse.
Albie zieht grinsend zwei tote Hundewelpen aus dem Sack.
Immerhin sind es zwei, denkt Silas, doch als er...
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