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EINLEITUNG
»Der Krieg bleibt, was er immer war: eines der größten Mysterien der Menschheit.«
Swetlana Alexijewitch, The Unwomanly Face of War
Krieg. Allein das Wort weckt unterschiedlichste Gefühle, von Schrecken bis Bewunderung. Manche verschließen lieber die Augen, als würde schon das bloße Erinnern und Nachdenken über Krieg ihn näherbringen. Andere sind von ihm fasziniert, finden ihn aufregend und glamourös. Als Historikerin bin ich fest davon überzeugt, dass wir den Krieg in unsere Erforschung der Menschheitsgeschichte einbeziehen müssen, wenn wir die Vergangenheit verstehen wollen. Kriege haben derart tiefgreifende Folgen, dass sie außer Acht zu lassen hieße, eine der großen Kräfte zu ignorieren, die neben Geografie, Ressourcen, Wirtschaft, Ideen sowie sozialem und politischem Wandel die menschliche Entwicklung geprägt und die Geschichte vorangetrieben haben. Hätten die Perser im 5. Jahrhundert v. Chr. die griechischen Stadtstaaten besiegt, die Inkas im 16. Jahrhundert Pizarros Expedition zurückgeschlagen oder Hitler im 20. Jahrhundert den Zweiten Weltkrieg gewonnen, würde die Welt dann anders aussehen? Wir wissen, dass es so wäre, können über das Ausmaß aber nur Vermutungen anstellen.
Solche kontrafaktischen Annahmen bilden aber nur einen Teil des Problems, vor dem wir stehen. Der Krieg wirft darüber hinaus grundsätzliche Fragen über die Natur des Menschen und das Wesen der menschlichen Gesellschaft auf. Bringt Krieg die bestialische Seite des Menschen zum Vorschein oder die beste? Wie bei so vielem, was den Krieg betrifft, sind wir unschlüssig. Ist er ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, dieser wie eine Ursünde eingewoben, seit unsere Vorfahren begannen, sich in sozialen Verbänden zu organisieren? Ist er unser Kainsmal, ein uns auferlegter Fluch, der uns immer wieder zu Konflikten verdammt? Oder ist eine solche Ansicht eine gefährliche selbsterfüllende Prophetie? Bringen gesellschaftliche Veränderungen neue Arten des Krieges hervor, oder fördert Krieg gesellschaftliche Veränderungen? Sollten wir vielleicht gar nicht fragen, was zuerst kommt, sondern Krieg und Gesellschaft als Partner betrachten, die in einer gefährlichen, aber produktiven Beziehung verhaftet sind? Kann Krieg, so zerstörerisch, grausam und verschwenderisch er ist, auch Gutes bewirken?
Das alles sind wichtige Fragen, und ich werde versuchen, sie und weitere, die sich im Verlauf dieser Untersuchung ergeben, zu beantworten. Dabei hoffe ich den Leser von einem zu überzeugen: dass Krieg keine Verirrung ist, die man am besten so schnell wie möglich vergisst. Auch ist er nicht einfach die Abwesenheit von Frieden, dem vermeintlichen Normalzustand. Wenn wir nicht begreifen, wie tief Krieg und Gesellschaft ineinander verwoben sind - so sehr, dass man nicht sagen kann, wer von beiden dominiert oder ursächlich ist -, übersehen wir eine wichtige Dimension der Menschheitsgeschichte. Wenn wir unsere Welt und den Weg, den wir bis zum heutigen Tag zurückgelegt haben, verstehen wollen, dürfen wir den Krieg und seine Auswirkungen auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation nicht unberücksichtigt lassen.
Die westlichen Gesellschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten Glück gehabt. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sie unmittelbar keinen Krieg erlebt. Zwar haben westliche Länder Truppen in alle Welt geschickt, etwa nach Asien (um in Korea, Vietnam oder Afghanistan zu kämpfen), in den Nahen Osten oder nach Afrika, aber nur eine sehr kleine Minderheit der Bewohner des Westens war direkt von diesen Konflikten betroffen. Millionen von Menschen in den Konfliktregionen haben da ganz andere Erfahrungen gemacht, und es hat seit 1945 kein Jahr gegeben, in dem nicht irgendwo auf der Welt Krieg geführt wurde. Denjenigen von uns, die den sogenannten Langen Frieden genossen haben, fällt es nur allzu leicht, Krieg als etwas zu betrachten, was andere treiben, etwa weil sie sich auf einer anderen Entwicklungsstufe befinden. Wir im Westen, so nehmen wir selbstgefällig an, sind friedlicher. Autoren wie der Evolutionspsychologe Steven Pinker haben die Auffassung verbreitet, dass die westlichen Gesellschaften im Lauf der vergangenen zwei Jahrhunderte weniger gewalttätig geworden seien und dass man auf der Welt insgesamt jährlich immer weniger Kriegstote zu verzeichnen habe. Während wir also Jahr für Jahr in aller Form die Toten der vergangenen Kriege betrauern, betrachten wir den Krieg zunehmend als etwas, das passiert, wenn der Frieden - der Normalzustand - zusammenbricht. Zugleich können wir uns für die großen Kriegshelden der Vergangenheit und ihre Schlachten begeistern; wir bewundern Geschichten über Tapferkeit und wagemutige Kriegstaten; die Regale von Buchhandlungen und Bibliotheken sind voll von Militärgeschichten; und Film- und Fernsehproduzenten wissen, dass Krieg immer ein beliebtes Thema ist. Das Publikum scheint der napoleonischen Feldzüge, Dünkirchens, des D-Days oder der Fantasien von Star Wars und Herr der Ringe nicht überdrüssig zu werden. Jedoch genießen wir sie nicht zuletzt deshalb, weil sie sich in sicherer Entfernung befinden; wir vertrauen darauf, dass wir selbst nie an einem Krieg teilnehmen müssen.
Folglich nehmen wir den Krieg nicht so ernst, wie er es verdient. Wir mögen es vorziehen, den Blick von einem Phänomen abzuwenden, das häufig grauenvoll und deprimierend ist, aber wir sollten das nicht tun. Kriege haben wiederholt den Lauf der Geschichte verändert, neue Wege in die Zukunft eröffnet und andere versperrt. Die Worte des Propheten Mohammed wurden in einer Reihe von Kriegen aus der Wüste der Arabischen Halbinsel hinausgetragen in die dicht besiedelten Gebiete der Levante und Nordafrikas, und dies hatte nachhaltige Folgen für die Region. Man stelle sich vor, wie Europa heute aussähe, wenn die muslimischen Führer den ganzen Kontinent erobert hätten, was ihnen mehrmals beinahe gelungen wäre. Am Anfang des 8. Jahrhunderts eroberten muslimische Invasoren Spanien und rückten über die Pyrenäen bis ins heutige Frankreich vor. Die Niederlage in der Schlacht von Tours im Jahr 732 beendete ihren Vormarsch nach Norden. Wäre er fortgesetzt worden, hätte vermutlich kein katholisches, sondern ein muslimisches Frankreich die französische Gesellschaft und die europäische Geschichte der nächsten Jahrhunderte geprägt. 800 Jahre später überrannte der große osmanische Führer Suleiman der Prächtige den Balkan und einen Großteil Ungarns, bis seine Truppen 1529 vor Wien standen. Hätten sie diese Großstadt eingenommen, wäre das Herz Europas ins Osmanische Reich eingegliedert worden, und die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Zu den Türmen der zahlreichen Wiener Kirchen hätten sich Minarette gesellt, und der junge Mozart hätte eine andere Art von Musik gehört, gespielt auf anderen Instrumenten. Als ein jüngeres Beispiel könnte man sich vorstellen, was passiert wäre, wenn die Deutschen im Mai 1940 die britischen und alliierten Truppen bei Dünkirchen vernichtend geschlagen und anschließend in der Schlacht um England das britische Jägerkommando ausgeschaltet hätten. Die Britischen Inseln wären womöglich zu einer weiteren NS-Eroberung geworden.
Krieg ist in seinem Wesen organisierte Gewalt. Aber unterschiedliche Gesellschaften führen unterschiedliche Kriege. Nomadische Völker führen Bewegungskriege; sie greifen an, wenn sie sich im Vorteil sehen, und ziehen sich in den offenen Raum zurück, wenn dies nicht der Fall ist. Sesshafte bäuerliche Gesellschaften brauchen Wälle und Befestigungen. Krieg zwingt zu Veränderungen und Anpassungen, umgekehrt wirken sich gesellschaftliche Veränderungen auf den Krieg aus. Nach Ansicht der alten Griechen hatten die Bürger die Pflicht, ihre Städte zu verteidigen. Diese Teilnahme am Krieg wiederum brachte eine Ausweitung von Rechten und der Demokratie mit sich. Im 19. Jahrhundert ermöglichte die industrielle Revolution den Regierungen, riesige Armeen aufzustellen und zu unterhalten - sie waren größer als alles, was die Welt zuvor gekannt hatte; das aber weckte bei den Millionen von Männern, die zum Wehrdienst eingezogen wurden, die Erwartung, in ihren Gesellschaften mehr Mitsprache zu erhalten. Die Regierungen sahen sich genötigt, nicht nur auf sie zu hören, sondern auch eine Reihe von staatlichen Leistungen bereitzustellen: von der Bildung bis zur Arbeitslosenversicherung. Die starken Nationalstaaten von heute mit ihren Zentralregierungen und gut organisierten Bürokratien sind das Produkt von Jahrhunderten des Krieges. Erinnerung und Gedenken an vergangene Siege und Niederlagen sind Teil der jeweiligen nationalen Geschichte, und Nationen brauchen Geschichten, um zusammenzuhalten. Solche zentralisierten Gemeinwesen, deren Angehörige sich als Teil eines Ganzen betrachten, können aufgrund ihrer Organisation und ihrer Fähigkeit, die Ressourcen ihrer Gesellschaft zu nutzen und sich auf die Unterstützung ihrer Bürger zu verlassen, in größerem Umfang und für längere Zeit Krieg führen. Die Befähigung, Krieg zu führen, und die Evolution der menschlichen Gesellschaft sind Teile ein und derselben Geschichte.
Im Lauf der Jahrhunderte ist der Krieg tödlicher, sind seine Auswirkungen größer geworden. Wir Menschen sind zahlreicher geworden; wir verfügen über mehr Ressourcen und besser organisierte, komplexere Gesellschaften, können für unsere Kämpfe Millionen Menschen mobilisieren, und unsere Zerstörungsfähigkeit hat enorm zugenommen. Für die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts mussten wir neue Begriffe erfinden: »Weltkrieg«...
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