Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin in diese Gegend gezogen, weil ich geglaubt hatte, unter Leuten, denen es egal ist, wenn bei einem gemieteten Haus der Putz abbröckelt, das Glas zerspringt und der Anstrich absplittert, und für die in verwilderten Gärten und vor sich hin rottenden Sofas kein Vorwurf liegt, anonym bleiben zu können. Wie sich herausstellte, hatte ich mich in dieser Annahme, wie in den meisten Dingen, getäuscht. Die Menschen, die ihr wirkliches Leben leben, auch wenn man selbst es nicht tut, erkennen einen beim Einkaufen sehr schnell wieder. Es sind schlampige Häuser, in neuerer Zeit umgebaut und aufgeteilt, doch der Staub ist der alte. Die großen, prächtigen, blutroten, voll aufgeblühten Rosen, die sich, ungeschnitten wie meine eigenen zarten, gelben, rötlich überhauchten, von nebenan über den Knöterich und das Geißblatt ergießen, die den Zaun am Umfallen hindern, erinnern einen beständig daran, dass diese Gärten einmal geliebt worden sind.
Für gewöhnlich bleibe ich im Haus und versuche zu vergessen, dass da draußen ein Sommer stattfindet, aber heute, an einem Juliabend um acht, sehe ich den Mauerseglern in dem transparenten Zwischenraum zwischen den Baumwipfeln und den Dächern zu und betrachte einen dunstig blauen, weiß bewölkten Himmel. Ich habe Rosmarin und Zitronenmelisse zurückgeschnitten, um Platz für einen Stuhl zu schaffen, und meine Arme und Hände, die noch nach ihrer aromatischen Arbeit duften, sind zerstochen und zerkratzt und jucken, wo die winzigen Borsten des Boretsch in die Haut gedrungen sind. Es ist ein schmaler Londoner Garten, in dem die Pflanzen in die Höhe wachsen oder wild wuchern müssen, um zu überleben. An seinem unteren Ende wird er jenseits der Mauer von Linden gesäumt und von einem Gestrüpp aus Holunder, Jasmin, Forsythien und Feuerdorn. Überall samt sich Leycesterie aus und hinterlässt da, wo sie dem Wettbewerb nicht standhält, tote Stängel, die knarren und knacken. Eine der Katzen, die es leid ist, sich auf fallende Blätter zu stürzen und freigelegte geheime Stellen zu erforschen, springt auf meinen Schoß und lässt sich dort nieder, und ich sehe, dass der Sommer ihre nahezu graugrünen Ohren rötlich-gelb getönt hat. Ich spüre eine innere Ruhe und, in Ansätzen, eine Intensität des Fühlens und Sehens, die ich für immer verloren zu haben glaubte. Mir ist, als befände ich mich in jener luftigen, immateriellen Zone, wo die Vögel fliegen, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.
«Na, eine kleine ethnische Säuberungsaktion durchgeführt?»
Es ist die Wohnungsinhaberin über mir, die sich da aus dem Fenster lehnt, die Autorin mehrerer unveröffentlichter Romane der depilatorisch vorgehenden Schule, über deren Manuskripte ich in meiner Eigenschaft als Englischlehrerin manchmal Freundliches von mir geben muss. Eine Kopie ihres neuesten Romans befindet sich gerade in meinem Besitz.
«Sie haben mir die Aussicht ruiniert», sagt sie und setzt eine jaulende Polizeisirene, wummernde Musik und von verbranntem Fett gesättigten Bratendunst frei.
«Tut mir leid. Wie geht die Arbeit voran, Jaz?»
Die abgehackten und zerbrochenen Zweige welken in Haufen unter den Büschen. Die Katze verschwindet.
«Also, jetzt hören Sie auf! In keinem andern Beruf wird man tausendmal am Tag von Hinz und Kunz aufgefordert, über sein Tun Rechenschaft abzulegen!»
«Entschuldigung. War aber ziemlich geschmacklos, Ihre Bemerkung mit der ethnischen Säuberung.»
Um ehrlich zu sein, mich hat nicht nur Rastlosigkeit, sondern auch das Bedürfnis, den Fernsehnachrichten zu entgehen, nach draußen geführt.
«Ist Ihnen Ihr Sinn für Humor abhanden gekommen?», fragt Jaz. «Also, man muss doch auch mal lachen, sonst .» Ihre Stimme wird schwächer und gewinnt wieder an Stärke. «Wissen Sie was, April? Ich hab zwei Flaschen kaltes Bier im Kühlschrank. Ich komme damit runter.»
Ich will Jaz nicht im Garten haben, der genau genommen mir als Mieterin der Erdgeschosswohnung gehört, und ich erkenne jetzt dumpf, dass er übel zugerichtet und beraubt aussieht. Ich möchte kein kaltes Bier. Ich wurde in das Schankgewerbe hineingeboren, und ein kurzlebiger Glücksschaum aus zerplatzenden Bläschen, vergänglich wie Holunderblüten, ist das Letzte, worauf ich Lust habe. Aber ich rieche den bittersüßen Geruch feuchtgrüner Hopfendolden, von denen man fleckige Finger bekommt, an drahtartigen Ranken, die sich um die Dachbalken einer Saloon Bar winden oder durch den Lettner der Kirche beim Erntedankfest, und fast erkenne ich, weit weg und undeutlich, das Gatter, das in den Obstgarten führt, bevor man zu den Hopfengärten kommt.
Der einzige Zugang zu diesem Garten hier ist durch meine Wohnung, und Jaz hämmert an meine Tür. «So, und Sie haben also jetzt Ferien, Sie Glückspilz.»
Sie fläzt sich, in Shorts und Unterhemd, in den Stuhl, saugt Bier durch eine Zitronenspalte, die sie in den Flaschenhals gerammt hat, während ich ein Kissen auf den Boden fallen lasse, dort, wo einmal ein kleiner Rasen gewesen war.
«Prost», sagt sie in ihrem Jugendwahn, «ich hätte Lehrerin werden sollen - als Schriftstellerin hat man keine Ferien. Aber Sie kennen ja den Spruch, wer kann, der kann, und wer nicht kann etc.»
Und dann gibt es noch die, die weder schreiben noch unterrichten können. Ihre Schultern, ihre Arme und ihr Ausschnitt sind so feucht, dass ich mir wie ein Bündel trockner Holunderstöcke vorkomme, spröde und hohl, und ich denke an unser Versteck, wo unter den Wurzeln eines Holunders eine Quelle aus dem Boden sprang.
«Woran denken Sie? Sie starren wieder so ins Leere, das kann einen richtig nervös machen.»
«Tut mir leid. Ich war ganz weit weg.»
«Wo? Wo ganz weit weg?»
«Ach, in Stonebridge, dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin. In den Fünfzigern.»
«In diesem tristen, grauen und repressiven Jahrzehnt. Gott sei Dank bin ich ein Kind der Sechziger.»
«Es war nicht grau. Ich erinnere es ganz anders.» Es war eine politisch, intellektuell und künstlerisch aufregende Zeit. Ich sehe den Eisernen Vorhang vor mir, wie ich ihn damals sah: rostendes Wellblech, mit weißer Winde behängt.
Es war diese Zeit mit ihren Farben, die mich geprägt hat, aus der meine Schwäche für Grellbuntes, für Flitterkram und Tinnef herstammt, für geädertes Gold- und Silberpapier aus Zigarettenschachteln. Mein Lieblingsrestaurant in London ist heute ein kleines griechisch-zypriotisches Lokal mit Spitzengardinen, hängenden, spinnengleichen Grünlilien und bunten Lichtern.
«Ach, kommen Sie mir doch nicht mit diesem Festival-of-Britain-Quatsch! Und vergessen Sie nicht, dass ich meine Abschlussarbeit über die Kinderbücher der Fünfziger geschrieben habe. Apropos Kinder, die meisten Leute haben ja Stachelbeerbüsche im Garten, aber Sie haben einen richtigen Stachelbeerbaum. Passen Sie bloß auf, dass Sie nicht eines Tages ein sehr großes Baby darunter finden.»
Der Stachelbeerbusch ist ein armes, mageres Ding, bald drei Meter hoch, mit rötlichen Blättern und ohne Früchte.
«Also, was für Ferienpläne haben Sie?»
Das ganze aufgeschobene Grauen vor dem Ende des Schuljahrs überkommt mich. Leere Tage. Heiße, mit Spucke und weichem Kaugummi bekleckste Bürgersteige. Der Gang zu den Geschäften und zurück. Der kleine Park mit seinen Springbrunnen, und neben mir auf der Bank die Einsamkeit.
«Ja, eigentlich wollte ich morgen nach Stonebridge fahren und unter Umständen über Nacht dort bleiben. Ich hatte vor, Sie zu fragen, ob Sie wohl die Katzen füttern würden.» Mein Herz fängt bei diesen Worten an zu rasen.
«Natürlich mache ich das», sagt Jaz, «wenn ich zu Hause bin», wobei sie so gut weiß wie ich, dass sie da sein wird. «Haben Sie dort Verwandte, oder übernachten Sie bei Freunden?»
«Nein. Meine Eltern sind beide tot, und mein Bruder lebt in London.»
Nach einer gewissen Zeit bringt man es fertig, ganz ruhig und im Gesprächston zu sagen: «Meine Eltern sind beide tot», und doch steht «tot» mit schwarzen Lettern in die Luft geschrieben wie auf Zeitungspapier. An einem Sommertag leichthin gesprochene Worte tauchen in meiner Erinnerung auf und tun weh wie ein von weichem Teer klebriges Stück Splitt.
Zwei Kinder wandern barfuß eine...
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