Schweitzer Fachinformationen
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Damals
Haze
Als ich acht Jahre alt war, besaß ich einen Schatz: ein kleines Notizbuch mit einem Glitzereinhorn auf dem Einband. Vielleicht hatte ich es von Pflegeeltern bekommen oder von einer Psychologin, die mich animieren wollte, meine Gefühle aufzuschreiben. Aber vielleicht hatte ich es auch im Kaufhaus geklaut. Jedenfalls war es irgendwann da, und ich schleppte es überall mit hin. Monatelang blieb es leer. Ich fand es so wunderschön, dass ich es nicht ruinieren wollte. Und konnte mich nicht entscheiden, was wertvoll genug war, um in so einem hübschen Büchlein zu landen. An einem besonders schlimmen Tag dann kam es nicht mehr darauf an. Ich begann, das Einhorn vom Einband ins Notizbuch zu zeichnen. Das Bild war mir so vertraut, dass ich kaum nachschauen musste. Besonders glücklich war ich nicht mit dem Ergebnis - aber ich war glücklich darüber, eine ganze Stunde lang nur daran gedacht zu haben, wie mir Mähne, Schweif und Hufe gelingen würden. Und damit fing es an. Ich war sofort süchtig danach.
In meiner vierten Schule hatte ich das Glück, von einer Kunstlehrerin unterrichtet zu werden, die mich wahrnahm. Sie hielt mir die anderen vom Hals und erlaubte mir, die Pausen mit ihr im Kunstraum zu verbringen, anstatt einsam in der Kantine herumzusitzen. Mir fiel es noch nie leicht, Freundschaften zu schließen. Ich wusste nicht genau, ob ich Menschen überhaupt mochte. Was auch kein Wunder war, nachdem ich es hauptsächlich mit widerwärtigen Exemplaren zu tun gehabt hatte.
Mit achtzehn war ich zu alt für Pflegefamilien und hatte meinen Schulabschluss vermasselt, wurde aber trotzdem an einer Kunstakademie in Kingston aufgenommen. Bald lebte ich alleine in einer kleinen Wohnung und bekam finanzielle Unterstützung, mithilfe derer ich die Schulgebühren bezahlen konnte. Die Institutionen, die mich vorher hatten hängen lassen, griffen mir jetzt unter die Arme. Ich war nicht so naiv, als dass ich Pläne für mein Leben schmiedete. Aber zumindest war meine Kunst ein Weg, den ich beschreiten wollte.
Männer blieben weiterhin eine Enttäuschung, in jeder Hinsicht - im Gespräch wie im Schlafzimmer.
Aber es gab Ausnahmen. Zwei, genauer gesagt. Einen Dozenten an der Kunstakademie, der mich fördern wollte, mein einzigartiges Talent lobte und versprach, mich an Galerien zu vermitteln. Und ich lernte einen Mann kennen, der tatsächlich mein bester Freund wurde: Matty. Irgendwie hatten wir beide es geschafft, Außenseiter zu sein, wobei alle an der Kunstakademie sich als anders und extravagant betrachteten. Doch so hatten wir uns gefunden. Weil wir beide nicht dazugehörten und die Augen verdrehten über die Was-sind-wir-doch-wild-Normalität um uns herum. Es war eine Wohltat, sich jemandem anzuvertrauen. Ich erzählte von meiner grauenhaften Kindheit und den Männern, die mich verletzt hatten. Matty erzählte von seinem grauenhaften Dating-Leben und den Männern, die ihn verletzt hatten. Ich hatte keine Familie, und er verabscheute seine, und so taten wir uns zusammen - zwei Einzelgänger, die plötzlich nicht mehr allein waren.
Wir genossen unsere Zweisamkeit und verzweifelten an allen anderen.
Eines Tages kam Matty im Gang der Akademie auf mich zugestürmt. »O Gott, hast du Crystals letztes Werk gesehen? Meinst du, irgendwer sagt ihr, dass die Südstaatenflagge rassistisch ist? Auch mit Pailletten?«
»Ich denke, das solltest du machen«, erwiderte ich. »Du findest bestimmt den richtigen Ton. Und zum Dank lässt sie sich vielleicht dann mal dazu herab, dich eines Blickes zu würdigen.«
Matty lachte und strich sich durch das platinblonde Haar. »Kannst du vergessen. Die hält sich doch für meilenweit überlegen. Sollen wir ihr stecken, dass die Schnöseltruppe sie trotzdem nie zu ihren exklusiven Partys einladen wird?«
An der Akademie gab es leider auch eine Gruppe von Rich Kids, die in der Schule versagt hatten und nun trotz mangelnden Talents eine Laufbahn in der Kunst anstrebten. Wir fanden es ziemlich unerträglich, dass bestimmt ausgerechnet sie dank ihrer Papas und deren Verbindungen eigene Ausstellungen bekommen würden. Zu allem Überfluss waren sie auch noch laut und protzten ständig herum. Mir fiel es nicht schwer, ihr Gehabe nachzuahmen.
»Bunty, Süße, du musst unbedingt am Wochenende zu uns nach New Hampshire kommen! Cocktails und Crocket!«
Matty johlte begeistert. »Unglaublich, wie du diese Stimme hinkriegst!«
»Wie lief dein Seminar?«
Matty war ein extrem begabter Bildhauer, der hauptsächlich mit Kupfer arbeitete. Er schuf große Skulpturen, die auf eine Art Leid ausdrückten, wie es mit Worten nicht möglich war.
»Die Professorin liebt das neue Werk. Ich kann's noch gar nicht fassen.« Er lächelte.
»War doch klar.«
»Aber du weißt doch: An einem Tag hält man es für ein Meisterwerk, am nächsten findet man's scheiße.« Matty schloss die Augen. »So anstrengend.«
Das ging mir nicht so. Meine Kunst war mein Zufluchtsort. Wenn ich damit zufrieden war, interessierte mich überhaupt nicht, was andere davon hielten.
»Los, lass uns im Park Eis essen gehen, damit du ein bisschen Farbe kriegst.« Ich zwickte ihn in die blassen Wangen.
»Ich bin eine Englische Rose. Weiß oder rot, dazwischen gibt's nichts.«
»Wenn du Blüte bist, dann bin ich Dorn.« Ich hakte mich bei Matty unter, als wir ins Sonnenlicht hinaustraten.
Er lachte. »Genau! Die gehören immer zusammen.« Er küsste mich auf die Stirn. »Du bist ein stachliges Biest, aber du bist mein ganz persönliches Stachelbiest.«
Wir zwei bildeten eine verschworene Gemeinschaft, und ich hatte das Gefühl, endlich die Familie gefunden zu haben, die mir so sehr gefehlt hatte.
Während des gesamten Studiums waren wir das Duo, das niemand anderen brauchte, wir genügten uns selbst. Und wir waren uns so nah, dass wir fast alles voneinander wussten. Ich hatte zum Beispiel mitbekommen, dass Matty ziemlich seltsam sein konnte, was Essen betraf. »Ich hab dir die Nudeln mitgebracht, die du so gern magst. Keine Sorge, die Pilze hab ich rausgeklaubt und gegessen. Ich glaub aber immer noch nicht, dass es Weltraumpilze waren.« Matty dagegen wusste, dass ich etwas Anleitung im Umgang mit Menschen gut gebrauchen konnte. »Süße, es wäre besser, wenn du sagst: >Das ist mein Rucksack, ich nehm ihn da weg<, statt: >Scheiße, hackt's bei dir? Wieso fasst du mein Zeug an?< Das klingt ein klein wenig aggressiv.«
Matty erlebte irgendwann auch meine Gewaltbereitschaft. Als wir eines Abends aus dem Pub kamen, schoss ein schlaksiger Jugendlicher auf uns zu. Offensichtlich hielt er eine Frau und einen dürren Typen für leichte Beute. Er stieß Matty zu Boden und packte meine Handtasche, die ich aber nicht losließ. Wir zerrten beide daran, und dann drosch ich dem Kerl die Faust ins Gesicht.
Ich dachte nicht nach, sondern schlug einfach zu. Und wieder und wieder. Irgendwann ging er zu Boden, aber ich war noch nicht fertig.
Dass Matty meinen Namen rief, riss mich lang genug aus meiner blindwütigen Rage, dass der Typ wegkrabbeln und abhauen konnte. Ich wollte ihm nachlaufen, aber Matty hielt mich an der Schulter fest.
»Lass ihn gehen! Du bist doch verrückt, der hätte dir echt was antun können! Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Nichts. War einfach . Instinkt?« Ich hatte gelernt, stets wachsam zu sein, auf alles gefasst. »Wäre das deine Tasche gewesen, hättest du doch bestimmt genauso reagiert.«
»Niemals! Ich hätte viel zu viel Schiss, zuzuschlagen.«
Ich wollte ihm nicht offenbaren, dass mein Problem nicht das Anfangen war. Sondern das Aufhören.
Am nächsten Tag meldete ich mich in einem Fitnessstudio zum Boxunterricht an. Und in einem Frauenwohnheim nahm ich an einem Kurs für Selbstverteidigung teil. Ich wollte kämpfen lernen, und zwar richtig, mit Technik. Um mich wehren zu können. Mir das einzureden, fiel mir leichter, als mir einzugestehen, dass es mir gefallen hatte, diesen Jugendlichen bluten zu sehen. Dass ich das Geräusch mochte, als meine Faust auf sein Kinn knallte.
Matty wunderte sich über mein neues Hobby, akzeptierte es aber ebenso wie alles andere an mir. Er blieb abends lange im Atelier, um mich vom Boxunterricht abzuholen, meist mit einer Tüte fettigem Fast Food, damit »du nicht so ein klapperdürres Ding wirst«.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Beziehungen geführt, oder zumindest so was Ähnliches: Männer, mit denen ich Sex hatte und noch mehr Sex haben wollte. Aber emotional hielt ich sie auf Abstand. Keiner von denen lernte mich so gut kennen wie Matty.
Doch er hatte auch seine Probleme. Manchmal bekam ich ihn tagelang nicht zu Gesicht, aber dann kreuzte er irgendwann wieder auf. Mit dunklen Schatten unter den Augen. Noch bleicher als sonst. Er hatte intensive Gefühle, und manchmal wurde ihm alles zu viel, dann verkroch er sich allein in seiner Wohnung. Anfänglich wollte ich ihm helfen, hämmerte an seine Tür, um ihm Sachen zu bringen, die er mochte. Bis er mir sagte, das würde es nur noch verschlimmern.
»Lass mich einfach mein Ding machen, Süße. Okay?«
Ich hielt mich daran. Wir respektierten einander, akzeptierten die beschädigten Teile des anderen und liebten uns bedingungslos.
Endlich verstand ich den Satz »Freunde sind die Familie, die du dir selbst suchst«. Den hatte ich mal in rosa Schrift auf einer Grußkarte gesehen, als ich noch eine einsame Jugendliche gewesen war. Seltsam, hatte ich damals gedacht, ich hatte keines von beiden. Keine echte Familie, keine Wahlfamilie.
Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt. Ich wusste nicht mal seinen Namen, auch...
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